Читать книгу Nebula Convicto. Grayson Steel und die Drei Furien von Paris - Torsten Weitze - Страница 4

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Ein Besuch bei Mondlicht

Greater London, Worthington Manor, Dienstag, 11. Juni, 21.59 Uhr

Mit einem Seufzer hob Grayson seinen Kopf aus dem verstaubten, alten Buch, in dem er den halben Abend gelesen hatte und reckte seine müden Knochen. Ein lautes Knacken in seinem Rückgrat verkündete ihm und allen, die es hören konnten, dass der Quaestor nicht jünger wurde.

Ein hämisches Lachen aus einer Ecke des Studierzimmers war die prompte Antwort auf das Geräusch. »Ob wir wohl einen neuen Lacunus beim Verhangenen Rat beantragen können?«, stichelte die Halbdämonin Shaja in die Stille hinein. »Der hier scheint langsam kaputtzugehen.« Die junge Frau rekelte sich auf einem Diwan, nur mit einem zusammengeknoteten Top und viel zu kurzen Shorts bekleidet, während die Hitze, die von ihrem Körper ausging, die Luft um sie zum Wabern brachte. Das kleine Buch in ihrer Hand wirkte dabei so fehl am Platz wie ein Wendigo in der Sauna.

Grayson reagierte zunächst nicht auf den Kommentar, sondern streckte sich weiter, um seinen protestierenden Rücken wiederzubeleben.

Währenddessen ertönte ein nachdenkliches Brummen von der anderen Seite des Raumes. »Unser Quaestor hält schon noch eine Weile durch«, antwortete schließlich eine ruhige, tiefe Stimme. »Man muss die älteren Modelle nur ordentlich in Schuss halten, das ist alles. Zeit für eine Runde in der Trainingshalle, Mr. Steel.«

Grayson stöhnte und drehte sich mit einem anklagenden Blick auf seinem Stuhl um. Richard saß in seinem langen, weißen Mantel und dem tiefroten Hemd in einem gemütlichen Ohrensessel vor dem erkalteten Kamin des Studierzimmers. Er hatte ein offenes, ledergebundenes Buch auf seinen Schenkeln liegen und grinste Grayson herausfordernd an. Dass sich das sonst so ernste Gesicht des ehemaligen Kreuzritters zu einer derart fröhlichen Miene verzog, war für Grayson noch immer ein ungewohnter Anblick, und so blieb ihm seine bissige Antwort im Hals stecken.

Shaja sprang hingegen sofort auf, als sie Richards Worte vernahm. »Können wir einen Höllenlauf machen?«, fragte sie, und vor Vorfreude glommen die magischen Muster auf ihren Armen und Beine auf und erleuchteten das bisher schummrige kleine Zimmer, in das Morgan die drei zum Lernen verdonnert hatte. Der Magus ihres Teams war sehr eisern in seiner Forderung gewesen, dass der Rest der Quadriga seine Kenntnisse in magischem Grundwissen auffrischte, nachdem sie bei ihrem letzten Einsatz einen Zauber von ihm derart durcheinandergewirbelt hatten, dass er statt eines wütenden Golems beinahe ein Hochhaus in der City von London getroffen hätte. Einen Tag später hatte Morgan einen riesigen Stapel Bücher für jeden von ihnen angeschleppt und sogar seine Autorität als Magus der Quadriga geltend gemacht, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Während seine Hände das Zeichen des Magus formten, waren seine Worte klar und bestimmend gewesen: »Jeder arbeitet seinen Stapel durch, bevor wir nochmal als Quadriga ausrücken. Ich kann meine Arbeit einfach nicht machen, wenn der Rest des Teams nicht weiß, worauf zu achten ist. Dieses Chaos hört hier und heute auf!« Daraufhin war er davongestampft und hatte die drei zurückgelassen, jeden von ihnen mit über einem Dutzend Büchern vor der Nase.

Das war vor einer Woche gewesen. Seitdem hockte Grayson den ganzen Tag in diesem Raum und las mit wachsender Verunsicherung, auf wie viele groteske Weisen ein Lacunus ihn umgebende Zauber stören und welche Katastrophen dies auslösen konnte. Er hatte nun das Gefühl, nicht einmal niesen zu können, ohne den Weltuntergang einzuläuten.

»Wissen Sie was? Das ist eine gute Idee«, sagte Grayson, und die anderen blickten ihn überrascht an. »Ich muss mich dringend bewegen und noch dringender auf etwas schießen. Da kommt mir Richards und Macks Folterkammer gerade recht. Also los.«

Grayson erhob sich und hatte den Raum bereits halb durchquert, bevor er auf die überrumpelten Mienen seiner Teammitglieder einging. »Wenn ich noch einen Absatz über transarkane Interferenzen im Zusammenspiel von Flüchen und Zaubern lesen muss, flippe ich aus.«

»Da hat er ausnahmsweise mal Recht«, sagte Shaja und rieb sich die Hände. »Und wenn er schon so motiviert ist, kann ich auch endlich beim Üben die Samthandschuhe ausziehen.«

Grayson riss beunruhigt die Augen auf, aber bevor er Shaja widersprechen konnte, war sie schon voll federnder Energie auf den Gang gelaufen.

»Also das hat richtig gutgetan.« Shaja schnurrte fast vor Vergnügen, während Grayson sich lauthals in einen Eimer übergab. Seine Lungen brannten, und er war sicher, dass ein, zwei Gefäße in seinem Körper kurz davor standen zu bersten. Er konnte kaum aufstehen und auch an eine Antwort war nicht zu denken. Der Höllenlauf war ein von Mack und Richard konzipiertes Gelände, das mit allerlei magischen und mechanischen Hindernissen übersät war, durch das sie als Gruppe durchhetzen mussten. Der Zwerg konnte aus seiner Zentrale tief im Erdmantel heraus die Konfiguration der einzelnen Elemente des Höllenlaufs jederzeit per Knopfdruck ändern, und so wusste man nie, was einen erwartete. Während Richard und Shaja die Herausforderung genossen, war es für Grayson noch immer eine Qual, eine Runde im Höllenlauf zu überstehen. Waren die mechanischen Hindernisse wie spiegelglatte Böden, Falltüren, Kletterwände und sogar rotierende Klingen nicht schon schlimm genug, kamen dazu noch die Zauber, denen sie mitunter ausgesetzt waren. Wäre Grayson allein unterwegs, wäre es nur halb so anstrengend gewesen, denn sein antimagisches Feld, das ihn als Lacunus auswies, schützte ihn vor jeglicher Magie, solange sie nicht zu stark für ihn war. Aber er musste sein Feld ständig ausdehnen und zusammenziehen, um die anderen zu schützen und anschließend wieder freizugeben, damit sie ihrerseits ihre magischen Fähigkeiten einsetzen konnten und durch seine Antimagie keinen Schaden nahmen. Also war Grayson gezwungen, sein Lacunusfeld ständig zu variieren und das mitunter innerhalb weniger Sekunden. Es war, als wollte man einen Muskel kontrollieren, den man weder richtig spüren noch anspannen konnte, und das war verdammt anstrengend! Ihm graute davor, was passierte, wenn Morgan irgendwann hinzustieß und mit ihnen den Höllenlauf absolvierte. Grayson hatte in den letzten Tagen genug gelesen, um zu wissen, dass der Magus in den letzten Monaten äußerste Rücksicht auf Graysons junge Gabe genommen hatte. Aber im Höllenlauf würde er das nicht mehr tun können und dann würde Grayson sein antimagisches Feld zentimetergenau und blitzschnell kontrollieren müssen.

»Geht es wieder?« Shaja beugte sich zu ihm herunter, einen Arm ausgestreckt, damit er sich daran auf die Beine ziehen konnte. Es lag nur ein Hauch von Spott in ihrer Stimme, und ihre Augen strahlten zu Graysons Überraschung sogar einen Anflug von echter Anteilnahme aus. Er nickte und ergriff ihren Unterarm, um dann schwankend aufzustehen. Dass er dabei ohne nachzudenken sein Lacunusfeld eindämmte, um die Halbdämonin nicht mit antimagischen Entladungen zu überziehen, zeigte ihm, dass die Schinderei im Höllenlauf nicht umsonst gewesen war.

»Gar nicht mal übel«, erklang Macks Stimme aus den Lautsprechern, die überall in der Decke des Raums verbaut worden waren. »Ihr drei wart eine ganze Sekunde schneller als beim letzten Mal.« Grayson wollte gerade zufrieden grinsen, als der Zwerg weitersprach und dabei den großen Monitor an der Nordwand einschaltete, damit man sein feixendes Gesicht sehen konnte. »Damit seid ihr immer noch eine Minute über dem Standard. Solange ihr gegen gichtkranke Harpyien, Yetis ohne Beine oder einen blinden Basilisken kämpft, solltet ihr klarkommen.« Der übermäßig gepiercte Kopf des Zwerges neigte sich in einem spöttischen Tribut an Graysons Fähigkeiten, sodass man den ausrasierten Teil mitten auf seinem mit kurzen, roten Haaren übersäten Schädel erkennen konnte. Das Motiv war wie immer eine Hand mit ausgestrecktem Mittelfinger.

Grayson erwiderte die Geste mit seiner echten Hand, was ihm einen sarkastischen Applaus des technikverliebten Zwerges einbrachte, der ihre Quadriga als sogenannter Schatten unterstützte und somit für Hintergrundrecherchen und die tausend kleinen Dinge verantwortlich war, die eine gute Infrastruktur und Ausrüstung des Teams ausmachten.

»Sehr schön, Quaestor. Wir machen noch einen Ehrenzwerg aus Ihnen«, sagte Mack hämisch.

»Was soll denn das sein?«, fragte Grayson misstrauisch.

»Jemand, der sich so schlecht benimmt, dass ihn nur noch Zwerge ertragen«, erklang eine förmlich klingende Stimme vom Eingang der Trainingshalle. Morgan kam mit einer hochgezogenen Augenbraue auf sie zu, wie immer im Maßanzug und mit seinem Gehstock in der Hand, der auch der Zauberfokus des Magus war. Grayson hätte ein Vermögen dafür ausgegeben, um den versnobten Magier nur einmal in einem Jogginganzug zu sehen und merkte sich diesen Gedanken für später. Er war sich sicher, die anderen würden ihm bei einem passenden Streich helfen. »Hatte ich nicht um magische Grundlagenstudien durch Sie drei gebeten?«, fragte er tadelnd, als er die schwitzende Gruppe erreichte.

Richard machte mit den Fingern das Zeichen des Custos, des Beschützers der Quadriga, um klar zu machen, dass er momentan die Autorität einer Entscheidung für sich beanspruchte. »Wir müssen auch trainieren. Wenn uns Hamburg eines gelehrt hat, dann, dass wir noch immer gnadenlos hinter unseren Anforderungen her hinken.«

»Genau«, warf Shaja ein. »Der arme Mr. Steel musste sich allein von einem Altvorderen zerquetschen lassen, weil wir anderen uns auf die Belltower flüchteten.« Es schwangen echte Selbstvorwürfe in ihrer Stimme mit, und Grayson rieb sich mit seinen Händen gedankenverloren über die Rippen. T’tchan war ein uraltes, mächtiges Wesen aus der Zeit vor der Entstehung der Menschheit gewesen. Verdammt, wenn die ältesten Legenden stimmten, hatten die Altvorderen die Menschen sogar erschaffen – und zwar als Sklaven, Nahrungsquelle und zur Unterhaltung. Mit den Fähigkeiten des Altvorderen konfrontiert, hatten alle außer Grayson das Weite suchen müssen, um nicht unter der Willenskraft des Wesens zusammenzubrechen. Es hatte Grayson all seine Sturheit gekostet, um T’tchan zu widerstehen, und das wollte schon etwas heißen, denn er war der störrischste Mensch, den er kannte. Aber das Gefühl des Versagens saß bei den anderen noch immer tief, auch wenn Shaja mit ihrem Bannbrecher, einem magischen Scharfschützengewehr, ihren Teil zur Niederlage des Altvorderen beigetragen hatte. Im Endeffekt war die Quadriga jedoch nur ein Spielball des Erzdrachen Eisenschuppe gewesen. Sie hatten sich als unwissentliches Bauernopfer entpuppt, das den Altvorderen nur aufspüren und ablenken, bestenfalls sogar schwächen sollte. Ob sie überlebten, war in Eisenschuppes Plan vollkommen unerheblich gewesen. Grayson hatte den anderen von diesem Aspekt ihres letzten großen Falls noch nichts erzählt, denn auch so kochte momentan jeder von ihnen in einem selbstgemachten Sud aus gefühlter Unzulänglichkeit und mangelndem Selbstvertrauen, das sie alle mit hartem Training und intensivem Studium abzuschütteln versuchten. Dass die Verschwörer innerhalb der Nebula Convicto, die ihnen überhaupt erst den Ärger der letzten zwei Jahre eingebrockt hatten, spurlos abgetaucht waren, half auch nicht dabei, dass sich die Anwesenden besser oder kompetenter fühlten.

Morgan und Richard funkelten sich an, und der Quaestor konnte die Spannungen und Risse innerhalb der Quadriga förmlich spüren, die nach und nach immer deutlicher zutage traten, seit sie aus Hamburg zurückgekehrt waren. Das Desaster mit dem wildgewordenen Golem letzte Woche war nur eine logische Konsequenz dieser Disharmonie gewesen. Sie hatten sich von der Nebelwacht aus der Patsche helfen lassen müssen, und eigentlich sollte es genau anders herum sein! Grayson war weder ein großer Menschenfreund noch das, was man auch nur im Entferntesten einen charismatischen Anführer nennen könnte, also stand er der Entwicklung, die sein Team gerade durchmachte, rat- und hilflos gegenüber und hoffte, dass sie alle Profi genug waren, um sich von selbst zu fangen.

»Richard hat Recht«, sagte er lahm in die angespannte Stille hinein.

Morgan nickte spröde und deutete vage auf den Trainingsraum. »Da es schon recht spät ist, schlage ich vor, dass wir uns zu einem späten Abendessen versammeln. Sagen wir um Mitternacht, damit jeder noch Zeit hat, sich frisch zu machen? Wir können es ja eine nächtliche Teambesprechung nennen.«

Die anderen nickten, selbst Mack, der nur per Bildschirm teilnehmen und ihnen mit einem Haufen Dosenbier und deutlich stärkeren Getränken zuprosten würde. Sie verließen gemeinsam die Halle und in dem leichten Plauderton, in dem sich Shaja und Richard unterhielten, hörte Grayson die ersten Anzeichen beginnender Vertrautheit. Vielleicht würde die Zeit ja sämtliche Wunden heilen, die Hamburg bei ihnen geschlagen hatte.

Eine Stunde später wurde Grayson von einem leisen Mauzen aus seiner grüblerischen Stimmung gerissen. Er stand jetzt schon eine geschlagene Viertelstunde unter der Dusche und versuchte, seine protestierenden Muskeln aufzuweichen, die der Höllenlauf genauso gefordert hatte wie seine besondere Gabe. Mit geschlossenen Augen hatte er die Wasserstrahlen ihre Wirkung tun lassen und dabei völlig die Zeit vergessen. Barlow mochte es gar nicht, wenn er wie jetzt durch eine feuchte Glasscheibe von Grayson getrennt war. Für den Quaestor war das ein zusätzlicher Grund, um unter der Dusche zu bleiben. Er blickte hinunter auf den weiß-braun gefleckten Kater und ging in die Hocke, um ihm durch die Glastür der Dusche düster zu mustern. Die grünen Augen des Tieres folgten seiner Bewegung und forderten ihn heraus, sich aus der nassen Kabine zu trauen.

»Kannst es nicht erwarten, mir die Krallen und Zähne in die Beine zu schlagen, was?«, sagte Grayson leise und ungehalten. Barlow mauzte wieder. Grayson erhob sich mit einem Seufzen. In einem Anflug debiler Sentimentalität hatte er das Tier nach ihrer Rückkehr aus Hamburg in seinem Zimmer wohnen lassen, wo der Streuner während Graysons Genesungszeit aufgetaucht war. Als niedliche, kleine Katze, die sich auf seinem Bauch zusammenrollte, hatte der kleine Teufel sich bei ihm eingeschlichen, aber mit Graysons Genesung hatte das Vieh eine ganze Palette unangenehmer Eigenheiten entwickelt. Fast alle von ihnen hatten mit Zähnen und Krallen zu tun, die sich in Körperteile oder zerbrechliche Materialien bohrten. Die Katze war nämlich ein Kater und beinahe ein genauso großer Drecksack wie Grayson. Der Quaestor empfand eine Art Hassliebe für das Tier und setzte es nur nicht an die Luft, weil das eine Revolte durch Shaja und Richard ausgelöst hätte. Denen gegenüber benahm sich Barlow nämlich äußerst zurückhaltend. Grayson schnaubte und stellte das Wasser ab. Er hatte sich auf seine Weise an dem Tier gerächt: Die anderen hatten jede Menge niedlicher Namen für den Racker gehabt, aber Grayson hatte ihn »Barlow« genannt – nach einem ehemaligen Kollegen bei Scotland Yard, der ebenfalls ein ekelhafter Quälgeist gewesen und den Grayson zwei Dienstjahre lang nicht losgeworden war. Der Ermittler wappnete sich, als er eine Hand an den Knauf der Duschkabinentür legte. Barlow ging in eine lauernde Stellung und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Hastig riss Grayson die Tür auf und packte ein flauschiges Badetuch, das an der Wand hing, um es blitzschnell über das kleine Wesen vor seinen Füßen zu werfen. Ein fauchendes Knurren ertönte unter dem Stoff, und mit einem triumphierenden Lachen sprang Grayson an dem Kater vorbei und in sein Zimmer, während er die Badezimmertür hinter sich zuwarf. Diebisch erfreut rieb er sich die Hände, bis er bemerkte, dass er nun pitschnass im Zimmer stand und alle Handtücher mit dem protestierenden Kater im Bad eingeschlossen waren.

»Ein schöner Quaestor bin ich«, brummte er kopfschüttelnd. Er wurde ja nicht einmal mit einem kleinen Kater fertig, obwohl er täglich mit Dämonen, magischen Wesen und sogar Politikern zu tun hatte. Mit einem kapitulierenden Seufzen stieß Grayson die Badezimmertür auf und nahm sich ein Handtuch aus dem Regal, während er versuchte, die spitzen Krallen und Zähne Barlows zu ignorieren, die sich verspielt in seinen rechten Unterschenkel gruben.

Die Eingangshalle von Worthington Manor lag ruhig und verschlafen da, als Grayson sie durchschritt, um sich zu den anderen zu gesellen. Er hörte sie bereits leise murmelnd in dem Kaminzimmer sitzen, das als ihr kleiner Besprechungsraum diente, wenn die Quadriga zwanglos zusammenkam. Die hohe Halle, die jeden Besucher, der das erste Mal hineinkam, an ein klassisches englisches Landschlösschen denken lassen musste, lag dunkel und verlassen da. Grayson schritt durch das spärliche Mondlicht, das durch die hohen Fenster ins Innere fiel. Das dunkle Zwielicht und die Einsamkeit in dem leeren Raum sagten ihm zu. Er hielt inne, um durch eines der Fenster in die Nacht hinauszustarren. Worthington Manor war von einem kleinen Wald umgeben. Nachdem Grayson sich in den letzten zwei Jahren an die umherhuschenden, wolfsartigen Schemen gewöhnt hatte, die sie dort draußen vor Gefahren beschützten, fand er den Anblick der Bäume beruhigend. Er würde nie ein Naturmensch werden, aber die Abgeschiedenheit von Morgans Domizil wusste er spätestens zu schätzen, seit er durch seine Arbeit als Quaestor mehr als genug Stress zu spüren bekam. Dann bemerkte er ein Paar silbern glühender Augen und erschauerte. Numquam, Morgans Raabe, saß auf einem tiefen Ast und starrte Grayson durch das Fenster unverwandt an. Das magische Wesen war immer da, wenn der Quaestor hinaussah – und zwar egal, aus welchem Fenster. Und immer waren die Augen des unheimlichen Vogels auf ihn gerichtet. Einmal hatte Grayson sich so hingestellt, dass er sowohl aus der Nord- als auch aus der Südseite des Hauses sehen konnte, aber wann immer er den Kopf gedreht hatte, war Numquam in seinem Blickfeld gewesen, still auf einem Ast hockend und ihn starr beobachtend. Morgan hatte Grayson versichert, dass dies normal wäre und Teil der magischen Überwachung, mit der der Rabengeist Worthington Manor vor unbemerkten Eindringlingen schützte. Aber Grayson waren die silbrig starrenden Augen des stummen Wesens unheimlich, und er hätte gerne auf ihren ständigen Anblick verzichtet. Er wollte sich gerade abwenden, als er einen Lichtblitz zwischen den Bäumen des Waldes wahrnahm. Verdutzt kniff er die Augen zusammen und stieß dann ein überraschtes Brummen aus, als er tatsächlich die Scheinwerfer eines Autos erkannte, die sich auf der kleinen Zufahrtsstraße dem Anwesen näherten. Ein Besucher zu so später Stunde konnte eigentlich nur Ärger bedeuten. Etwas musste vorgefallen sein, etwas so Wichtiges, dass es weder bis morgen früh warten noch die Neuigkeiten auf andere Weise als persönlich überbracht werden konnten.

»Wir bekommen Besuch«, rief Grayson den anderen über die Schulter zu und starrte dann weiter aus dem Fenster. Die schwarze Limousine, die gerade vorfuhr, wirkte alt und antiquiert, als wäre sie direkt aus einem Museum heraus hierhergefahren. Der matte Lack glänzte etwas zu perfekt im Mondschein und die Finsternis im Inneren des Wagens war so absolut, dass man den Fahrer nicht erkennen konnte. Grayson schnaubte abfällig. Er erkannte magische Taschenspielertricks mittlerweile, wenn er sie sah. Wer auch immer da vorfuhr, versuchte sich mit einigen Illusionen wichtig zu machen, und diese Art der Effekthascherei ging dem Quaestor gehörig gegen den Strich. Nun freute er sich noch weniger auf das bevorstehende Gespräch, wer auch immer sie da besuchen kam. Während sein Team sich mit neugierigen Mienen von den Stühlen erhob, öffnete sich die Tür der Limousine und eine Gestalt in einem langen, schwarzen Mantel stieg daraus hervor. Die Falten des Kleidungsstücks waren weit und wallend, wie um die Proportionen seines Trägers zu verbergen. An dessen Art zu gehen, schloss Grayson auf einen Mann, der da auf ihn zukam, aber sicher sein konnte er sich nicht. Der Kopf des Fremden war unter einem flachen, breitkrempigen schwarzen Hut verborgen, der jegliches Licht von den Gesichtszügen des Besuchers fernhielt.

Noch mehr Magie, ging es Grayson durch den Kopf. Ihr mitternächtlicher Gast war zumindest konsequent. Der Quaestor öffnete die Eingangstür, als der Besucher einmal dagegen klopfte, und trat dann einen Schritt zurück, um ihn mit einem Wink hineinzubitten. Numquam krächzte einmal. Grayson bemerkte, dass der Rabe den Fremden eingehend musterte. Die Gestalt glitt an ihm vorbei, und aus der Art, wie sie Abstand hielt, konnte er schließen, dass sie seinem Lacunusfeld nicht zu nahekommen wollte. Wer war diese Person?

»Lassen Sie unseren Besucher nicht im Dunkeln stehen«, sagte Morgan tadelnd, während der Quaestor die Haustür schloss. Der Magus schaltete das Licht ein und der üppige Kronleuchter über ihnen flutete die Eingangshalle mit seinem Licht. Der Fremde blieb regungslos stehen. Grayson trat um ihn herum zu den anderen, die sich neugierig in einem Halbkreis aufstellten. Richard und Shaja strahlten eine latente Wachsamkeit aus, und Grayson registrierte, dass dieser nächtliche Besuch nicht üblich genug war, als dass die beiden eine Gefahr ausschließen konnten.

Das Gesicht des Fremden lag noch immer in den Schatten der Nacht verborgen, die sich unter seinem Hut an ihre flüchtige Existenz zu klammern schienen. Grayson runzelte gereizt die Stirn. Noch hatte die Gestalt kein einziges Wort gesprochen und langsam ging ihm die gesamte Situation unter die Haut. Er warf Morgan einen fragenden Blick zu, der jedoch nur mit den Achseln zuckte.

»Wie können wir Ihnen helfen?«, fragte Grayson pampiger als beabsichtigt, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. Wenn der andere einen auf geheimnisvoll machen wollte, war der Ermittler dafür einfach zu müde und hungrig. »Und warum kann es nicht bis morgen warten?«

»Morgen bin ich bereits tot«, erwiderte die Gestalt gelassen. Trotz des unheilvollen Inhalts dieser Worte schauderte Grayson aus einem anderen Grund. Die Stimme des Fremden schien eher aus seinem Brustkorb, denn aus seinem Mund zu ertönen und hatte einen dünnen, hohlen Klang, als würde ihnen jemand etwas durch einen langen, schmalen Tunnel zurufen, anstatt vor ihnen zu stehen.

Richard, Shaja und Morgan waren jedenfalls sofort alarmiert. Der Magus hob seinen Gehstock, die Halbdämonin glitt in eine tiefe Angriffsstellung und Richard rief mit einem schnellen »Deus lo vult« seinen Ritterschild hervor, der sich geisterhaft glühend an seinem Unterarm manifestierte.

»Das ist ein Simulakrum«, stieß Morgan zischend hervor. »Seien Sie auf der Hut, Quaestor.«

Grayson trat entgegen seines ersten Reflexes auf die Gestalt zu, statt vor ihr zurückzuweichen, und dehnte sein Lacunusfeld aus, um den Fremden damit zu berühren. Sofort wichen die Schatten vom Gesicht ihres Besuchers. Grayson taumelte rückwärts und zog seinen schweren Revolver. Anfangs hatte er die Notwendigkeit noch verflucht, seine Waffe immer bei sich tragen zu müssen, damit seine antimagische Aura das Metall des Revolvers durchdrang und die Kugeln so antimagisch auflud aber in Momenten wie diesen tat es ganz gut, stets bewaffnet zu sein. Denn er starrte auf ein Wesen, das wortwörtlich kein Gesicht hatte. Er sah keine Nase, keine Augen, keinen Mund oder Ohren. Nur eine seltsam glatte und fahl wirkende Haut spannte sich über den Kopf der Gestalt, die schien, als hätte sie noch nie in ihrem Leben den Kuss der Sonne gespürt.

Das Ding hob abwehrend die Hände, anscheinend konnte es ihre Reaktionen trotz der fehlenden Sinnesorgane wahrnehmen. Graysons Gedanken rasten, als er sich an den Begriff Simulakrum zu erinnern versuchte. »Eine Projektion eines Magiers?«, warf er unsicher in den Raum.

Morgan schüttelte gereizt den Kopf. »Mehr als das. Ein fleischliches Abbild, angefüllt mit einem winzigen Teil seiner Seele. Es ist, als wäre sein Besitzer hier, ohne es wirklich zu sein.« Morgan bleckte die zusammengebissenen Zähne. »Keine Magie, die gern gesehen wird.«

Irgendetwas an dieser Aussage schien den Fremden zum Lachen zu bringen, ein fremdartig wirkendes Geräusch, das den Freudenlaut eher korrumpierte, so als wären die Dinge, die seinen Besitzer amüsierten, für normale Menschen alles andere als erheiternd. »Es erschien uns notwendig, um eine direkte Kommunikation mit Ihnen allen zu ermöglichen, ohne unsere Sicherheit aufzugeben«, sagte der Besucher nun. »Schließlich waren Ihre Bemühungen, uns zu finden, in den letzten zwei Jahren äußerst hartnäckig.«

Bei diesem Worten schoss der Schock wie Eiswasser durch Graysons Adern. Er trat einen Schritt vor, riss seinen Revolver hoch und presste ihn in das konturlose Gesicht des Wesens. »Sie gehören zu den Verschwörern«, knurrte er wütend.

»Das ist Ihr Name für uns«, sagte die Gestalt vollkommen unbeeindruckt. »Ich würde uns lieber eine Gruppe besorgter Bürger nennen.« Die Achseln des Fremden zuckten in die Höhe. »Und Sie können diese Hülle gerne erschießen, Quaestor. Wie schon gesagt, sie überlebt den Sonnenaufgang ohnehin nicht.«

»Das ist wahr, Mr. Steel«, sagte Richard, der den Besucher wachsam im Auge behielt. »Ein Simulakrum zerfällt beim ersten Sonnen- oder Mondlicht, je nachdem, ob es bei Tag oder Nacht erschaffen wurde. Sie halten also nur ein paar Stunden. Das Ding hier zu erschießen, würde dem Magier lediglich großes Unbehagen bereiten.«

Grayson nahm den Revolver herunter und starrte den Fremden missmutig an. »Also schön, Sie haben sich die Mühe gemacht, dieses Zerrbild von sich herzuschicken. Was wollen Sie?«

»Ich will Ihnen eine Warnung überbringen, Quaestor«, sagte die Gestalt. »Wir bitten Sie höflich, Ihre Ermittlungen gegen uns einzustellen. Was wir tun, muss nun einmal getan werden und Ihre Einmischungen werden … lästig. Sollten Sie weiter gegen uns vorgehen, sehen wir uns dazu gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, die über das notwendige Maß an Chaos und Leid hinausgehen, welches unser großes Werk zwangsläufig verursacht.«

Grayson ballte seine linke Faust, während der Revolver in seiner rechten zitterte. Er erkannte die Wortwahl eines Fanatikers, wenn er sie hörte. Hier sprach ein Mensch, der das Leben anderer für seine Überzeugungen opferte, solange nur er selbst nicht die Konsequenzen tragen musste.

»Und wenn wir Sie nicht davonkommen lassen wollen?«, fragte Grayson stichelnd.

»Dann werden Unschuldige unter Ihrem Starrsinn leiden«, sagte der fremde Magus.

»Das ist Schwachsinn«, knurrte Shaja. »Sie entscheiden sich dazu, die Leben von Unbeteiligten zu opfern, um uns aufzuhalten. Es liegt in Ihrer Verantwortung, nicht in unserer.«

»Sei es, wie es sei«, sagte die Gestalt glatt. »Werden Sie uns nun in Ruhe lassen oder sollen wir sehen, wie rein Ihr Gewissen am Ende der Geschehnisse ist, die Ihre Weigerung in Gang setzen wird?«

»Glauben Sie wirklich, wir würden Ihrer Drohung nachgeben?«, fragte Grayson ungläubig. »Haben Sie nicht Erkundigungen eingeholt, wen Sie hier zu erpressen versuchen? Ich habe schon Politikern, Drogenbaronen und Profikillern die Stirn geboten und jetzt glauben Sie, ein Mann ohne Gesicht in einem weiten Umhang schüchtert mich ein?« Grayson deutete mit der linken, unbewaffneten Hand auf die Tür. »Raus mit Ihnen. Ich bin hungrig und müde. Ihre melodramatische Geste hat mich nicht beeindruckt, also schaffen Sie diese lebende Puppe aus meinem Haus!«

Morgan hüstelte pikiert. »Ihrem Haus?«, fragte er leise.

Doch der Fremde nickte nur und drehte sich um. »Sie werden Ihre heutige Entscheidung noch bitter bereuen, Quaestor. Das Blut Vieler klebt nun an Ihren Händen.«

Grayson warf einen kurzen Seitenblick zu seiner Quadriga, um sich zu vergewissern, dass er ihren Rückhalt in dieser Sache genoss. Ihr Zusammenhalt war geschwächt genug, und er wollte nicht riskieren, dass er mit dem Rauswurf des Verschwörers einen Alleingang hinlegte. Doch er sah nur Wut und Entschlossenheit in den Mienen der anderen, und als das Wesen seine Hand auf die Klinke legte, regte sich die störrische Bockigkeit in Grayson, die ihn in seinem Leben schon ebenso oft gerettet wie behindert hatte.

»Ach was, zum Teufel«, knurrte er leise. Dann rief er lauter: »Ich habe noch etwas vergessen.«

Die Gestalt drehte sich zu ihm um, und auch wenn ihr leeres Gesicht keine Regungen zeigen konnte, erkannte Grayson an der Körpersprache, dass der Magus, dem dieses Ding gehörte, glaubte, Grayson wollte verhandeln.

»Ja, Mr. Steel?«, schnarrte die dumpfe Stimme aus der Brust des Simulakrums hervor.

Grayson hob seinen schweren Revolver und schoss dem künstlichen Boten mitten in den Kopf. Der Knall der Waffe hallte unnatürlich laut durch die hohe Halle Worthington Manors, und das Simulakrum fiel wie ein Ballon in sich zusammen, in den man ein Loch gepikst hatte. In diesem Fall ein äußerst großes und klaffendes Loch. Zu Graysons Überraschung schoss eine Art grüner Glibber aus dem Wesen hervor, der sich großzügig auf dem Boden und der Eingangstür verteilte, während ein Wimmern aus dem künstlichen Leib entwich, das sich anschließend in der Ferne verlor.

»Ein klassischer Grayson«, sagte Shaja trocken, während Morgan ungehalten mit seinem Stock auf den Boden stieß.

»Also wirklich, Mr. Steel, hätte Sie nicht wenigstens warten können, bis er das Haus verlassen hat?« Er deutete mit den Stock auf die Überreste des Simulakrums. »Jetzt haben wir ein Einschussloch in der Vordertür und der arme Parsley darf das alles aufwischen und wegräumen.« Der Magus zeigte auf die magisch belebte Ritterrüstung hinter ihnen, die ihn in seinem Heim als Diener unterstützte. Grayson mochte den wandelnden Blechhaufen irgendwie, vor allem, weil der nicht reden konnte. Er kratzte sich an der Wange und deutete dann auf die Sauerei auf dem Boden. »Hier bekommt er den Dreck doch viel schneller weg als draußen auf dem Schotter«, sagte er beiläufig. »Und da Sie sagten, dass der Magus, der dieses Ding erschaffen hat, sich unwohl fühlt, wenn man das Simulakrum zerstört, dachte ich mir, warum nicht? Er fühlt sich gerade hoffentlich schlecht, und mir geht es jetzt definitiv besser.«

Morgan schnaubte ungnädig. Richard hingegen hatte einen harten Ausdruck in seinen Augen. »Das Wimmern, das wir vorhin gehört haben?«, fragte er schließlich ernst in die Runde, um dann selbst nach einer kurzen Pause die Antwort zu geben. »Das war das Stück Seele, das der Magus in sein Simulakrum geben musste. Anscheinend konnte es nicht wie üblich zurück zu seinem Besitzer fliehen, sondern wurde von den Kräften unseres Quaestors hier zerfetzt.«

Grayson brummte nur zufrieden. »So wie der Kerl redete, scheint er seine Seele ohnehin nicht zu benutzen. Also wird er den Verlust wahrscheinlich kaum spüren.«

Bevor die anderen antworten konnten, klopfte es an der Tür. Grayson stöhnte auf und stampfte zu dem schweren Eichenholz. Mit der Linken riss er die Tür auf, während er mit der Rechten auf die Gestalt zielte, die an der Eingangsschwelle stand.

»Wie viele von euch muss ich erschießen, bis ihr ein Nein akzeptiert?«, blaffte er dabei.

»E… Eilzustellung … für … Morgan … Worthington?«, stammelte der Kurierfahrer, der Grayson ein großes Paket hinhielt und dabei kreidebleich in den großen Lauf des Revolvers blickte.

Nebula Convicto. Grayson Steel und die Drei Furien von Paris

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