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Bequemer Teil

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Eine geraume Weile ritten sie schweigend nebeneinander her und jeder von ihnen hing seinen Gedanken nach, die wohl bei Beiden mehr oder weniger in dieselbe Richtung gehen mochten. Abgesehen vom leisen Knarren der Sättel, war lediglich das Schnauben der Reittiere, der dumpfe Hufschlag auf dem weichen Boden und das Zwitschern der Vögel in den Bäumen zu vernehmen. So hatten sie bereits ein gutes Stück ihres Weges zurückgelegt, als Walgin sich unvermittelt an seinen Freund wandte: „Nondol, jetzt geht wohl einer deiner Träume in Erfüllung. Oder nicht?“

Nondol, beinahe erschrocken von den plötzlichen Worten, wusste nicht, was Walgin damit meinte und sah ihn fragend an. „Naja“ erklärte dieser „du hast doch ein paar mal erwähnt, du möchtest einmal eine Reise unternehmen, um zu sehen, wie es hinter den endlosen Wäldern aussieht.“

Ja, das stimmte. Damit hatte Walgin recht. Immer wieder einmal hatte er davon geträumt oder gesprochen, dass er irgendwann erkunden wollte, wie die Welt außerhalb ihrer bekannten Umgebung beschaffen sei. Immer wieder hatte er sich – angeregt durch Mingars Erzählungen – vorgestellt, einmal eine längere Reise zu unternehmen. Aber so richtig daran geglaubt hatte er eigentlich nie. Deshalb schenkte er seinem Freund ein frohes Lächeln, als er antwortete: „Ja, da hast du ganz recht, Walgin. Ich habe tatsächlich oft davon geträumt, für eine Weile wegzugehen und Abenteuer zu erleben. Wollte etwas zu erzählen haben, wenn ich zurückkomme.“

Dann bekam seine Stimme eine aufgeregte Fröhlichkeit als er seinen Reitgefährten ansah: „Und nun, mein alter Kamerad, nun sind wir beide tatsächlich gemeinsam unterwegs in unser erstes Abenteuer. Ist das nicht fantastisch? Bist du nicht auch so aufgeregt, wie ich?“

Walgin musste ebenfalls lächeln. „Natürlich! Ich bin mindestens genauso aufgeregt, wie du. Vermutlich noch mehr. Und weißt du, was?“ fügte er mit verschmitzter Miene hinzu „Ich bin sogar irgendwie dankbar dafür, dass dir das Missgeschick mit dem Adler passiert ist.“

Sofort bemerkte er, wie ihn sein Freund fragend anblickte. Deshalb beeilte er sich, hinzuzufügen: „Naja, das ist doch schließlich der Grund dafür, dass wir jetzt gemeinsam unterwegs sind. Sieh uns doch mal an. Wer von uns beiden hätte sich denn vor einigen Wochen vorstellen können, dass wir schon bald so eine Reise antreten würden? Und noch dazu auf so vortreffliche Weise ausgestattet.“

Mit der „vortrefflichen Ausstattung“ hatte er wahrlich die richtigen Worte gefunden. Beide trugen sie neue, leichte Sommerbekleidung aus weichem Leder, führten stolz ihr Messer am Gürtel, durften einen mit Proviant und anderen Nützlichkeiten gefüllten Rucksack auf dem Rücken tragen und waren mit erstklassigen Bögen und zahlreichen Pfeilen für die Jagd beschenkt worden. Und sie waren als Freunde gemeinsam unterwegs in ein ungewisses Abenteuer. Was konnte sich ein junger Belmaner mehr wünschen?

Ja!“ rief Nondol fröhlich „wie recht du doch hast! Wir sind wirklich Glückspilze. Wer hat schon so viel Glück, dass ihm ein derartiges Unglück geschieht!“ Daraufhin brachen sie beide in schallendes Gelächter aus, während sie weiter gemächlich in Richtung des südlich gelegenen Lärmgebirges ritten.

Gegen Mittag, als die Sonne heiß vom Himmel brannte und sowohl ihren Reittieren, als auch ihnen selbst gehörig der Schweiß ausbrach, machten sie in einer dicht bewaldeten, dunklen Senke Rast. Loska und Jendali wurden von ihrer Last befreit und begaben sich sogleich an das nahe gelegene Bächlein, um ihren Durst zu stillen. Die beiden Reiter machten es sich auf dem weichen Boden bequem und kramten in ihren Rucksäcken nach Proviant. Obwohl ihnen ihre Mütter reichlich davon eingepackt hatten, waren sie überein gekommen, sparsam damit umgehen.

Nach dem Mahl aus Dörrfleisch und Brot streckten sie sich auf dem Waldboden aus und genossen schweigend die Kühle der beschatteten Senke. Die Köpfe an die Rucksäcke gelehnt, ruhten sie sich aus und schlossen die Augen, während ihre Rehe in der näheren Umgebung nach Gräsern und Blattwerk suchten, um ebenfalls ihren Hunger zu stillen.

Nach einem kurzen Erholungsschlaf riefen sie ihre Tiere zu sich, sattelten sie erneut und setzten ihre Reise fort. Allerdings nicht, ohne zuvor ihre Trinkflaschen mit dem frischen, kalten Wasser aus dem Bach aufzufüllen.

Wie Mingar es ihnen beigebracht hatte, orientierten sie sich am Sonnenstand und den übrigen natürlichen Gegebenheiten. Und obwohl der stets dichte Wald jeglichen weiten Ausblick verwehrte, waren sie sicher, die einmal eingeschlagene südliche Reiseroute bis zum Abend beibehalten zu haben.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit suchten sie sich am Ufer eines winzigen Sees eine geschützte Stelle, an der sie ihr Nachtlager aufschlugen. Als sie dann schließlich an einem kleinen Feuer saßen und ihr Abendessen eingenommen hatten, wurden sie beide von einer schweren Müdigkeit befallen. Und so gingen sie daran, noch etwas trockenes Laub zu sammeln, schichteten es zu einen langgestreckten Haufen, breiteten darauf ihre Schlafsäcke aus und schlüpften hinein. Kaum hatten sie eine bequeme Liegeposition eingenommen, waren sie auch schon eingeschlafen.

Ihre Rücksäcke hatten sie in gerade noch erreichbarer Höhe an den kräftigen Ast einer Buche gehängt, wo sie vor Mäusen, Ratten und anderem Getier weitgehend geschützt waren. Ihr köstlicher Proviant war schließlich eine willkommene Abwechslung für manche nachtaktive, feine Nase.

Unweit von ihnen schmiegten sich Loska und Jendali liegend aneinander und leckten sich gegenseitig ihr Fell. Nondol und Walgin wussten, die beiden würden – nicht wie sie selbst – in einen Tiefschlaf versinken, sondern sie warnen, wenn Gefahr drohte. Das sollte in dieser ersten Nacht aber nicht erforderlich sein.

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Als Nondol erwachte, vernahm er sofort Geräusche, die auf eine rege Geschäftigkeit Walgins hindeuteten. Er rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen und sah, dass sein Reisegefährte bereits damit beschäftigt war, ein Feuer zu entfachen. Am nahen Seeufer hatte er zuvor bereits Blätter gesammelt, die sich dafür eigneten, einen Tee zuzubereiten.

Nondol erhob sich ächzend, um seinem Freund bei der Vorbereitung des Frühstückes behilflich zu sein. Er schöpfte mit seiner Bratpfanne Wasser aus dem See und stellte sie auf das inzwischen knisternde Feuer. Als er sich nun mit bloßem Oberkörper vor das Feuer hockte, fiel Walgins Blick auf den Beutel an Nondols Brust. Geschickt verschnürt war er dort sicher befestigt und Nondol nahm ihn selbst im Schlaf nicht ab.

Als das Wasser bald darauf zu kochen begann, goss sich jeder von ihnen seine Blechtasse voll und gab einige der würzigen Blätter hinzu. Dann saßen sie und warteten, bis die Kräuter ihr Aroma an das Wasser abgegeben hatten.

„Hast du auch so gut geschlafen, wie ich?“ wollte Nondol von Walgin wissen.

„Na das kannst du glauben“ erwiderte Walgin mit einem Lächeln. „Deshalb fühle ich mich heute Morgen auch so frisch, wie ein junger Fisch im See.“

Beide mussten grinsen. In diesem Moment wurde Nondol bewusst, wie froh er über die Begleitung Walgins war. Schon die bloße Vorstellung, er wäre in diesem Moment alleine, erzeugte ein klammes Gefühl in seiner Brust und er empfand Walgin gegenüber eine tiefe Dankbarkeit.

„Ich bin wirklich sehr froh, dass du mitgekommen bist, Walgin.“ Diesmal hatte es ihn nicht die geringste Überwindung gekostet, die Worte auszusprechen.

Walgin antwortete nur: „Du wirst es kaum glauben, aber ich auch.“ Wiederum mussten sie beide grinsen und ein inniges Zusammengehörigkeitsgefühl spann seine Fäden zwischen ihnen. Dann schlürften sie langsam ihren wohlschmeckenden Tee und nahmen dazu etwas Brot und Käse zu sich. Anschließend gingen sie daran, ihre Rucksäcke zu packen, die Tiere zu satteln und das Feuer auszutreten. Wie für Belmaner charakteristisch, waren sie penibel darauf bedacht, selbst den letzten Rest von Glut abzutöten, damit keinesfalls die Gefahr eines Waldbrandes entstehen konnte. Wenig später hatten sie bereits den halben See umrundet und setzten ihre Reise fort.

Im Laufe des Vormittages erreichten sie eine Anhöhe, auf deren Gipfel wohl ein Sturm zahlreiche Bäume gefällt hatte. Dieser Umstand gönnte ihnen eine ungehinderte Fernsicht in südliche Richtung. Sie zügelten daher ihre Rehe und genossen den fantastischen Ausblick.

„Siehst du das da hinten am Horizont?“ fragte Walgin seinen Gefährten, nachdem sie eine Weile schweigend gestaunt hatten. „Ja“ meinte Nondol und beschirmte mit einer Hand seine Augen gegen die Sonne. „Was meinst du, könnte das schon das Lärmgebirge sein?“

„Ja, ich denke, das ist es wohl. Allerdings sind wir bereits wesentlich näher dran, als ich dachte. Das überrascht mich.“

„Ja, mich auch“ entfuhr es Nondol gedehnt. Er hegte Zweifel, dass es sich bei der Bergkette, die sie am Horizont erblickten, wirklich um das Lärmgebirge handeln könnte. Mingar hatte geschätzt, dass sie es bei raschem Vorankommen in etwa 10 Tagen erreichen würden und nun sahen sie es bereits vor sich.

„Nun ja, es ist ja im Grunde egal, welche Bergkette das da vorne ist“ ließ Walgin sich vernehmen. „Sie liegt jedenfalls in südlicher Richtung und wir werden darauf zureiten, ob es nun das Lärmgebirge sein mag, oder nicht.“

„Wie recht du doch hast, du schlauer Bursche“ witzelte Nondol mit einem Lächeln. „Na dann mal weiter, wir haben keine Zeit zu verlieren. Bald bricht die Nacht herein und wir haben noch keinen Lagerplatz.“

Angesichts des kaum angebrochenen Tages musste Walgin herzhaft lachen. Dann trieben sie ihre Rehe zu einem forschen Trab an und waren bald darauf im Halbdunkel des Waldes verschwunden, der sich – wie sie vorher festgestellt hatten - über eine schier endlose Ebene erstreckte.

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Die nächsten sechs Tage verliefen ohne Zwischenfälle. Sie brachen jeweils früh morgens auf, legten eine gute Strecke des Weges zurück und lagerten des nachts möglichst im näheren Bereich von Bächen oder Seen. Ihren Rehen bereitete die Unternehmung bislang keine Probleme. Es handelte sich bei ihnen um ausdauernde, zähe Tiere, die obendrein noch jung waren. Nondol hatte beinahe den Eindruck, dass die Tiere Vergnügen an der Reise fanden.

Bis auf den Umstand, dass die letzten beiden Tage nicht mehr ganz so heiß gewesen waren, wie die vorausgegangenen, hatte sich das Wetter nicht verändert. Dafür waren sie beide dankbar. Wie ungemütlich wäre es gewesen, ständig von Regen durchnässt zu sein und womöglich zu frieren.

Am Morgen des siebten Tages – sie hatten, wie auch die Abende zuvor, wieder eine ideale Lagerstelle gefunden – erwachte Nondol bereits vor Tagesanbruch aus einem unruhigen Schlaf. Er öffnete die Augen. Es war dunkel, der Mond warf ein silbriges Licht durch die Äste und über sich konnte er durch das Astgewirr hindurch einen sternenklaren Himmel erkennen. Ein deutlich vernehmbares Schnarchen offenbarte ihm, dass Walgin noch fest schlief.

Warum war er aufgewacht? Er erinnerte sich, dass er Angst empfunden hatte. Drohte Gefahr? Nein, die beiden Rehe lagen keine zehn Körperlängen entfernt unter einigen Sträuchern und wirkten vollkommen entspannt. Es musste ein schlimmer Traum gewesen sein, der ihm diese Beklemmung vermittelt hatte. Nondol versuchte sich an die Traumhandlung zu erinnern. Er hatte Atemnot empfunden. Ja, jetzt kamen Bruchstücke des Albtraumes zurück. Etwas hatte seinen Herzschlag gehemmt, seine Brust eingeengt. Es war aber keine Angst gewesen, die er empfunden hatte. Nein, es war Sehnsucht und eine Spur von Traurigkeit. Hatte er von daheim geträumt? Von Garlina? War es Heimweh, das ihn im Traum geplagt hatte?

Erst jetzt bemerkte er, dass er am ganzen Körper schwitzte. Das war eigenartig, denn so warm und wohlig der Schlafsack auch war, es hatte in der vergangenen Nacht keine höhere Temperatur geherrscht, als in den Nächten zuvor. Eher das Gegenteil war der Fall. Als er versuchte, sich aus der Seitenlage auf den Rücken zu drehen, hemmte der Beutel, den er ja auch nachts an seiner Brust trug, im engen Schlafsack seine Bewegung. Nondol griff danach, um ihn dicht an den Körper zu drücken und fühlte in diesem Moment, dass von dem kleinen Behältnis eine ungewöhnlich intensive Wärme ausging.

Hatte er etwa in Bauchlage auf dem Stein gelegen? Ach ja, natürlich! Ich Dummkopf hab mir der Brust auf dem Beutel gelegen und der harte, runde Kristall hat gegen mein Herz gedrückt, kam ihm die Erleuchtung. Aber weshalb war das Leder so warm? Die Frage beiseite wischend entschloss er sich, da er nun schon einmal wach war, aufzustehen und trockenes Holz zu sammeln.

Das Feuer prasselte bereits und das Wasser in der Pfanne begann eben zu kochen, als auch Walgin aus seinem Schlafsack kroch und sich den wärmenden Flammen näherte. Inzwischen trällerten in den Bäumen die Vögel und mit dem ersten Morgengrauen stieg allerorten leichter Dunst aus dem Boden.

„Was ist denn mit dir heute los?“ begrüßte Walgin seinen Kameraden. „Bist du etwa neuerdings ein Schlafwandler und tust Dinge, die du sonst verabscheust?“

„Ach komm“ winkte Nondol ab.

„Na hör mal“ entrüstete sich Walgin auf eine Art, die erkennen ließ, dass er es nicht ernst meinte „das ist heute immerhin das erste Mal, dass nicht ich für das morgendliche Feuer zu sorgen habe. Da wird man sich doch noch wundern dürfen.“ Nondol überging diesen Witz und reichte ihm seine Tasse, aus der bereits der Dampf des heißen, duftenden Inhalts emporstieg. „Ich bin übrigens vorhin bis in den Wipfel dieser großen Buche dort hinten gestiegen und weißt du, was ich gesehen habe?“

„Nichts, weil es dunkel war.“ Walgin konnte es einfach nicht lassen, seine trockenen Witze zu reißen. Er war heute scheinbar besonders gut gelaunt.

„Haa, haa!“ lachte Nondol gekünstelt. „Ich habe“, hier machte er grinsend eine bewusste Pause, „das Lärmgebirge gesehen!“

„Was!“ Walgin war auf einen Schlag ernst und hellwach.

„Ja, mein Guter. Und wir sind ihm schon verdammt nahe gekommen. Kann gut sein, dass wir morgen bereits davorstehen.“ Es verschaffte Nondol eine ungemeine Befriedigung, seinem Freund diese neue Erkenntnis mitteilen zu können.

„Das glaube ich erst, wenn es so weit ist“ erwiderte Walgin skeptisch. „Vergiss nicht, dass wir das Lärmgebirge bereits vor fünf oder sechs Tagen gesehen haben und dachten, wir wären schon Walon weiß, wie nahe dran. Damals dachten wir sogar, es müsste ein anderes Gebirge sein, weil es so nahe ist.“

„Ja, du hast schon recht“ gestand Nondol ein. „Aber heute war es bereits im ersten Halblicht so deutlich zu erkennen, dass man fast schon meinte, man könnte die Gollnogs darauf herum krabbeln sehen.“ Dann fügte er noch herausfordernd hinzu: „Sieh doch selbst nach, du Kletterkünstler, wenn du es nicht glaubst.“

Nondol war sehr wohl bewusst, dass es für Walgin kein großes Vergnügen bedeuten würde, auf einen Baum zu klettern. Schon gar nicht, wenn er so hoch war, wie die gewaltige Buche, die unweit von ihnen in den Himmel ragte. Und damit lag er richtig. Sein Freund verzichtete darauf und entfernte sich, um etwas abseits ihres Lagers Wasser zu lassen. Als er zurückkam sagte er, wobei er bereits wieder zum Scherzen aufgelegt schien: „Du hast recht, ich hab es gerade eben auch gesehen.“

Als er auch noch hinzufügte: „Ich konnte sogar einen Wasserfall erkennen“, brachen beide in prustendes Gelächter aus und Nondol wurde aufs Neue bewusst, wie wohl im Walgins Gegenwart tat.

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Sie erreichten das Lärmgebirge nicht, wie Nondol vermutet hatte, am nächsten Tag. Immer wieder, wenn sie in einen Waldbereich kamen, in dem die Bäume nicht gar so dicht oder hoch wuchsen, konnten sie zwar die Spitzen der Bergkette erkennen, hatten aber dabei das Gefühl, dass diese kaum näher rückten.

Die bewaldete Ebene, die sie durchquerten und die dem Gebirge vorgelagert war, schien endlos. Und doch – sie hatten das Lärmgebirge vor Augen und wussten, sie würden es in den nächsten Tagen erreichen.

Dann, so hatte Mingar ihnen vorausgesagt, würde es mit dem bequemen Teil der Reise ein Ende haben. Und dann – das wussten sie ebenfalls von dem alten Mann – würden sie ihre geliebten Rehe zurückschicken und den langen Weg, der noch vor ihnen lag, zu Fuß fortsetzen müssen. Aber diesen Gedanken schoben sie beide vorerst noch beiseite. Noch war es nicht so weit.

Nach weiteren vier Sonnenaufgängen - am späten Nachmittag des elften Tages, seit sie Grondel verlassen hatten – zügelten sie beide wie auf ein lautloses Kommando plötzlich ihre Reittiere. Nachdem sie sich eben noch durch dichtes Unterholz gekämpft hatten, saßen sie nun schweigend und mit vor Staunen geöffneten Mündern in ihren Sätteln und waren eine gute Weile damit beschäftigt, das in sich aufzunehmen, was sich ihrem Blick bot.

Der Wald, durch den sie seit Reisebeginn geritten waren, hatte übergangslos ein Ende. Nun fanden sie sich im Schatten der letzten Bäume und stiegen, den Blick weiterhin in die Ferne gerichtet, wie in Trance vom Rücken ihrer Rehe. Keiner der Beiden hatte je in seinem Leben eine derart große, weitläufige Wiese gesehen, wie diejenige, die nun vor ihnen lag. Nicht einmal die Tatsache, dass Mingar sie auf diesen Anblick vorbereitet hatte, konnte ihre Fassungslosigkeit mindern. Vor ihnen breitete sich eine Grasfläche aus, die so eben war, wie sie es sich nicht einmal im Traum hätten vorstellen können. Sie reichte im Süden bis an den Fuß des Lärmgebirges und erstreckte sich nach Westen und Osten so weit, dass ein Ende nicht zu erkennen war.

„Sieh dir das an, Nondol. Hast du so etwas schon einmal gesehen?“ stellte Walgin die überflüssige Frage, wobei er nebenbei seinen Rucksack abnahm und ihn an einen Baum lehnte.

„Nein. Das ist unglaublich“ hauchte sein Freund ehrfürchtig, schüttelte immer wieder langsam den Kopf und entledigte sich ebenfalls seiner Rückenlast. Dann, nachdem sie noch eine Weile schweigend verbracht hatten, fragte Walgin mit leicht ängstlichem Unterton: „Was machen wir denn jetzt, Nondol?“

„Ach Walgin“ antwortete Nondol in mütterlichem Tonfall. „Du weißt doch, was uns jetzt bevorsteht.“ Natürlich wusste Walgin, was sein Freund meinte. Jetzt war wohl der Zeitpunkt gekommen, da der Abschied von ihren Rehen bevorstand.

„Aber könnten wir mit Loska und Jendali nicht wenigstens noch bis zum Anfang des Gebirges reiten?“ Die weinerlich-flehende Art, wie er dies vorgebracht hatte, würde nichts bringen. Aber obwohl ihm das durchaus bewusst war, hatte er nicht anders gekonnt, als diese Frage zu stellen.

„Walgin, bitte!“ Nondol war es nicht minder schwer ums Herz und nur zu gerne hätte er seinem Freund die Erfüllung dieses Wunsches zugestanden. Aber Mingar hatte ihnen ausführlich die Gründe erläutert, weshalb es unumgänglich war, ihre Tiere an dieser Stelle nach Hause zu schicken. „Du weißt doch ...“

„Ja, ich weiß“ unterbrach dieser ihn kleinlaut und ließ sich mit gesenktem Kopf auf die Erde sinken. Nondol gesellte sich zu ihm. Die Hand leicht auf der Schulter seines Freundes beobachteten sie eine Weile schweigend ihre Reittiere, die sich inzwischen etwas vom Waldrand entfernt hatten und sich das saftige Gras schmecken ließen.

„Weißt du was, Walgin?“ unterbrach Nondol die deprimierende Stille. „Es wird ohnehin bald Abend und das Weiterwandern lohnt sich nicht mehr. Wir schlagen dort drinnen im Wald unser Lager auf und verschieben den Abschied auf morgen“.

Walgin zeigte sich von dieser Idee sofort begeistert. „Ja genau!“ Mit diesen Worten sprang er hurtig auf die Füße. „Dann habe ich morgen noch den ganzen Tag Zeit, um mich ausgiebig von Loska zu verabschieden!“

Den fragenden Blick Nondols wahrnehmend erklärte er weiter: „Du weißt schon; wir können doch morgen erst bei Einbruch der Nacht losmarschieren wegen der Gollnogs. Das hat uns Mingar doch deutlich genug in den Kopf gehämmert!“

Natürlich! schoss es Nondol durch den Kopf. Wie hatte er das nur vergessen können! Dann änderte sich seine Stimmung abrupt. „Oh je, Walgin, also ich weiß nicht“, ließ er sofort seine Zweifel erkennen und erhob sich ebenfalls „vielleicht sollten wir dann doch gleich heute Nacht aufbrechen. Ich meine, Mingar hat doch gesagt, wir sollten auf keinen Fall Zeit zu vertrödeln.“

„Oh nein!“ Walgin fuchtelte heftig mit den Händen und entgegnete mit einer Entschlossenheit und Lautstärke, die sonst gar nicht seiner Art entsprach. „Wir sind heute den ganzen Tag geritten. Ich bin müde, wie ein Stein und unsere Rehe sicher auch. Damit du es weißt; ich gehe heute keinen Schritt mehr auf dieses verfluchte Gebirge zu!“

Bevor Walgin sich noch mehr ereifern konnte, wurde er von Nondol unterbrochen: „Ja, ja, ja .. du hast ja recht! Wir werden hier lagern und einen Tag Pause einlegen.“ Befriedigt aber mit immer noch grimmiger Miene setzte Walgin sich wieder ins weiche Gras. „Na also“ grummelte er vor sich hin.

Nondol musste grinsen. So hatte er seinen Freund noch nicht erlebt. Aber er gestand sich ein, dass Walgin im Grunde recht hatte. Gerade wollte er sich zu seinem Gefährten nähern, um sich neben ihm nieder zu lassen, als beide Rehe plötzlich, wie gehetzt an ihnen vorbei stoben und panisch bellend ins dichte Unterholz preschten.

Einem Reflex folgend und ohne sich umzuwenden, sprangen die beiden jungen Belmaner ebenfalls hoch, um - wie von einer Bogensehne geschnellt - in den nahen Wald zu stürzen. Ohne darauf zu achten, dass ihnen Zweige und Geäst ins Gesicht peitschten, rannten sie kopflos hinter ihren Tieren her und warfen sich, als sie einen Steinwurf weit im Inneren des Waldes angekommen waren, atemlos auf den Boden.

Ein Angst einflößendes Kreischen, so laut, dass es in den Ohren schmerzte, drang gleich darauf durch die Bäume und ließ ihnen eine Gänsehaut über den Rücken laufen. Dann vernahmen sie ein langsames, langgezogenes Windgeräusch, das sich mehrmals wiederholte und sich dann nach und nach in Richtung Gebirge entfernte. Ohne gesehen zu haben, welche Kreatur sie soeben angegriffen hatte, wussten sie; ein derartiges Geräusch konnte nur durch gewaltige Flügel erzeugt werden.

Mit rotem Gesicht und Schweiß auf der Stirn sah Walgin seinen Freund an: „Das war ein Gollnog, nicht wahr?“ Es war weniger eine Frage, als eine Feststellung gewesen und Nondol konnte nur atemlos nicken. Nach einer kurzen Pause sagte er aber: „Ja das war ganz sicher ein Gollnog, was sonst.“

Und nach einem kurzen Schweigen: „Verflixt, Walgin. Gut, dass Mingar das nicht sehen konnte. Ich weiß genau, was er jetzt brüllen würde.“ Dann versuchte er, Mingars Stimme nachzuahmen, so gut es ging und legte lautstark los: „Hab ich euch Bengeln nicht eingeschärft, dass ihr gefälligst aufpassen sollt! Hab ich euch nicht gesagt, dass die Gollnogs aus großer Höhe senkrecht nach unten stoßen, um sich unbemerkt ihrer Beute nähern zu können! Wozu redet man eigentlich mit euch! Da haben ja eure Rehe noch mehr im Kopf, als ihr Beiden!“

Trotz der gespannten Situation mussten sie beide darüber lachen. Dann warteten sie noch eine Weile, bis sich ihr Atem beruhigt hatte. Schließlich überwog die Neugierde und sie näherten sich, so rasch sie es wagen konnten, dem Waldrand. Sich vorsichtig nach allen Seiten umsehend traten sie aus dem Holz und richteten ihren Blick nach oben.

Dort konnten sie in einiger Entfernung noch den Gollnog erkennen. Er hatte bereits eine beachtliche Höhe erreicht. Trotzdem war sogar auf diese Distanz noch zu erkennen, dass es sich um ein wahrlich riesiges Tier mit zwei gewaltigen Flügeln und einem schier endlos langen Schwanz handelte. Den Hals mit dem mächtigen, langgestreckten Kopf nach vorne gereckt und die kräftigen Hinterbeine dicht an den Schwanz gelegt, entfernte sich das schuppige Ungeheuer in Richtung Lärmgebirge. Die etwas kleineren Vorderbeine waren auf diese Entfernung kaum noch zu erkennen.

Ohne den Blick von der Flugechse abzuwenden, sagte Nondol leise und ohne den Satz zu beenden: „Bei Walons drei Eichen; der wenn uns erwischt hätte … „

Walgin sah ihn mit immer noch gerötetem Gesicht an: „Ja ... oder noch schlimmer; nur Einen von uns.“ Dann wandte er sich um und ging zurück in Richtung Wald, steckte zwei Finger in den Mund und gab einen langen, lauten Pfiff von sich, der seine Loska herbeirufen sollte. Nondol schloss sich ihm an und stieß ebenfalls eine Abfolge von Pfeiftönen aus, die eigens seiner Jendali galten und die diese in aller Regel veranlasste, zu ihm zu kommen.

Dieses Mal mussten sie allerdings ungewöhnlich lange warten, bis ihre beiden Tiere - vorsichtig schnuppernd und mit zitternden Flanken - endlich aus dem Dunkel des dichten Waldes erschienen. Ihre treuen Tiere hatten ihnen heute das Leben gerettet. Und morgen sollten sie sie nach Hause schicken.

Mingar hatte ihnen erklärt, dass sie mit den Rehen auf keinen Fall das Lärmgebirge bezwingen könnten. Zwar wäre es möglich gewesen, im Schutz der Dunkelheit bis zum Fuß des Bergmassivs zu reiten. Würden sie aber die Tiere danach bei Tageslicht über die Ebene zurückschicken, wäre das ihr beinahe sicheres Ende. Sie hätten nur eine verschwindend geringe Chance, den Gollnogs zu entkommen. Dieses Risiko wollten sie auf keinen Fall eingehen.

WOM

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