Читать книгу WOM - Toni Hartl - Страница 5
Abschied
ОглавлениеMingar hatte recht gehabt. Die dritte Unterrichtswoche war mehr als nötig gewesen. Nun aber war der Abend des letzten Tages angebrochen. Wie üblich saß er mit seinen Zöglingen in der Stube seiner Hütte und hatte soeben den Rest der nicht enden wollenden Fragen beantwortet, die sie noch an ihn gerichtet hatten.
Als sich draußen die Dämmerung über das Dorf legte, tranken sie zusammen den Rest ihrer Krüge aus und schwiegen eine kurze Weile. Dann erhob sich Mingar mit den Worten: „Nun gut meine Freunde. Ich möchte jetzt keine großen Worte mehr von mir geben. Jedenfalls, wie gesagt, morgen werdet ihr also beide aufbrechen um den Kristall in seine Heimat zu bringen, wo er sicherlich sehnlichst erwartet wird. Ich habe euch, so gut es in der kurzen Zeit möglich war, auf dieses Unterfangen vorbereitet. Ihr werdet auf Hindernisse treffen, aber ihr werdet sie überwinden und es schaffen, ans Ziel zu gelangen. Das ist meine Überzeugung und mehr möchte ich dazu nicht mehr sagen.“
Die letzten Worte hatte er zwar mit einer Bestimmtheit hervorgebracht, die keinen Zweifel erlaubten. Dennoch waren sowohl er selbst, als auch die beiden Jungen, von solchen geplagt.
Mingar hatte es aber auch vollbracht, ihnen genügend Selbstvertrauen und Zuversicht zu vermitteln, um sie ihre Reise beherzt angehen zu lassen.
Nun stand er, wie schon so oft in den vergangenen Tagen, an der geöffneten Türe um seine beiden Schüler in den Abend zu entlassen. Bevor sie jedoch hinaus traten, blieben sie beide vor ihm stehen und jeder von ihnen streckte ihm die rechte Hand entgegen, wobei Nondol etwas verlegen nach Worten suchte und schließlich sagte: „Onkel Mingar, wir möchten uns beide bei Dir bedanken. Du hast in den letzten drei Wochen so unglaublich viel für uns getan, uns so viel beigebracht.“ Dann, nach einer kurzen Unterbrechung: “Du hast andere Belmaner, fast Männer, aus uns gemacht. Nun ja, dafür danken wir dir von Herzen.“
Mingars Rührung war echt, als er antwortete: „Das ist schön von euch beiden. Aber eigentlich habt ihr gar keinen Grund zur Dankbarkeit. Es ist durchaus möglich, dass ich eine Veränderung in euch beiden bewirkt habe. Aber in viel wesentlicherem Maße wird dies die Reise tun, die ihr vor euch habt. Ich kann euch nämlich eines versichern. Wenn ihr dereinst wieder hierher zurückkehrt, werdet ihr nicht mehr Diejenigen sein, die ihr bisher ward.“
Ihre fragenden und zugleich erschreckten Mienen riefen ein trauriges Lächeln auf dem Gesicht des alten Mannes hervor und er sah sich veranlasst, sie zu trösten. „Macht euch keine zu großen Gedanken über meine Worte. Später werdet ihr sie verstehen.“
Da er auch damit keine Wirkung erzielte, sprach er mit gütiger Stimme weiter: „Ich meine damit nicht, dass ihr keine Belmaner mehr sein werdet, wenn ihr zurückkommt. Solche werdet ihr immer bleiben. Die Umstände reißen euch zwar jetzt für eine Weile aus eurem Dorf heraus. Aber niemand wird je euer Dorf aus euch herausreißen können.“
Als sie ihn immer noch verständnislos ansahen, beendete er die Situation mit dem Auftrag: „Wie auch immer, geht jetzt, wie besprochen zu Krangor. Er wird euch die Sachen geben, die bei ihm hinterlegt sind und die ihr dringend brauchen werdet. Er weiß darüber bescheid und sagt ihm bitte viele Grüße von mir und meinen Dank dafür, dass er die Besorgungen erledigt hat.“
Nachdem die Beiden, wie geheißen, bereits einige Schritte in Richtung Krangors Hütte getan hatten, konnte Mingar es sich nicht verkneifen, sie erneut anzuhalten. Mit einem verschmitzten, wissenden Lächeln wandte er sich an seinen Großneffen: „Und du, Nondol, wirst dich ja ohnehin noch von Garlina verabschieden wollen, nicht wahr?“
Nondol konnte in diesem Moment nicht verhindern, dass ihm eine deutlich sichtbare Röte ins Gesicht stieg. Verlegen und ohne Worte wandte er sich ab und setzte seinen Weg so schnell fort, dass Walgin Mühe hatte, zu ihm aufzuschließen und zu fragen: „Was soll das denn heißen, Nondol?
„Ach nichts“, erwiderte dieser ärgerlich. „Das Geschwätz eines alten Mannes, weiter nichts.“
Angesichts des Tonfalles seines Freundes erschien es Walgin klüger, nicht noch einmal nachzufragen und so setzten sie schweigend ihren Weg fort.
In Nondols Kopf aber überschlugen sich die Gedanken. Woher konnte der alte Mann wissen, dass er sich zu Garlina, Krangors Tochter, hingezogen fühlte? Weder Walgin, noch seine Eltern, noch sonst jemand hatte davon eine Ahnung. Niemandem hatte er je davon erzählt. Niemand konnte davon wissen. Am aller wenigsten Garlina selbst! Es ärgerte ihn, dass er so etwas vor seinem scharfsinnigen Großonkel nicht hatte verheimlichen können. Aber wie auch immer – der alte Mann hatte recht damit.
Irgendwann, ganz langsam und zunächst unbemerkt, war in ihm ein Verlangen nach Garlinas Gesellschaft herangereift. Nach und nach war ihm aufgefallen, dass er sich ihre Anwesenheit herbeisehnte, ihren liebreizenden Anblick, ihr Lachen und ihre Stimme. Er wurde rot und verlegen, wenn sie sich begegneten und er bildete sich seit einiger Zeit ein, dass es auch ihr so erging. Wie oft hatte er nachts vor dem Einschlafen mit offenen Augen davon geträumt, dass sie plötzlich da war, sich zu ihm herunter neigte, ihm ein vielversprechendes Lächeln schenkte und ihn küsste. Und noch mehr hatte er sich vorgestellt.
Und jetzt war er mit Walgin zusammen auf dem Weg zu ihr und ihrem Vater. Sicher würde er sie dort treffen. Wie sollte er sich nur verhalten? Morgen würde er für lange Zeit weggehen und sie nicht mehr sehen und sprechen können. Ein schrecklicher Gedanke.
Er musste ihr heute noch sagen, wie er empfand! Ja, das musste er. Mit Mingars Hilfe hatte er schließlich das nötige Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein erlangt. Noch heute würde er ihr sagen, wie gern er sie hatte. Heute konnte er es fertig bringen. Heute Abend war der richtige Zeitpunkt. Denn wenn sie ihn auslachen und abweisen sollte, hätte es den Vorteil, dass er ihr für längere Zeit nicht mehr unter die Augen treten musste. Sollte sie seine Gefühle jedoch erwidern, dann hatte er etwas, woran er während der ganzen Reise denken konnte und seine Rückkehr würde eine besondere Wonne werden.
Als sie schließlich Krangors Hütte erreichten, klopfte Nondols Herz nicht nur wegen der zwar kurzen, aber rasch zurückgelegten Wegstrecke heftig. Ohne anzuklopfen öffnete er die Türe und sie betraten die große Wohnstube. Bereits beim ersten Blick in den Raum sah er sie am Tisch sitzen. Sie war damit beschäftigt, mit Nadel und Faden den Riss in einem Lederleibchen zu flicken. Überrascht sah sie auf und sein Herz beschleunigte erneut, als er ihr Lächeln sah und bemerkte wie sich kleine Grübchen auf ihren Wangen bildeten und ihre schwarzen Zöpfe im Feuerschein glänzten.
Krangor holte ihn aus seinen Träumen, als er mit polternder Stimme aus dem hinteren Bereich des Wohnraumes auftauchte und ihm eine seiner Pranken schwer auf die Schulter fallen ließ: „Ah, da seid ihr ja endlich! Hat der Alte euch doch noch vor Anbruch der Nacht entlassen.“ Nicht als Frage, sondern eher als Feststellung hatte er seine letzten Worte lautstark von sich gegeben.
„Na dann kommt mal her und seht euch an, was ich in den letzten Tagen für euch besorgt habe.“ Damit war er schon beinahe durch die Tür zu einem der Nebenräume verschwunden. Nondol und Walgin beeilten sich, ihm zu folgen, wobei Garlina nicht der geheimnisvolle Blick entging, den Nondol ihr im Vorbeigehen zuwarf.
Im Nebenraum angekommen, stand Krangor vor zwei recht großen Rucksäcken, die allem Anschein nach, beide prall gefüllt waren.
„Jeder dieser Rucksäcke“, vernahmen sie erneut die beinah schmerzhafte Stimme „enthält im Grunde die gleichen Dinge. Lauter Sachen, die ich auf Mingars Geheiß zu besorgen hatte. War gar nicht so leicht, kann ich euch sagen. Aber ich denke, nun ist alles da, was ihr benötigt.“
Damit wandte er sich an die Beiden, zeigte mit einem seiner gewaltigen Finger auf die Rucksäcke und forderte sie auf: „Jeder von euch kann sich einen davon schnappen und mit nach Hause nehmen. Der hier“, damit wies er auf die hintere der beiden Packtaschen „ist für dich Nondol. Und den anderen nimmt sich Walgin.“
Damit bückten sich beide und nahmen jeweils das ihnen zugewiesene Gepäckstück auf. Überrascht vom beträchtlichen Gewicht schwang sich dennoch jeder von ihnen seinen Rucksack behände auf den Rücken. Bevor sie aber die Stube verließen, nahm Nondol all seinen Mut zusammen und wandte sich nochmals an Krangor: „Ich müsste Garlina noch etwas von Mingar ausrichten. Darf sie uns noch ein Stück des Weges begleiten?“ Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit. Aber hatte sein Großonkel ihn nicht indirekt dazu aufgefordert, sich von Garlina zu verabschieden? Nun ja, großzügig ausgelegt konnte man es so sehen. Walgins überraschten Blick ignorierte Nondol geflissentlich.
„Na meinetwegen“ war Krangors einsilbige Antwort. Draußen vor der Hütte angekommen, bemerkten sie, dass inzwischen beinahe Dunkelheit herrschte.
„Was lässt Mingar mir denn ausrichten?“ wollte Garlina neugierig und mit einem undefinierbaren Unterton wissen, nachdem sie sich einige Schritte entfernt hatten. Walgin war ebenfalls neugierig stehen geblieben und Nondol sah sich nun einer peinlichen Situation gegenüber. Aber was half es? Er musste nun sozusagen Farbe bekennen und wandte sich deshalb mit verlegener Stimme an Walgin: „Äh, Walgin, entschuldige, aber würdest du uns bitte einen Moment alleine lassen? Ich hätte da mit Garlina etwas Vertrauliches zu besprechen.“
Spätestens jetzt wurde seinem Freund klar, worum es ging. Mit einem verstehenden Lächeln wandte er sich ab und trat alleine den Heimweg an. Nach einigen Schritten jedoch wandte er so noch einmal um. „Wir sehen uns dann morgen in aller Frühe, Nondol.“
Und an das Mädchen richtete er die Worte: „Gute Nacht, Garlina. Du wirst ja wohl auch zu unserer Verabschiedung kommen morgen?“
Sie nickte nur, blickte dann zu Nondol auf und meinte lächelnd: „Gehen wir?“
Sie gingen schweigend und sehr langsam. Der Weg war schließlich kurz. Auf nicht einmal halber Strecke blieb Nondol an einer nicht einsehbaren Stelle stehen und drehte sich zu seiner Begleiterin, sodass sie sich nun Auge in Auge gegenüberstanden. Nach einem Blick in Garlinas erwartungsvoll leuchtende Augen brachte er es nach mehrmaligem Schlucken fertig, zu sagen: „Also, es ist so … Es stimmt gar nicht, dass ich dir von Mingar etwas auszurichten habe.“
„Ach wirklich?“ Am schelmischen Lächeln seiner hinreißenden Begleiterin erkannte Nondol in diesem Moment, dass sie seine Notlüge von Anfang an durchschaut hatte. Aber das machte es auch nicht leichter, wie er feststellen musste. Und dann, nachdem sie erneut eine Weile vergeblich auf seine Worte gewartet hatte, fügte sie lächelnd und in herausfordernder Weise hinzu: „Was hast du mir denn dann so Wichtiges zu sagen, Nondol?“
Mit den letzten Worten schmiegte sie sich an ihn und legte ihm beide Arme um den Nacken.
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Als sich die ersten Sonnenstrahlen des nächsten Morgens durch das Fenster in seine Schlafkammer stahlen, erwachte Nondol aus einem unruhigen Schlaf. Nur eine schwache Erinnerung an seine Träume war übrig geblieben. Er konnte sich aber entsinnen, dass sie sowohl wunderschön, als auch beängstigend gewesen waren.
Dann kam ihm wieder der Rucksack in den Sinn. Selbstverständlich hatte er am Abend zuvor noch den Inhalt inspiziert und war mehr als überrascht gewesen von den Dingen, die er darin vorgefunden hatte. Kleidungsstücke waren da zum Vorschein gekommen, wie er sie noch nie besessen hatte. Eine mit Schaffell gefütterte Lederjacke und eine ebensolche Hose. Die Hose besaß sogar Schlaufen, durch die ein Ledergürtel gezogen war. Des weiteren fand er zwei erdfarbene Hemden, eines davon aus weichem Leder, das andere aus einem warmen, angenehm weichen Stoff gefertigt.
Mit Leder besohlte Schuhe, die so robust wirkten, als könne man sein Leben lang damit über spitzes Geröll spazieren, ohne sie zu schädigen. Und dann diese Handschuhe! Auch sie wirkten ungemein strapazierfähig und waren, wie Jacke und Hose, mit Fell gefüttert. Noch nie zuvor hatte er Handschuhe besessen (abgesehen von den wollenen Fäustlingen, die seine Mutter ihm für den Winter gestrickt hatte).
Dann hatte er noch einige nützliche Dinge vorgefunden, wie ein sehr kleines, handliches Beil und ein beeindruckendes Messer. Dieses saß in einer Lederscheide, die man mittels einer Schlaufe am Gürtel befestigen konnte. Es war relativ groß. Die Klinge war kräftig und besaß eine unglaublich scharfe Schneide auf der einen Seite und war auf der anderen mit Sägezähnen versehen. Der Holzgriff mit dem Messingknauf am hinteren Teil war so gefertigt, dass er angenehm in der Hand lag. Diese schwere Waffe - denn als solche konnte man das Ungetüm durchaus bezeichnen - faszinierte Nondol ganz besonders und es erfüllte ihn mit männlichem Stolz, dieses Prachtstück besitzen zu dürfen.
Des weiteren beinhaltete der Rucksack noch einige Feuersteine, mehrere leere Lederbeutel in verschiedenen Größen, eine verschließbare Trinkflasche, ein Schaffell, das so zusammen genäht war, dass man hinein schlüpfen konnte (sein Vater bezeichnete es als Schlafsack), vier Paar Wollsocken, eine Blechtasse, eine kleine Bratpfanne mit Holzstiel und einiges mehr.
Nondol wurde aus seinen Gedanken aufgeschreckt, als er hinter der Türe verhaltene Stimmen vernahm. Sofort stand er auf, zog sich an und begab sich in die Wohnstube. Dort hatte sich bereits Mingar eingefunden, der Nondols Eltern am Tisch saß und soeben das Gespräch abbrach, das er gerade noch mit ihnen geführt hatte.
„Ah, Nondol, haben wir dich geweckt?“ wandte er sich sofort an seinen Großneffen. Und ohne dessen Antwort abzuwarten fuhr er fort: „Gut, dass du da bist. Ich habe dir etwas mitgebracht, ohne das du deine Reise gar nicht anzutreten bräuchtest.“ Damit wies er lächelnd auf den Lederbeutel, der in diesem Moment auf dem Tisch lag und in dem sich der geheimnisvolle, grüne Kristall befand. „Bevor ich ihn dir übergebe, muss ich dir aber noch etwas sagen, das ich dir bisher verschwiegen habe.“
Oh nein, nicht schon wieder ein geheimes Geheimnis dachte Nondol, ließ sich aber seine Verdrossenheit nicht anmerken.
Mingar winkte ihn an den Tisch, legte ihm eine Hand auf die Schulter und fasste mit der anderen nach dem Beutel. Nachdem er das Behältnis hochgehoben hatte und soeben zu einer, wie es schien, feierlichen Rede ansetzen wollte, öffnete sich die Türe und Walgin trat schwungvoll ein. Bevor die Türe sich wieder schloss, bemerkte Nondol, dass sich draußen bereits der Großteil der Dorfbevölkerung versammelt hatte.
Mingar nahm die Unterbrechung gelassen. Er empfing Walgin mit freundlicher Miene und sagte dann: „Oh, gut, dass du kommst, Walgin. Geselle dich doch gleich zu deinem Reisegefährten und höre zu, was ich euch noch zu sagen habe.“
Nachdem Walgin dieser Aufforderung nachgekommen war, setzte Mingar dort fort, wo er zuvor unterbrochen worden war: „Ich übergebe dir, Nondol, also hiermit feierlich den Kristall, den du in seine Heimat zu bringen beauftragt bist. Bevor ich dies aber tue, möchte ich es nicht versäumen, euch beide eindringlich auf drei wichtige Dinge hinzuweisen.“
Damit ließ er seine Arme sinken und nahm eine Position ein, bei der er den beiden Jungen gegenüber stand. „Das erste ist: Bewahre den Beutel mit seinem wertvollen Inhalt stets so auf, dass er dir auf keinen Fall verloren gehen kann. Auch dann nicht, wenn du durch einen Fluss schwimmen oder einen Abhang hinunter purzeln solltest. Am besten trägst du ihn deshalb versteckt an deinem Körper unter der Kleidung. Hast du das verstanden?“
„Natürlich, Onkel Mingar. Das hätte ich ohnehin so gehandhabt.“ Nondol musste sich eingestehen, dass er eine wesentlich bedeutungsvollere Aussage seines Großonkels erwartet hatte. Zufrieden mit dieser Antwort nickte der alte Mann und strich sich seine langen, weißen Haare hinter die Schultern. „Gut. Und das andere sage ich euch beiden.“ Dabei hob er mahnend einen Zeigefinger. „Erwähnt niemals irgendjemandem gegenüber, dass ihr diesen Kristall bei euch tragt“.
Nach einer kurzen Pause wiederholte er: „Auf keinen Fall! Niemals! Kein Wort! Zu niemandem!“ Dann fügte er in nicht minder eindringlichem Ton hinzu: „Vergesst das bitte nicht. Wie lange eure Reise auch dauern mag und wem ihr auch immer begegnen werdet. Selbst wenn ihr Reisegefährten finden solltet, die eure Freunde werden. Kein Wort davon, dass einer von euch beiden ein Kristall-Bote ist!“ Und dann in einem beinahe schon flehenden Ton: „Bitte versprecht, dass ihr euch daran halten werdet!“
Walgin und Nondol warfen sich gegenseitig einen kurzen Blick zu, dann nickten sie und gaben das Versprechen, zu schweigen. Beide meinten es ernst und beide fassten den festen Vorsatz, dieses Versprechen nicht zu brechen.
„Und als Letztes“, damit wandte er sich wieder an Nondol, „musst du mir schwören, den Beutel niemals mehr zu öffnen, solange du dich auf deiner Reise befindest“. Nondol blickte seinen Onkel etwas irritiert an, nickte jedoch auch diesmal zustimmend. „Ich werde ihn nicht öffnen und keinen Blick hineinwerfen. Das verspreche ich“. Damit schien der alte Mann zufrieden.
„Nawina, Emnor“ wandte Mingar sich nun an Nondols Eltern „ihr werdet euch noch von eurem Sohn verabschieden wollen. Walgin und ich begeben uns jetzt hinaus zu den Anderen.“ Damit verließ er zusammen mit Walgin die Hütte. Draußen hatte sich, wie Nondol vorhin bereits bemerkte, die Dorfgemeinschaft eingefunden. Walgin begab sich stracks hinaus zu seinen Eltern und wurde von seiner Mutter sofort fest in die Arme genommen.
Mingar aber verschloss hinter sich die Türe und richtete nun ein paar Worte an die Versammlung: „Liebe Freunde“ begann er mit seiner Rede „ihr alle wisst ja mittlerweile, was geschehen ist und weshalb Nondol und Walgin sich auf diese beschwerliche Reise begeben müssen. Ich möchte nicht mehr viele Worte verlieren. Wünschen wir ihnen deshalb nun eine möglichst gefahrlose Reise ohne schlimme Zwischenfälle und ein glückliches Erreichen ihres Zieles. Und natürlich eine baldige, gesunde Wiederkehr. Möge Walon mit ihnen sein!“
Ein verhaltenes Stimmengewirr erhob sich nun und alle, ob jung oder alt, drängten sich in Walgins Richtung, um ihm einen Gruß mit auf den Weg zu geben und ihm aufmunternd auf den Rücken oder die Schulter zu klopfen. In diesem Moment ging erneut die Hüttentüre auf und Nondol erschien in Begleitung seiner Eltern. Traurig blieben die beiden vor der Hütte stehen, während Nondol sich nun, genau wie Walgin, in die Menge begab um sich zu verabschieden.
Immer wieder musste Nawina sich beim Anblick dieser Zeremonie mit einem Tuch die Tränen aus dem Gesicht wischen und auch Emnors Augen blieben nicht ganz trocken. Nachdem Nondol sich von allen Anwesenden verabschiedet hatte, ging sein Blick zum Rand der Menge. Dort erblickte er endlich Garlina. Sie hatte sich etwas abseits gehalten und wartete nun darauf, dass er sich zu ihr begeben würde. Dies tat er auch sogleich. Er ging schweigend auf sie zu und eilte in ihre innige Umarmung.
Lange standen sie so zusammen und drückten einander die Luft aus den Lungen. Dann lösten sie sich schließlich halb voneinander und standen sich gegenüber. Nondol wischte Garlina zärtlich mit dem Daumen die Tränen von der Wange und sie tat desgleichen bei ihm.
Dann sagte er zu ihr: „Wie lange meine Reise auch dauern mag. Ich vergesse dich nicht, Garlina. Ich werde jeden Tag an dich denken.“
Nondol hatte in diesem Augenblick das unbändige Verlangen, sie innig zu küssen. Aber das wagten sie beide nicht angesichts der Menge, die sie beobachtete. Garlina überwand sich schließlich, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und sagte mit leiser Stimme: „Geh jetzt, Nondol. Du musst dich auf den Weg machen. Es lässt sich ja doch nicht länger aufschieben. Und sei gewiss; auch ich werde jeden Tag an dich denken.“
Abermals küsste sie ihn auf die Wange und drängte ihn dann, sich zu seinem Reittier zu begeben. Schweren Herzens folgte er dieser Aufforderung. Kaum hatte er sich einige Schritte entfernt, hörte er noch einmal ihre leise Stimme: „Und danke für gestern Abend.“
Er hielt kurz inne, schenkte ihr ein warmes Lächeln und setzte dann seinen Gang fort. Noch einmal warf er einen Blick zu seinen Eltern und winkte ihnen zu, während er sich seiner Jendali näherte. Walgin saß bereits in Loskas Sattel, den Rucksack auf dem Rücken und Tränen im Gesicht.
Nun schwang sich auch Nondol auf sein Reitreh, was sich mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken als gar nicht so einfach erwies. Noch ein kurzer Blick zu seinem Reisegefährten und sie lenkten ihre Tiere sanft in Richtung Süden.
Immer wieder drehten sich beide nach dem Heimatdorf und der versammelten Menge um. Nach und nach wurden die Freunde und Familienangehörigen von den dicht stehenden Waldbäumen verschluckt und auch die Stimmen, die ihnen freundliche Worte nachriefen, wurden leiser. Schließlich waren die beiden Kameraden unter sich.
Immer Richtung Süden, hatte Mingar ihnen aufgetragen. Für sehr, sehr lange Zeit würden sie nun nichts anderes tun, als Richtung Süden zu reiten. Das hörte sich ziemlich einfach an. Aber so einfach sollte es nicht werden. Das wussten sie aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht.