Читать книгу Nebula Convicto. Grayson Steel und die Drei Furien von Paris - Torsten Weitze - Страница 7
ОглавлениеEin Mord vor dem Abendessen
Paris, Flughafen Charles de Gaulle, Sonntag, 25. August, 16.42 Uhr
Wie üblich hatte Morgan ihnen blitzschnell einen Flug organisiert und dafür gesorgt, dass ihr Gepäck bereits fertig verstaut in der Maschine auf sie wartete. Der Flug war ebenso kurz wie luxuriös gewesen, und nun stieg Grayson stöhnend aus dem Privatflugzeug der Nebula Convicto und auf das sengend heiße Rollfeld. Die Luft flimmerte über dem Asphalt und schien ihn innerhalb von Sekunden aufzuheizen. Er riss sich seine Lederjacke vom Körper und knöpfte sein dunkelgraues Hemd auf, bis Richard neben ihn trat und ihn streng anblickte. Dann tippte er auf den dünnen Stoff auf Graysons Brust.
»Das taktische Gewebe des Hemdes reicht höchstens als Schutz gegen ein Taschenmesser, also ziehen Sie die Lederjacke gefälligst wieder an! Wir stehen hier auf dem Präsentierteller. Ein Scharfschütze, den die Verschwörer hier postiert haben könnten, hätte gerade ein leichtes Spiel.«
Grayson wischte sich den Schweiß von der Stirn und legte sich die Jacke über die Schultern. »Panzerung hin oder her, mehr ist einfach nicht drin«, sagte er entschieden. »Was nützt es, wenn meine Schutzkleidung eine Kugel aufhält, und ich dann an einem Hitzschlag sterbe?«
Richards zog eine finstere Miene und schüttelte missmutig den Kopf.
»Sie machen meine Arbeit nicht gerade leichter, Quaestor«, sagte er und postierte sich vor ihm, um die Brust Graysons mit seinem Körper abzuschirmen.
Ein leises, hochfrequentes Sirren ertönte, als Shaja in ihrem langen, schwarzen Ledermantel das Flugzeug verließ. Das magische Kleidungsstück kühlte den Körper der Halbdämonin herab, die unter der Hitze des brütenden Hochsommers sonst sicherlich furchtbar leiden würde. Grayson hatte schon gesehen, wie die normale Kleidung der Dämonin unter zu großen Anstrengungen Feuer gefangen hatte und erinnerte sich daran, dass Shaja wohl am meisten von ihnen allen unter den Einschränkungen ihrer zwiespältigen Gaben zu leiden hatte. Hier und jetzt wirkte sie jedoch entspannt und vergnügt. »Täusche ich mich, oder ist es ein wenig kalt hier?«, fragte sie mit einem süffisanten Lächeln in die Runde und täuschte ein Frösteln an.
Grayson warf ihr einen mörderischen Blick zu und wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. »Wir sollten aus der Sonne rauskommen«, sagte er nur. »Worauf genau warten wir denn?«
Richard deutete auf ein schwarzes Fahrzeug, das sich ihnen näherte. »Wir werden abgeholt, Quaestor. Denken Sie daran, wir sind offiziell als Gesandte des Rates hier, um mit den Präfektorinnen zu sprechen.«
Grayson wischte sich nochmals den Schweiß von der Stirn und blickte neidisch zu Morgan und Shaja hinüber. Der kühlende Ledermantel winselte in hochfrequentem Ton vor sich hin und hielt die Halbdämonin offenkundig auf einer angenehmen Körpertemperatur, und Morgan sah in seinem edlen Anzug so taufrisch aus wie immer. »Der schummelt doch, oder?«, knurrte Grayson leise und pustete sich Luft ins Gesicht.
»Wenn Sie damit meinen, ob er Magie anwendet, dann ja, Mr. Steel. Anders wäre die Hitze ja kaum auszuhalten«, sagte Richard grinsend.
Erst jetzt fiel dem Ermittler auf, dass auch er sehr entspannt auf dem Rollfeld stand, während er Grayson lässig mit seinem breiten Körper abschirmte. »Sie hat er auch verzaubert, stimmt’s?«, murrte der Quaestor, während er aus den Augenwinkeln die Limousine beäugte, die gerade einige Meter entfernt anhielt.
Richard zuckte nur mit den Achseln. »Wofür hat man denn magische Freunde?«, sagte er leichthin.
Grayson wollte es gerne auf die Hitze schieben, aber in Wahrheit war es pure Frustration über die Situation. Jedenfalls dehnte er für eine Sekunde sein Lacunusfeld aus, damit der vor ihm stehende Richard davon erfasst wurde. Ein bläuliches Gleißen lief über die Gestalt des zusammenzuckenden Custos und sofort bildeten sich die ersten Schweißperlen auf der Stirn des Mannes, als Morgans Zauber sich unter der Antimagie verflüchtigte.
»Sie sind ein sehr böser Mann, Quaestor«, brummte Richard leise, und Grayson spiegelte das Grinsen, das eben noch in den Zügen des Ritters gestanden hatte.
»Wozu hat man antimagische Freunde?«, flüsterte er verschwörerisch. Dann öffnete sich die Hintertür der vor ihnen parkenden Limousine, und ein Mann stieg aus, der Graysons Aufmerksamkeit fesselte. Ein geradezu lächerlich gut aussehender Marokkaner in einem weißen, wallenden Seidenhemd und einer perfekt sitzenden, hellen Hose entstieg dem Fonds und winkte ihnen freundlich zu. Seine schulterlangen, schwarzen Haare hatte er hinter die Ohren geklemmt und die ungewöhnlichen, tiefblauen Augen des Mannes schienen alle Freundlichkeit der Welt in ihrem Inneren zu bergen. Grayson war heiß, er wollte nicht hier sein und sein erster Eindruck von Menschen im Allgemeinen war immer eher zynischen Charakters, aber diesen Mann dort wollte er einfach mögen. Es war ihm sofort klar, dass dies ein magisches Wesen sein musste, das sie gerade mit einem weiteren Winken einlud, in den Wagen zu steigen.
»Monsieur Worthington, welche Ehre«, sagte der Fremde mit einer weichen, angenehmen Stimme und dem Hauch eines französischen Akzents. »Bitte steigen Sie ein, dieses Wetter ist sogar für mich schwer erträglich.« Der Mann lachte, ein tiefer, herzlicher Laut, der Grayson schmunzeln ließ. »Ich bin nicht aus meiner Heimat nach Paris geflüchtet, um hier ebenso gekocht zu werden wie Zuhause.«
Grayson war kein eitler Mensch, aber dass der Kerl ihn und die anderen kaum beachtete, sondern sich einzig auf Morgan fixierte, kostete den Lackaffen ein paar Sympathiepunkte. Grayson zog sein Lacunusfeld dicht an sich heran, um dessen Effekt auf seinen Verstand zu verstärken und schon ließ seine Sympathie für den Mann am Wagen noch weiter nach. Graysons fühlte sich in seinem Urteil bekräftigt: Der Fremde spielte mit ihren Gefühlen herum!
»Monsieur Malthar!«, sagte Morgan gerade. »Dass Sie uns hier empfangen, ist eine erfreuliche Überraschung. Man sagt, Ihr Terminkalender sei stets auf ein Jahr im Voraus gefüllt.« Er reichte dem hübschen Kerl die Hand und schüttelte sie kräftig.
»Das liegt nur daran, dass ich mir immer Zeit für freudige Pflichten wie diese lasse. Und sagen Sie Asmal, das reicht vollkommen«, erwiderte der Mann lachend. »Wenn schon ein Ratsmitglied nach Paris kommt, das seit über zweihundert Jahren nicht mehr hier war, dann sollte ich es doch persönlich begrüßen.«
Morgan wirkte nun etwas gequält und nickte nur stumm. Asmal hob für eine halbe Sekunde eine Augenbraue hoch und schon war wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Fährt Ihre Eskorte mit uns?«, fragte er höflich.
Grayson horchte auf und verstand endlich, was hier los war. Sie waren ja gar nicht als Quadriga hier. Richard, Shaja und Grayson fungierten offiziell stattdessen als Gefolge des Ratsmitglieds Morgan Worthington.
»Sie fahren mit uns«, sagte Morgan. Asmal nickte nur und bedeutete allen einzusteigen. Das Innere der Limousine war geräumig, sodass alle mehr als genug Platz hatten. Eine kleine Bar, die zwischen den breiten Lederbänken eingelassen war, lockte mit kühl glitzernden Eiswürfeln und eine herrliche frische Brise schlug Grayson aus dem gekühlten Innenraum entgegen. Mit einem zufriedenen Seufzen ließ er sich nieder und legte seine glühend heißen Hände auf das kalte Leder. Shaja nahm ihm gegenüber Platz und Richard stieg vorne auf dem Beifahrersitz ein. Grayson schmunzelte. Der Custos fuhr am liebsten selbst und wenn das nicht möglich war, hatte er den Fahrer gerne im Blick. Jetzt beäugte er die schwarz livrierte Gestalt argwöhnisch, die Grayson nur als Schemen erkennen konnte.
»Ist das etwa eine Hülle?«, fragte Richard gerade alarmiert.
Asmal nickte. »Standardvorkehrung in diplomatischen Fahrzeugen innerhalb der Grenzen von Paris. Eine Hülle kann keine Informationen preisgeben«, erklärte er beiläufig. »Ich versichere Ihnen, unser Fahrer ist vollkommen ausreichend und dabei absolut verschwiegen.«
Grayson zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Hüllen waren die Körper frisch Verstorbener, die mit einem minderen Geist beseelt wurden, um einfache Handlungen auszuführen. Er hatte diese Praxis immer eher für das Werkzeug zwielichtiger Personen gehalten, die nicht zurückverfolgbare Handlanger brauchten. Auch Richard wirkte nicht überzeugt und beäugte die Hülle kritisch. »Ich behalte das Ding besser im Auge«, sagte er nur, als der Wagen anfuhr.
Grayson konzentrierte sich wieder auf ihren Gastgeber, der gerade gefüllte Gläser herumreichte. So sehr der Whiskey Grayson auch reizte, er griff zu einem eisgekühlten Glas Orangensaft, das ebenfalls zu Auswahl stand. Dabei betrachtete er sein Team argwöhnisch: Shaja zog den hübschen Kerl neben ihn geradezu mit ihren Blicken aus, und Morgan wirkte viel zu entspannt.
»Sie wissen, dass der mit unserem Kopf herumpfuscht?«, fragte er die beiden daher brüsk und deutete mit dem Daumen auf Asmal. Der zog überrascht die Augenbrauen hoch. Morgan deutete mit seinem Gehstock auf Grayson.
»Darf ich Ihnen Grayson Steel vorstellen, Quaestor des Verhangenen Rates?«, sagte er gequält. »Er kann etwas direkt sein sowie misstrauisch, grob und mürrisch.«
»Und das sind seine guten Eigenschaften«, warf Shaja kichernd ein.
»Und das ist Shaja Anar, ihres Zeichens ein Halbsukkubus und eine Saggitaria«, fügte Morgan mit einem tadelnden Blick in Richtung der jungen Frau hinzu.
Asmal blickte rasch von einem zum anderen und dann wieder zu Morgan. »Dann gehe ich recht in der Annahme, der kritisch dreinblickende Mann auf dem Beifahrersitz ist Richard, der Schlächter?«
»Einfach nur Richard reicht, vielen Dank«, sagte dieser kurz angebunden. Grayson spürte hier eine spannende Geschichte lauern, aber hielt sich für den Moment zurück. Der Kreuzritter hatte im Laufe der Jahrhunderte in vielen Schlachten für die Unendliche Legion gekämpft, den militärischen Arm der Nebula Convicto. Anscheinend schien er bei Asmal bei einem dieser Kämpfe einen eher negativen Eindruck hinterlassen zu haben. Jetzt, wo er genauer hinsah, bemerkte Grayson auch, dass Richard gegen den Charme des Mannes vollkommen immun zu sein schien.
Asmal beugte sich vor und sah Morgan tief in die Augen. »Das hier ist kein diplomatischer Höflichkeitsbesuch, oder?«, fragte er lauernd. »Sie sind mit einer vollständigen Quadriga hier, die sowohl einen schießwütigen Quaestor als auch einen Custos enthält, der über ein Dutzend meiner Art niedergemetzelt hat. Wird das ein politisch motiviertes Attentat?« Die Augen des Mannes begannen in einem irisierenden Blau zu glühen, und Grayson spürte, wie sich eine Druckwelle im Inneren des Wagens aufbaute. Während Morgan noch protestierte, griff der Ermittler mit seiner Rechten nach dem Hals des aufgebrachten Mannes und konzentrierte dabei sein Lacunusfeld auf seine Finger. Dieser kleine Trick gelang ihm bisher eher schlecht als recht, aber der Effekt auf Asmal war enorm. Seine Haare wurden schlohweiß, tiefe Falten zeigten sich in seinem Gesicht und seine Haut nahm eine gräuliche Färbung an.
»Loslassen, Mr. Steel!«, rief Morgan alarmiert. »Er ist ein Dschinn. Sie bringen ihn gerade um!«
Überrascht ließ Grayson den Mann los, dessen Aussehen sich sofort normalisierte und der keuchend nach Luft rang.
»Wenigstens hat er die Waffe steckenlassen«, warf Shaja spöttisch ein. Grayson nahm sich vor, mit der Halbdämonin zu passender Gelegenheit mal über ihre dauernden Sticheleien zu reden.
Morgan schnippte mit den Fingern vor Asmals Augen und der nickte als Antwort und rang weiter um Atem. »Dschinni sind hochmagische Wesen, ähnlich wie Feen«, erklärte der Magus hastig. »Die Gefühle, die sie gespürt haben, sind die seinen gewesen. Dschinn können ihre eigenen Emotionen ausstrahlen wie eine Wolke, meist um anzuzeigen, dass sie nichts Böses im Schilde führen.«
Grayson blinzelte irritiert. »Sie meinen, ein Dschinn, so wie bei Aladin? Mit Wunderlampe und allem?«
Sowohl Morgan als auch Asmal blickten Grayson an, als wäre er gerade mit Unrat beschmiert unter einem Stein hervorgekrochen. »Sie sollten es doch mittlerweile besser wissen, Quaestor«, tadelte Morgan ihn, aber der Ermittler schüttelte den Kopf.
»Hab noch nichts über sie gelesen«, sagte er knapp.
»Dschinn sind sehr selten«, sagte Richard spröde. »Und das ist auch gut so.«
»Rassist«, stieß Asmal noch immer außer Atem hervor und zum ersten Mal seit Langem war Grayson wirklich schockiert. Richard war derart grundsolide und in sich ruhend, dass diese Anschuldigung vollkommen absurd auf den Quaestor wirkte. Aber bevor irgendjemand etwas sagen konnte, hob Morgan befehlend die Hände.
»Alle sind still«, ermahnte er sie streng. »Ich regele das.« Dann deutete er auf den Dschinn.
»Dies ist Malthar Asmal, seit über zwei Jahrhunderten Generalbotschafter des Verhangenen Rates in Paris. Er kennt wirklich jeden Gesandten, Unterhändler, Botschafter oder Vertreter sämtlicher Interessengruppen von nennenswertem Rang in dieser Stadt. Er ist ein Meister der Gefälligkeiten, ganz so wie jeder Dschinn.«
»Also der Teil stimmt schon mal mit den Geschichten überein?«, hakte Grayson dazwischen.
Morgan nickte erst und schüttelte dann unschlüssig den Kopf. »So einfach ist das nicht …«, begann er, aber mittlerweile hatte sich Asmal wieder gefangen.
»Ich erkläre das besser«, sagte er ein wenig atemlos. »Aber zuerst möchte ich mich entschuldigen. Mein kleiner Ausbruch ist absolut untypisch für mich. Es muss diese Hitzewelle sein. Die ganze Stadt spielt schon seit Wochen deswegen verrückt.«
Grayson rieb sich über den Nacken. »Kann ich verstehen. Mich macht das Wetter auch gereizt.«
»Nur das Wetter?«, kam der unvermeidliche Kommentar von Shaja, die die Szene sichtlich genoss.
Asmal lächelte die Halbdämonin an und sprach dann weiter. »Wir Dschinn sind darauf spezialisiert, anderen Wesen ihre Wünsche zu erfüllen. Allerdings nicht wie in den Geschichten. Weder kann ich Dinge herbeizaubern, noch jemanden unsterblich machen oder sonst etwas. Wir besitzen ein magisches Grundtalent, ähnlich einem zweitklassigen Magus, und das war es auch schon.« Asmal deutete auf seine Brust, wo Grayson einen winzigen goldenen Anhänger sah, der die Form einer Öllampe hatte. »Wir benötigen einen speziellen Zauberfokus, um unsere Kräfte zu bündeln, daher die Sage von der Lampe, an der man reiben muss. Aber unsere eigentliche Kraft liegt in unserer Gabe, verschiedene Interessen miteinander zu vereinen. Wir sind die geborenen Unterhändler.«
Grayson nickte verstehend. »Also erfüllen Sie zwar Wünsche – aber auf vollkommen andere Art als in den Geschichten.«
Asmal schmunzelte. »Sozusagen, ja. Jemand wünscht sich Reichtum, wir stellen die Geschäftsbeziehungen her. Eine Krankheit soll geheilt werden, wir bringen Patienten und Heiler zusammen. Solche Dinge eben. Das lässt sich beliebig ausweiten auf das Beenden von Fehden, Schlichten von Missverständnissen und Ähnlichem.«
»Auch auf das Unterdrücken von Sklavenaufständen, Unterstützen von Diktatoren und Anzetteln von Bürgerkriegen«, fauchte Richard vom Beifahrersitz aus. Grayson schaute zwischen ihm und Asmal hin und her, dem die Antipathie ebenso ins Gesicht geschrieben stand.
»Scheren Sie keine ganze Art wegen einiger schwarzer Schafe über einen Kamm«, sagte Asmal scharf. »Die Efreet spiegeln in keinster Weise unsere Überzeugungen wider«, verteidigte er sich leidenschaftlich.
Richard schnaubte nur und drehte sich nach vorne.
»Efreet?«, hakte Grayson nach.
»Dschinn, die ihre Fähigkeit für eigennützige oder destruktive Zwecke nutzen«, erklärte Morgan rasch. »Der Magus, der damals Richard zu Zeiten der Kreuzzüge versklavt hatte, bediente sich der Künste eines Efreet.«
Richard starrte stur geradeaus, während er anfing zu sprechen, seine Miene konnte Grayson nur als verzerrtes Etwas im Spiegel erahnen. »Dieser Efreet war Kerkermeister, Folterknecht und Henker in einem. Er zerstörte die Träume und Charakter von Lebewesen mit ebensolcher Leichtigkeit, wie er Existenzen beendete.« Blanker Hass schwang aus der Stimme des Custos.
»Ich denke, Sie haben seine Taten mehr als gesühnt«, sagte Asmal kalt. »Schließlich haben Sie sich in den letzten Jahrhunderten immer freiwillig gemeldet, wenn ein Dschinn in den Verdacht geriet, unlauter gehandelt zu haben – und stets endete es mit dem Tod des Beschuldigten.«
Richard schwieg. Grayson konnte kaum fassen, was er da hörte. Morgan hingegen schnaubte unwillig und zog sein Smartphone hervor. Er tippte hastig darauf herum und daraufhin brummten die Geräte Richards und des Dschinns. »Ich habe gerade das vollständige, ungeschwärzte Dossier des jeweils anderen für Sie beide freigegeben. Vielleicht schaffen Fakten ja ein wenig Vertrauen für eine Zusammenarbeit.«
Die Stille im Wagen hätte man schneiden können, während die Limousine sich langsam in die Innenstadt von Paris voran mühte. Der Verkehr war dicht und die Fahrweise der anderen Teilnehmer bestenfalls als rabiat zu bezeichnen. Dass es nicht alle paar Meter zu Zusammenstößen kam, war für Grayson ein halbes Wunder. Während Richard und Asmal jeweils auf ihre Smartphones starrten und in der Historie des anderen lasen, schaute Grayson aus dem Fenster und dachte nach. Sie waren kaum gelandet und schon wäre es beinahe zu einem Zwischenfall gekommen. Dieser diffuse Auftrag, dass sie ausgerechnet auf einen Dschinn stießen und das seltsame Wetter … das alles schien Grayson kein Zufall zu sein. Befanden sie sich gerade vielleicht mitten im Gegenschlag der Verschwörer, ohne es zu merken? Und wenn ja, was war ihr Ziel? Sollte die Situation in diesem Wagen vielleicht anders enden? Hatten die Verschwörer gehofft, dass Grayson den Generalbotschafter umbrachte? Und wie konnten sie wissen, dass ein so gewiefter Diplomat genau im richtigen Moment die Kontrolle über sich verlor, so wie es vorhin geschehen war? Grayson biss sich nachdenklich auf die Lippe. Es gab einfach zu viele Fragen und noch nicht genug Informationen, um sie zu beantworten.
»Sehr beeindruckend«, sagte Richard schließlich zögerlich. »Der Dusran-Pakt, das Abkommen der sieben Dörfer … Sie haben an vielen Verhandlungen teilgenommen, die Leben gerettet und verbessert haben.« Er drehte sich noch immer nicht um, aber der brennende Hass war aus seiner Stimme verschwunden. »Sie gehören definitiv zu den Guten.«
Asmal nickte abwesend. »Ich muss mich ebenfalls korrigieren. Viele der Informationen, die hier stehen, sind neu für mich.«
Morgan räusperte sich. »Die meisten der Katastrophen, die durch einen Efreet verursacht wurden, sind Verschlusssache. Der Rat hält es für angemessen, niemandem eine Gebrauchsanweisung für eine Wiederholung in die Hand zu geben.«
»Weil wir Dschinn ja sonst sofort auf falsche Gedanken kämen«, sagte der Botschafter bitter.
Morgan hob entschuldigend die Hände, aber Shaja beugte sich vor und legte Asmal eine Hand auf das Knie.
»Ich kann Sie voll und ganz verstehen, mein Bester«, sagte sie voller falschen Mitgefühls. »Sie können sich vielleicht vorstellen, mit welchen Vorurteilen eine Halbdämonin zu kämpfen hat.«
Grayson traute seinen Ohren nicht. Versuchte sie tatsächlich, den Dschinn anzumachen, indem sie seine momentane Verletzlichkeit ausnutzte?
Bevor Asmal mit mehr als einem Lächeln reagieren konnte, klingelte das Telefon des Botschafters. Er ging ran und sprach in einem schnellen Französisch hinein, das immer hektischer und fahriger wurde, je länger das Gespräch dauerte. Schließlich legte er auf und blickte betroffen in die Runde.
»Was ist los?«, fragte Morgan besorgt.
»Es ist ein Mord geschehen«, sagte der Dschinn verstört. »Und zwar ein äußerst heikler Mord an einem elfischen Botschafter.« Er wandte sich an Grayson. »Die Nebelwacht ist jetzt schon überlastet, überall in Paris laufen Einsätze. Ob ich Sie wohl bitten könnte, uns mit einer ersten Tatortbegehung auszuhelfen, Quaestor? Viele Unschuldige könnten darunter leiden, wenn dieses Verbrechen nicht umgehend untersucht wird.«
»Dann werden Unschuldige unter Ihrem Starrsinn leiden.« Das hatte damals das Simulakrum zu ihnen gesagt. Grayson fröstelte und verdrängte den Gedanken. Nicht jedes Verbrechen war den Verschwörern anzulasten und es half niemandem, wenn er jetzt paranoid wurde. »Wir können ja mal vorbeifahren«, sagte er möglichst gelassen.
»Ein Mord vor dem Abendessen?«, fragte Shaja ausgelassen. »Und ich dachte, der Tag könnte nicht mehr spannender werden.«
Paris, 19. Arrondissement, Parc des Buttes-Chamont, Sonntag, 26. August, 18.37 Uhr
Sie fuhren eine ganze Weile weiter nach Südwesten, immer tiefer hinein in die Herzgegend von Paris. Touristen füllten die Straßen trotz des heißen Wetters ebenso unausweichlich wie die vielen Cafés und Gartenanlagen, die Grayson undeutlich an sich vorbeirauschen sah. Paris schien bis zum Bersten gefüllt zu sein, und ihm schauderte bei dem Gedanken, dass hier vielleicht gerade irgendwo die Rachepläne der Verschwörer umgesetzt werden könnten. Shaja flirtete weiter ungehemmt mit Asmal, und Morgan sprach gerade mit Mack, um detaillierte Hintergrundinformationen zum Mordopfer zusammenzustellen. Richard blieb indes auffallend still und schien sein Heil in defensivem Schweigen zu suchen. Gerade lachte Shaja übertrieben laut über einen Witz des Dschinns, als der Fahrer des Wagens anhielt und Grayson neugierig aus dem Fenster sah. Vor ihnen lag ein gut besuchter Park, in dessen Zentrum sich eine auffällige, kleine Kuppel auf einem mit dichtem Grün bewachsenen Felsen erhob. Schmale, helle Säulen trugen ein Dach, das für Grayson aus der Ferne wie eine steinerne Krone anmutete. Wasser floss wie ein Burggraben um den zu einem Teil des Parks umfunktionierten Felsen herum und verstärkte noch den Eindruck einer natürlichen Festung, die gerade von Touristen belagert wurde. Mehrere Brücken boten den Menschenmassen einen Zugang zu dem Felsen. Grayson hatte mittlerweile eine Vorstellung davon, wie die Nebula Convicto funktionierte, sodass er sich zu einem wagemutigen Tipp hinreißen ließ.
»Lassen Sie mich raten: Der elfische Botschafter wohnte irgendwo hier im oder am Park?«, fragte er Morgan.
Der zog seine Augenbrauen hoch und nickte dann erfreut. »Sie lernen ja doch dazu, Sportsfreund. Henthoumin wohnte in einem speziell für Besucher aus Tír na nÓgs erstellten Appartement hier im Herzen des Parc des Buttes-Chamont.«
Grayson rieb sich über die geschlossenen Augen. »Ernsthaft? Tír na nÓg gibt es wirklich?« Die sagenhafte Anderswelt war ein fester Bestandteil der Geschichten aus Graysons Kindheit gewesen, und da hätte sie auch gerne bleiben dürfen. Zu seiner Erleichterung schüttelte der Magus den Kopf.
»Nein, das eigentliche Tír na nÓg ist seit Jahrhunderten verloren. Aber seine Bewohner konnten sich in diese Welt retten und besiedeln nun mehrere entlegene Wälder auf der gesamten Welt. Die Elfen, die Sie bisher kennengelernt haben, haben sich in die menschliche Welt integriert, wohingegen die Elfen von Tír na nÓg waschechte Traditionalisten sind.«
»Das macht die Verhandlungen mit ihnen auch so schwer«, sagte Asmal. »Ich hatte Glück, denn da ich ein Dschinn bin, respektieren sie mich und hören mir zu.«
Richard machte Anstalten auszusteigen, aber Grayson bat ihn mit einer Handbewegung innezuhalten. »Wir sollten uns erst zu Ende unterhalten, ohne in die Menschenmengen da draußen zu geraten. Außerdem will ich die kalte Luft hier im Wagen noch so lange wie möglich genießen.«
Shaja kicherte und zog bereits betont langsam wieder ihren Kühlmantel an, den sie in der klimatisierten Limousine nicht gebraucht hatte.
»Mit wem standen die Elfen denn in Verhandlungen?«, fragte Grayson.
»Ein Koboldstamm, der in einem der Wälder lebt, die die ehemaligen Bewohner von Tír na nÓg für sich beanspruchen«, erklärte Asmal. »Der Verhangene Rat hat beiden Völkern ein Bleiberecht im fraglichen Wald eingeräumt, und das ging auch jahrelang gut, aber Kobolde sind deutlich fruchtbarer als Elfen und daher breiteten sie sich immer weiter in dem Wald aus. Es kam zu Reibereien und einigen bedauerlichen, gewaltsamen Zwischenfällen, sodass schließlich Botschafter nach Paris entsandt wurden, um eine friedliche Lösung zu finden.« Er verzog das Gesicht. »Die Verhandlungen standen kurz vor dem Abschluss. Die Kobolde wären zu einem Sasqatschstamm nach Nordamerika umgezogen und hätten dafür eine großzügige Ausgleichszahlung von den Elfen erhalten, die ihren Stamm über Generationen ernährt hätte.«
»Glauben Sie, der Mord geschah, um die Verhandlungen zum Scheitern zu bringen?«, fragte Grayson.
Der Dschinn legte seine Fingerspitzen in einer grüblerischen Geste aneinander. »Mir fällt beim besten Willen niemand ein, der von einem Streit profitieren würde.«
Grayson warf noch einen Blick aus der Fensterscheibe. Draußen schwitzten die Touristen unter der heißen Sonne und mühten sich darum, den Anblick des Parks zu genießen. Grayson sah von hier aus bereits mehr als einhundert Zivilisten. Alles in ihm schrie ihm zu, dass dieser Mord auch ebenso gut eine Falle sein könnte, die die Verschwörer ihnen gestellt haben mochten. Er seufzte und erinnerte sich an einen Spruch, den er mal gehört hatte: Bloß, weil man paranoid ist, bedeutet das nicht, dass sie nicht hinter einem her sind.
»Also gut, sehen wir uns den Tatort an«, sagte er schließlich. »Und holt Macks Drohne aus dem Kofferraum.« Er deutete zu einigen dunklen Punkten, die durch den Park schwebten. »Hier sind genug von den Dingern, dass wir Macks Spielzeug unbemerkt testen können.«
Als er die Tür des Wagens öffnete, traf ihn die schwüle Hitze wie ein Hammerschlag. Er stöhnte und erhob sich aus dem Fonds, während er in einem Impuls die schwere Lederjacke von sich werfen wollte. Aber Richards Warnung vor Scharfschützen war ihm noch frisch im Gedächtnis, also ließ er das gepanzerte Kleidungsstück an. »Ich hatte echt gehofft, es würde sich zum Abend hin abkühlen«, murmelte er.
»Die Stadt als solche ist zu aufgeheizt«, sagte Richard, der sich gerade unauffällig von Morgan verzaubern ließ. Shaja holte unterdessen die Drohne aus dem Kofferraum und aktivierte sie. Mit einem Jubelschrei erhob sich das Ding in die Luft, sodass mehrere Köpfe in der Nähe herumfuhren und das Flugobjekt anstarrten.
Grayson fluchte und hielt sich sein Smartphone ans Ohr, um den Zwerg zurechtzuweisen. »Etwas weniger auffällig, wenn es geht«, zischte er gereizt. »Sie spielen eine dumme, kleine Drohne, schon vergessen?«
»Sorry, Boss«, sagte der Zwerg. »Ich bin es gewohnt, dass die Leute mich nicht sehen.«
Grayson nickte besänftigt. »Sie sind jetzt physisch vertreten, also müssen Sie genauso reinpassen wie wir anderen auch.«
Mack ließ seine Drohne scheinbar ziellos über dem Park kreisen, während die Quadriga und Asmal sich auf den langen, geschwungenen Wegen einer der Brücken näherten, die auf den begrünten Steinhügel führten. Grayson hörte über sich ein Krächzen und sah Numquam, der über ihnen zwischen den Wipfeln der Bäume entlangflatterte.
»Also Luftunterstützung haben wir jetzt wirklich genug«, sagte Grayson leise zu den anderen.
Shaja legte den Kopf in den Nacken. »Täusche ich mich oder geht Numquam Mack weiträumig aus dem Weg?«
Grayson kniff die Augen zusammen und beobachtete die beiden einige Sekunden. Der Geistervogel hielt tatsächlich größtmöglichen Abstand zu dem fliegenden Objekt.
»Vielleicht ist er ja eifersüchtig«, sagte Richard lachend.
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Morgan steif. »Numquam ist eine Ausprägung eines Teils meiner Persönlichkeit und hat keinen eigenen Willen.«
»Dann scheint ein Teil von Ihnen unser neues Spielzeug wohl abzulehnen«, sagte Grayson trocken.
»Welch eine Überraschung«, kommentierte Shaja hintendran. »Morgan lehnt eine Neuerung ab.«
»Nicht alles ist gut oder vorteilhalft, bloß weil es neu ist«, sagte der Magus steif. »Falls es jemanden interessiert, Numquam sieht keine Anzeichen für feindliche Zauber oder Bannfallen.«
Grayson atmete durch. Anscheinend war er nicht der Einzige, dem der Gedanke an einen Hinterhalt gekommen war. Vielleicht arbeitete ihr Team doch besser zusammen, als er befürchtete.
Richard drückte Grayson einen Knopfhörer in die Hand, welchen der sich ins Ohr steckte. Die anderen taten es ihm gleich, und sofort hörte Grayson die vertraute Stimme Macks in seinem Ohr. »Ich sehe von hier oben keine Scharfschützen und auch niemanden, der Sie alle explizit beobachtet. Auch wenn Sie vier in Ihren Outfits ein wenig auffallen.«
Grayson sah sich noch einmal um, befand aber, dass der Zwerg übertrieb. Paris war eine klassische Großstadt von liberaler Grundeinstellung, was die individuelle Kleidung anging. Shajas Ledermantel wurde von zwei Grufties getoppt, die aussahen, als würden sie gerade von der Beerdigung sämtlicher Rockbands kommen, die jemals gelebt hatten, Morgans Anzug fiel kaum auf und Richards weißer Mantel schien ihm höchstens die Aufmerksamkeit einiger alleinstehender Frauen und vereinzelter Männer einzubringen, die die Hälse reckten, um den breitschultrigen Mann genauer unter die Lupe zu nehmen.
»Unser Custos scheint gerade ein paar Herzen zu brechen«, sagte Shaja, die sich bei Asmal untergehakt hatte. Sie schmiegte sich geradezu an ihn. Der Generalbotschafter schien sich daran nicht zu stören, sondern ihre Gegenwart zu genießen, was Grayson ein Runzeln auf die Stirn trieb.
»Weniger rumschäkern, mehr observieren«, murrte er. Sie überquerten eine schmale, gerade Brücke, die sie auf den Felsen führte, der hoch aus den Bäumen hervorragte und selbst ebenfalls mit Pflanzen versehen war. Grayson fielen Bearbeitungsspuren an der Felswand auf, die seltsam eckig waren. »Was ist das?«, fragte er neugierig.
»Dies war früher mal ein Steinbruch in der Nähe einer Müllkippe«, sagte der Dschinn lächelnd. Grayson starrte ihn skeptisch an, aber Asmal zuckte nur die Achseln. »Einer der Gründe, warum ich Paris so liebe«, sagte er. »Schauen Sie, was die Bewohner aus diesem Ort erschaffen haben.«
Grayson musste zugeben, dass dieser Park für einen ehemaligen Steinbruch neben einem Müllberg ganz gut aussah. Aber die Masse an Touristen und die drückende Schwüle, die sich selbst hier auf der Brücke mit jedem Atemzug in ihm festzusetzen schien, vermiesten ihm das Ambiente ganz gewaltig. Unter ihm, am Ufer eines künstlichen Sees, stritten sich gerade zwei Eltern über den Kopf ihres weinenden Kindes hinweg und in der Entfernung sah Grayson, wie sich zwei Halbstarke eine wüste Prügelei lieferten, während ihre Kumpel drum herum standen, um den Kampf zu filmen. Eine weinende Frau lief schluchzend von einem jungen Mann fort, der mit einem verdrossenen Gesicht dastand und vor sich hin schimpfte. Das Wetter schlug wohl allen aufs Gemüt, wie es schien. »Ganz schön was los«, murmelte er leise.
»Das ist die Untertreibung des Jahres, Boss«, ertönte Mack in seinem Ohr. »Die Kriminalstatistik der letzten Wochen liest sich wie der Abschiedsbrief eines Irren. Ziviler Ungehorsam ist um über zweihundert Prozent gestiegen, Gewalttätigkeiten um dreißig Prozent und sogar die Mordrate ist um ein Zehntel in die Höhe geschossen. Und das sind nur die Zahlen aus der mundanen Welt. Die Nebelwacht ist im Dauereinsatz, vor allem emotional anfällige Wesen scheinen bei diesen extremen Temperaturen durchzudrehen. Glücklicherweise war bisher nichts dazwischen, was die Öffentlichkeit mitbekommen hätte.«
»Makavia Drusnik macht einen hervorragenden Job«, sagte Asmal, der von Richard auch einen Knopfhörer bekommen hatte. »Sie ist Paris’ eigene Quaestorin.«
Grayson blieb einen Moment wie angewurzelt stehen. Er hatte bisher noch nie einen anderen Quaestor getroffen, dafür war diese Position einfach zu selten. Dass sich jemand anderes in Paris aufhielt, der sich mit demselben Mist rumschlagen musste wie Grayson, machte ihn furchtbar neugierig. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und schritt hastig weiter, bis er wieder neben Asmal gelangte. »Sie haben eine Quaestorin nur für Paris?«, fragte er nach.
Der Dschinn nickte. »Die Stadt ist zu wichtig und es leben zu viele hochgestellte Persönlichkeiten hier, daher wurde beschlossen, dass sie einen eigenen Quaestor benötigt. Ständig gibt es Verhandlungen, die reibungslos ablaufen müssen und der Verhangene Rat ist mit seinen Sicherheitsvorkehrungen zu weit weg«, erklärte er ernst. »Verstehen Sie mich nicht falsch, die räumliche Trennung von der Tagespolitik war ein brillanter Schachzug, denn dadurch vermischen sich lokale Interessen einzelner Parteien weniger stark mit der globalen Rechtsgebung. Aber Paris war schon immer ein Pulverfass und momentan scheint sich die Sonne alle Mühe zu geben, die Lunte zu entzünden.«
Grayson kam sein eigener Job auf einmal viel attraktiver vor. Zumindest musste er nicht ständig zwischen Diplomaten und Unterhändlern herumtanzen wie diese Drusnik.
»Wollen Sie mir nun vielleicht verraten, was Sie wirklich hier tun, Quaestor?«, fragte Asmal unvermittelt. Sie stiegen gerade einen gemütlichen Pfad aufwärts, der sie zwischen den kleinen Bäumen und Sträuchern auf dem Fels entlangführte. In der Ferne konnte Grayson das pavillionartige Gebäude sehen, das alle Blicke auf sich zog, aber anscheinend nicht ihr Ziel war. Der Vorstoß des Diplomaten hatte ihn überrascht und beinahe hätte er seinen Auftrag einfach ausgeplaudert. Die Offenheit und freundliche Kooperation des Dschinns hatte ihn tatsächlich weichgekocht.
»Netter Versuch«, sagte Grayson nach einigen Sekunden. »Ich muss zugeben, Sie sind wirklich gut in Ihrem Job. Alles, was ich sagen kann, ist, dass wir hier sind, um Ihnen das Leben einfacher zu machen.«
Asmal musterte ihn eindringlich, während er mit der Hand auf ein unscheinbares Gebüsch deutete. »Sie werden mir verzeihen, dass ich diese Aussage als wenig hilfreich empfinde, Quaestor?«, sagte er lächelnd.
»Na ja, zumindest sind wir nicht hier, um Sie zu ermorden«, sagte Shaja mit einem zuckersüßen Lächeln, während sie sich noch immer an den Dschinn klammerte. Grayson ging dieses aufdringliche Getue der Halbdämonin gehörig gegen den Strich. Es war, als wäre die selbstsichere und reifere Shaja plötzlich wieder gegen die aufdringliche und ihre körperliche Anziehung als Waffe nutzende Halbdämonin ausgetauscht worden, die sie damals im Traumfänger aufgegabelt hatten. Etwas an diesem Gedanken kratzte an Graysons Ermittlerinstinkten, aber dann wurde er von der schmalen Wendeltreppe abgelenkt, die sichtbar wurde, kaum dass er hinter das Gebüsch getreten war, auf das Asmal gedeutet hatte. Ein Loch im Boden führte hinab in den Fels, die steinernen Stufen schienen direkt aus dem Hügel herausgehauen worden zu sein. Graysons Hände wurden schweißnass.
»Als ich das letzte Mal so eine Treppe runtergestiegen bin, lauerte an ihrem Ende ein Altvorderer«, scherzte er schwach.
»Da kann ich Sie beruhigen«, sagte der Dschinn lächelnd. »In Paris sterben Sie höchstens an Erschöpfung durch tausende Nadelstiche.« Irgendwie schienen ihm die Worte des Botschafters wie ein drohendes Omen, und er konzentrierte sich ganz auf das Hier und Jetzt. Wenn er hinter allem die Stimme der Verschwörer vermutete und sich vor seinem eigenen Schatten fürchtete, hatten diese bereits gewonnen, ohne auch nur einen Finger krumm zu machen. Richard schritt voran, gefolgt von Shaja und Grayson. Dann kam Asmal und zum Schluss Morgan. Numquam saß über ihnen in einem Baum und würde wohl die Umgebung im Auge behalten, während sie den Tatort besichtigten.
»Wieso ist die Treppe nicht getarnt?«, wunderte sich Grayson, der an all die Besucher dachte, die sie dort oben gesehen hatten.
»Im gesamten Felsen sind Verneblungszauber angebracht«, erklärte Asmal. »Wer hier untergebracht ist, könnte dort oben eine rauschende Party feiern und niemand würde etwas sehen oder hören.« Der Dschinn kicherte. »Eigentlich finden solche Feste sogar häufiger statt.«
»Paris ist durchzogen von diesen Zaubern«, fügte Morgan hinzu. »Der Eiffelturm, die Ufer der Seine, der Louvre und unzählige weitere Orte wurden entsprechend präpariert. Kaum eine andere Stadt auf der Welt bietet so viel Diskretion für magische Wesen wie Paris.« Morgan redete noch weiter, aber Grayson hörte ihm nicht mehr zu. Er kam am Ende der kurzen Wendeltreppe an und starrte auf die vor ihm liegende Szenerie. Richard und Shaja hatten sich links und rechts des Treppenabsatzes positioniert und redeten leise auf die beiden Mitglieder der Nebelwacht ein, bullige, menschenähnliche Wesen mit grüner Haut und mächtigen Hauern, die ihnen aus dem Gesicht wuchsen. Das alles nahm der Ermittler jedoch nur am Rande wahr, denn der Leichnam, der mitten im Raum lag, fesselte seine Aufmerksamkeit. Weiß war anscheinend die vorherrschende Farbe gewesen, bevor der schlanke Elf, der mit geöffnetem Brustkorb auf dem Boden lag, so gewaltsam zu Tode gekommen war. Weiße Wände und Decke, ein weißer, seidenartig anmutender Teppich, weiße Möbel und sogar ein weißer Flügel, der eher gewachsen als angefertigt aussah. Selbst der Kamin in der Wand wirkte abstruserweise schlohweiß. Jetzt jedoch war alles mit roten Spritzern bedeckt, die ihren Ursprung im aufgebrochenen Elfen hatten, der schon eine Weile tot sein musste, und dessen Hautfarbe sich ironischerweise seinem Mobiliar angepasst hatte. Licht fiel durch die Nordwand ein, die komplett aus Glas zu bestehen schien und einen freien Blick auf den Park und seine Bewohner ermöglichte. Die Fenster waren wohl verzaubert worden, um von außerhalb wie ein Teil des Steinbruchs auszusehen.
»Heilige Scheiße, Boss!«, ertönte die Stimme Macks aus der Drohne, als das Gerät in den Raum flog. »Also das will ich nicht sauber machen müssen.«
Die beiden Nebelwächter grinsten ob des Kommentars, bis Asmal sie mit einer wirschen Kopfbewegung nach draußen beorderte.
»Das ist Botschafter Henthoumin«, sagte der Dschinn und deutete auf die Leiche. »Er wurde vor weniger als einer Stunde genau so aufgefunden.«
»Laut der Nebelwacht wollte er heute Nachmittag keine Besucher empfangen«, ergänzte Richard. »Sein nächster Termin wäre dann heute Abend gewesen. Er wollte eine gewisse Naomi Bentrout besuchen.«
Asmal pfiff durch die Zähne. Grayson zog eine Augenbraue hoch. »Der Name sagt Ihnen etwas?«, fragte er nach.
»Und ob«, sagte der Botschafter nickend. »Mademoiselle Bentrout ist eine unter den Menschen lebende Elfe. Sie geht einer recht erfolgreichen Karriere als Bühnensängerin nach und ist selbst für ein Mitglied des schönen Volkes reichlich mit Anmut und Grazie gesegnet.«
Shaja beäugte Asmal kritisch. »Das klingt, als würden Sie ihre Vorzüge aus nächster Nähe kennen.« Grayson war überrascht, echte Eifersucht in ihrer Stimme zu hören.
Der Dschinn hüstelte. »Es gab da vor ein paar Jahren mal einen Abend …«, begann er, aber Grayson winkte ab.
»Wenn es für den Fall nicht relevant ist, sollten wir uns die Details ersparen. Da dies hier ein spezielles Anwesen für Botschafter ist, gehe ich davon aus, dass Kameras oder ähnliches nicht installiert wurden?« Grayson konnte sich die Antwort denken. Als der Dschinn den Kopf schüttelte, seufzte er frustriert.
»Es gibt eine Ansammlung von Schutzzaubern, die der Bewohner des Appartements mit einem Losungswort deaktivieren kann«, ergänzte Asmal. »Henthoumin war in dieser Hinsicht äußerst gewissenhaft und wechselte die Losung regelmäßig.«
Morgan hatte sich mit einem Taschentuch aus Leinen vor dem Mund über das Opfer gebeugt und rümpfte die Nase. »Sein Brustkorb ist geöffnet und dann ist etwas hineingedrückt worden, das seine inneren Organe beschädigt hat. Entweder will uns jemand auf eine wirklich gut gemachte falsche Fährte locken oder dies war eine Tat aus äußerst persönlichen Motiven. Man richtet niemanden so zu, nur um ein Abkommen zu verhindern.«
Grayson grübelte über die Worte des Magus nach und fragte dann: »Asmal, gibt es irgendwelche Widerstände aus einem der zwei Lager? Kobolde, die ihre Heimat nicht verlassen wollten, oder Elfen, denen die Entschädigung zu hoch war?«
Der Dschinn schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, der Deal war praktisch besiegelt. Es fehlte nur noch die formelle Zustimmung aus Übersee bezüglich der Umsiedlung. Sie wissen, wie die Amerikaner momentan sein können, wenn es um Immigranten geht.«
Grayson zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Auch innerhalb der Nebula Convicto?«
»Sie haben ja keine Ahnung, Sportsfreund«, brachte Morgan sich ein. »Nordamerika steht seit Jahrhunderten immer wieder am Rande eines magischen Bürgerkrieges. Die politischen Grabenkämpfe da drüben sind ebenso mörderisch wie sinnfrei.«
Grayson sah sich noch einmal genauer im Raum um und durchdachte dabei die Details. Die Schutzzauber waren offenkundig deaktiviert, also hatte Henthoumin den Täter oder die Täterin gekannt. Grayson stimmte außerdem mit Morgan darin überein, dass dies kein Auftragsmord war. So, wie die Leiche zugerichtet war, hatte die Person, die seinen Brustkorb aufgebrochen hatte, danach noch einige Zeit damit verbracht, die Organe zu schädigen. Das hier war etwas Persönliches gewesen. Sein Blick fiel auf eine leere Stelle auf einer blutbespritzten, flachen Kommode. »Hier stand etwas«, sagte er nachdenklich. »Etwas Kleines und Schmales. Der Mörder muss es mitgenommen haben.«
»Morgan, Shaja, Mack, können Sie noch etwas erkennen, das dem normalen Auge entgeht?«, fragte er in die Runde, während er langsam durch den Raum schritt und dabei darauf achtete, nicht in die Blutspuren zu treten. Die Residenz des Botschafters glich einer magischen Festung. Ihn hier umzubringen, war also mit dem maximal möglichen Risiko verbunden. Wer würde ausgerechnet diesen Ort wählen?
Morgan ächzte auf, als er einen Zauber wirkte. »Die Luft hier drinnen ist voll negativer Energie. Wut, so dick, dass man sie schneiden könnte. Ich kann mit meinen Spürzaubern kaum etwas erkennen.«
»Ist das ungewöhnlich?«, fragte Grayson. »Ein Mord geht doch meist mit starken Emotionen einher.«
»Nicht in dem Ausmaß, Quaestor«, erwiderte Morgan. »Wenn es hier ein Massaker an Dutzenden Personen gegeben hätte, dann vielleicht, aber selbst dafür wäre die Intensität des emotionalen Feldes noch ungewöhnlich stark.«
»Dasselbe gilt für mich«, sagte Shaja, deren Augen golden aufgeglüht hatten. »Ich sehe hier nur einen köstlichen, roten Schleier«, schnurrte sie. »Jemand hat sich hier richtig ausgetobt.«
Grayson runzelte die Stirn. Wieso war Shaja auf einmal so blutrünstig? »Kann es sein, dass Sie diese Aura beeinflusst?«, fragte er nach.
Shaja nickte langsam. »Möglich«, sagte sie lasziv. »Aber es stört mich nicht besonders.«
»Mich schon«, schnappte Grayson. »Am besten warten Sie draußen bei den Kollegen von der Nebelwacht.«
Shaja zog eine Schnute und ging wortlos, aber betont langsam die Treppe hinauf.
»Kommt mir das nur so vor, oder benimmt Shaja sich wie ein dämonischer Teenager, seit wir in Paris gelandet sind?«, fragte Richard leise in die Runde, während er sein Mikro abdeckte.
Grayson atmete erleichtert auf. »Und ich dachte, nur ich würde das so sehen«, sagte er verschwörerisch.
Morgan zuckte hingegen gelangweilt die Achseln. »Ich habe nicht darauf geachtet«, sagte er zur Überraschung des Ermittlers. Der Magus war sonst nie so unaufmerksam.
»Wenn ihr fertig seid, über unsere Saggitaria zu lästern, habe ich etwas entdeckt«, verkündete Mack selbstzufrieden. Seine Drohne schwebte gerade über dem Leichnam, und Macks Abbild auf dem Frontdisplay deutete in die Wunde hinein. »Eine der Kameras hat einen Fremdkörper in der Brusthöhle entdeckt. Kann ihn bitte jemand entnehmen und in das Analysefach stecken?« Bei diesen Worten glitt ein Teil der Drohnenabdeckung an der Seite des Gehäuses auf. Grayson konnte ein kleines Fach erkennen, das über und über mit magischen Glyphen bedeckt war.
»Ich sollte vielleicht meine antimagischen Finger von der Drohne lassen«, sagte er und schaute Morgan und Richard bedeutungsvoll an. Der Magus zögerte und hielt sich wieder sein Taschentuch vor den Mund, sodass Richard mit einem unwilligen Brummen vortrat und unter der Anleitung Macks anfing, mit den Fingern in der Wunde herumzustochern.
Grayson dachte gerade, dass dies nicht unbedingt dem normalen forensischen Prozedere entsprach, aber dann tröstete er sich damit, dass in der Nebula Convicto nichts normal war. Schließlich zog Richard seine blutige Hand zurück, seine Beute zwischen zwei besudelten Fingern.
»Es scheint ein winziges Stück Stoff zu sein, das sich an einer der zerbrochenen Rippen verfangen hatte«, murmelte er nachdenklich. Er legte den Hinweis in das Fach der wartenden Drohne und mit einem leisen Zischen glitt die Klappe an der Seite des Flugobjekts wieder zu.
Mack schlug laut die Hände zusammen, sein Gesicht eine Maske der Selbstzufriedenheit. »Datenübertragung steht – die Analyse läuft«, verkündete er fröhlich. »Das Blut gehört zu Henthoumin, was kein Wunder ist …« Mack beugte sich an seinem Monitor vor und runzelte die Stirn. »… und der Stoff ist grobes, ungefärbtes Leinen.«
»Das hilft uns nicht weiter«, sagte Grayson unzufrieden, aber Morgan hob seinen Gehstock.
»Vielleicht doch«, sagte er beunruhigt. »Kobolde tragen gerne eine traditionelle Kopfbedeckung bei besonderen Anlässen – aus unbehandeltem Leinen.«
Asmal stöhnte gequält auf. »Bitte nicht«, sagte er leise. »Ich musste siebenunddreißig Gefallen austauschen, bis dieser Deal stand. Wenn das hier ein Kobold war, dann haben wir statt einer friedlichen Umsiedlung einen regionalen Konflikt in einem Wald in Nordschottland zu erwarten.«
»Schlechte Nachricht, Boss«, verkündete Mack. »Da ist noch weitere DNA auf dem Stoff. Ihr Besitzer ist zwar nicht in der Datenbank des Verhangenen Rates, aber sie gehört definitiv zu einem Kobold.«
»Dreck«, fluchte der Dschinn und stieg damit in Graysons Sympathieskala wieder um einige Stufen. Der Diplomat war natürlich darauf geschult, sich stets korrekt zu verhalten, aber dieser kleine Gefühlsausbruch machte ihn in den Augen des Quaestors irgendwie menschlicher.
»Von den politischen Implikationen einmal abgesehen, haben wir dann aber noch ein ganz anderes Problem«, sagte Richard, der mit Morgan einen wissenden Blick austauschte. »Das Leinen im Brustkorb kann nur bedeuten, dass der fragliche Kobold sich in eine Rotkappe verwandelt hat.«
Asmal zog scharf die Luft ein. Grayson erinnerte sich bei dem Wort Rotkappe an eine Zeichnung, die er in der Enzyklopedia Nebulae gesehen hatte: eine kleine, dürre Gestalt mit einer bluttriefenden Kappe auf dem Kopf, die um einen Haufen Leichen herumtanzte.
»Helfen Sie mir auf die Sprünge«, sagte Grayson. »Ich erinnere mich nur noch verschwommen an Informationen über Tod und Gewalt.«
»Das fasst es schon ganz gut zusammen«, sagte Morgan in mulmigem Ton. »Ein Kobold, der sich über alle Maßen in Rage versetzt, verwandelt sich in seltenen Fällen in eine Rotkappe. Ihren Namen haben sie von ihrer zwanghaften Angewohnheit, ihre Kappen in das Blut ihrer Opfer zu tauchen.« Er deutete auf den offenen Brustkorb des toten Elfen. »Der Geruch des Blutes hält sie in ihrem Mordrausch gefangen. Sie kommen erst daraus hervor, wenn sie lange genug keine Opfer mehr finden oder durch Kinderlachen abgelenkt werden.«
»Kinderlachen«, echote Grayson. »Ernsthaft?«
Morgan zuckte die Achseln.
»Bestimmt eine neuronale Rückkopplung durch die spezifische Frequenz von Kinderstimmen«, sagte Mack leichthin.
»Darüber können wir nachher noch grübeln«, sagte Grayson alarmiert und deutete aus dem Fenster. »Da draußen im Park sind momentan ein paar Dutzend Touristen und da sich noch keine Leichenberge türmen, gehe ich davon aus, dass der Kobold von ein paar der spielenden Kinder angelockt wurde. Bedeutet das, er hat sich beruhigt?«
Morgan schüttelte den Kopf. »Erst, wenn das Blut auf seinem Kopf getrocknet ist. Wenn die Kinder vorher aufhören zu lachen …«
Grayson stürmte die Wendeltreppe hinauf, die anderen folgten ihm dicht auf dem Fuß. »Shaja«, brüllte er in sein Mikro. »Sehen Sie nach, ob Sie irgendwo Blutspuren finden können. Wir haben es mit einer Rotkappe zu tun, und ich denke, sie ist noch irgendwo im Park bei einem oder mehreren Kindern!«
Während er an die Oberfläche rannte, hörte er bereits Shajas Antwort. »Ich sehe hier und da ein paar Blutstropfen …, aber die könnten auch von einem Touristen sein, der gestürzt ist oder so.«
»Mack, fliegen Sie rauf zu Shaja«, befahl Grayson. »Sie soll Ihnen einen der Tropfen in das Analysefach schmieren. Wenn das Blut zu Henthoumin gehört, sind wir auf der richtigen Spur!«
Die Drohne zischte an seinem Kopf vorbei, als er gerade aus dem Loch im Boden stieg. Der Quaestor zuckte unwillkürlich zusammen. Es würde sicher noch eine Weile dauern, bis er sich an das schwarze Flugobjekt gewöhnt hatte. Aber wenn Mack ihnen jetzt dabei half, die Rotkappe aufzuspüren, hätte die Drohne Graysons Segen. Er reckte den Hals, um sich zu orientieren, kaum dass er komplett emporgestürmt war, und lief dann zu Shaja hinüber, die gerade mit den Fingern über einen Busch strich und diese dann in das offene Fach an der Seite der Drohne steckte. Die restliche Quadriga und Asmal versammelten sich mit angespannten Mienen um die Halbdämonin und Macks fliegendes Werkzeug und warteten angespannt auf das Ergebnis der Blutprobe.
Die Zeit schien geradezu stillzustehen. Grayson warf einen kritischen Blick auf seine Uhr. Es war bereits nach sieben. Viele Eltern würden sicher bald mit ihren Kindern den Park verlassen, um zu Abend zu essen. Und wenn die aufhörten, die Luft mit ihrem Lachen zu füllen, würde sich das Wasser des Parks schnell dunkel färben. Noch hörte Grayson den hellen Klang spielender Kinder von mindestens vier verschiedenen Positionen und überlegte, die Quadriga aufzuteilen. Aber das würde bedeuten, dass im Ernstfall einer von ihnen allein gegen eine Rotkappe antreten müsste, und das könnte sehr schnell sehr hässlich werden und außerdem das Leben Unschuldiger kosten. Nervös wippte Grayson auf seinen Zehenspitzen auf und ab, während Mack die Analyse laufen ließ. Eine gefühlte Ewigkeit später nickte der Zwerg geradezu feierlich.
»Das gehört zu unserem Opfer«, verkündete er leise. Mittlerweile starrten ein paar der Besucher zu ihnen herüber, wie sie in verschwörerischem Kreis um eine Drohne herum dastanden. Grayson macht eine Handbewegung, damit sie sich ein paar Schritte verteilten. Mack spielte wieder die harmlose Drohne über dem Park, während Shaja verstohlen in eine bestimmte Richtung deutete. »Die Blutspur führt da entlang«, hörte Grayson ihre gemurmelten Worte. Sie setzte sich an die Spitze der Quadriga und führte sie über eine der Brücken auf die den begrünten Felsen umgebenden Parkflächen. Grayson sah mehr als einen Picknickkorb, der gerade zusammengepackt wurde, während die noch immer drückende Sonne in einem schrägen Winkel durch das lichte Blätterdach der vereinzelten Bäume fiel. Shaja beschleunigte ihre Schritte, und Grayson musste sich zusammenreißen, um nicht loszulaufen. Wenn sie zu viel Aufmerksamkeit auf sich zogen, könnten sie den Kobold warnen oder alarmierte Parkbesucher im Schlepptau haben, wenn es zur unvermeidlichen Konfrontation mit dem Mörder kam. Und beides würde das Risiko eines Blutbads erhöhen. Shaja hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt, um ihre golden leuchtenden Augen zu tarnen, da sie noch immer mittels ihrer gebündelten Körpermagie nach den Blutstropfen Ausschau hielt, denen sie folgten wie einer makaberen Brotkrumenspur. Sie deutete an das Nordufer des künstlich angelegten Sees, der sich an den alten Steinbruch in der Mitte des Parks schmiegte. Grayson benötigte keine weiteren Worte, um ihr Ziel zu erkennen. Dort standen und saßen acht Kinder herum, keines von ihnen älter als zehn. Während drei stumpf und beinahe teilnahmslos auf ihre Smartphones glotzten, die Daumen in hektischen Bewegungen verfangen, standen die anderen fünf in einem Kreis zusammen und spielten eines dieser kindlichen Spiele ohne feste Regeln. Ein Ball wechselte zwischen ihren Händen hin und her, während die fünf dabei vor sich hin kicherten und lachten.
»Eines von denen ist unsere Rotkappe«, sagte Morgan leise. »Sie können zur Verneblung die Gestalt eines Kindes annehmen. Achten Sie auf eines, das ein tiefrotes Kleidungsstück trägt.«
Grayson nickte und die Quadriga und der Dschinn rückten vor. »Sobald der Tanz losgeht, wäre eine Ablenkung gut oder der halbe Park schaut uns zu«, murmelte Grayson.
»Das mache ich«, sagte Asmal und ließ sich zurückfallen.
»Numquam und Macks Drohne sollen die Umgebung im Auge behalten«, befahl Grayson. »Wir brauchen nicht noch mehr böse Überraschungen.«
»Längst dabei, Boss«, ertönte es in seinem Ohr, und Morgan nickte, während er einmal kurz in den Himmel starrte.
Sie näherten sich in einem lockeren Halbkreis den spielenden Kindern, wobei Grayson bemerkte, dass die anderen so taten, als würde sie den Sommerabend im Park genießen. Er wischte sich den Schweiß von den Händen und der Stirn und bemühte sich dann, eine möglichst unschuldige Haltung einzunehmen, während er unter seine Jacke griff und die Waffe aus dem Holster zog. Er hielt den schweren Revolver unter dem Kleidungsstück verborgen und sah, dass die anderen ebenfalls ihre Waffen bereitmachten. Richards Breitschwert blitzte kurz unter seinem Mantel auf, und Shaja hielt eine ihrer verkürzten Schrotflinten in den Falten ihres Ledermantels verborgen. Morgan bereitete murmelnd einen Zauber vor. Graysons Atem ging immer schneller. Zwei der Kinder hatten etwas Rotes an: ein Mädchen in einem tiefroten T-Shirt und ein Junge in einem Superheldenkostüm mit rotem Umhang. Noch hatten die Kinder sie nicht bemerkt oder reagierten zumindest nicht auf sie, sondern gingen weiter ihrem Ballspiel nach. Grayson hörte eine etwas gezwungene Note aus dem Lachen der Kinder heraus und beobachtete deren Gesichter genauer. Die Augen von vieren waren fast ständig auf das Gesicht des kleinen Mädchens gerichtet und wann immer das Gelächter abebbte, verfinsterte sich die Miene der Kleinen und ihre Gesichtszüge verformten sich für ein halbe Sekunde auf unnatürliche Art und Weise. Graysons Puls schoss in die Höhe. Die Kinder hielten die Blutkappe offensichtlich bei Laune und spürten wohl auf einer instinktiven Ebene, dass ihre Spielkameradin eine tödliche Gefahr darstellen würde, wenn sie aufhören sollten zu lachen. Grayson sah die ersten zitternden Mundwinkel, als die Stimmung der Kinder allmählich kippte.
Die Anspannung in den Körpern der anderen Teammitglieder war nicht zu übersehen. Grayson beschloss, kein weiteres Risiko einzugehen. »Asmal, jetzt wäre die versprochene Ablenkung gut«, murmelte er leise.
»Verstanden, Quaestor«, ertönte die Antwort über Funk. Keine Sekunde später ertönte der erste Knall auf der anderen Seite des Parks, gefolgt von einem schrillen Heulen und einer Lichtexplosion in gut dreißig Metern Höhe. Stakkatohaft folgte weiteres Feuerwerk, das am Himmel seine Pracht entfaltete und die Blicke aller auf sich zog, die nicht gerade eine Rotkappe jagten. Die Kinder in dem Kreis ließen den Ball fallen und deuteten mit offenen Mündern auf das Spektakel, für einige Sekunden in ehrfürchtigem Staunen gefangen. Nur das kleine Mädchen mit dem roten T-Shirt blickte nicht zu dem Feuerwerk hinüber, sondern zog ein finsteres Gesicht, als das Kinderlachen abbrach. Ihre Züge wurden knorrig und breiter als es möglich sein sollte, ein Bart spross auf ihrem Kinn hervor und ein Schimmern glitt über ihre Erscheinung. Im selben Moment sprach Morgan einen Zauber aus, und die Kinder auf der Wiese sackten unter einem Schlafzauber in sich zusammen. »Ich brauche einen Moment«, murmelte der Magus und stützte sich benommen auf seinen Gehstock, aber Grayson schenkte ihm nur ein dankbares Nicken, während er seine Waffe hervorzog. An der Stelle des Mädchens stand nun ein dürres Wesen mit borkiger, nussbrauner Haut, die an die Rinde eines Baumes erinnerte. Eine blutrote Kappe saß auf schütterem, schlohweißem Haar und ein drahtiger Bart hing dem Wesen auf die Brust. Seine Hände liefen in langen, scharfen Krallen aus und auch die übergroßen Füße endeten in spitzen Mordwerkzeugen. Die Kleidung der Rotkappe wirkte wie eine ehemals erhabene grüne Robe, die nun jedoch zerrissen und blutverschmiert an dem Wesen herunterhing. Ein kleiner, weißer Bilderrahmen lugte aus dem Kleidungsstück hervor. Grayson ahnte, dass dies der fehlende Gegenstand aus der Residenz des ermordeten Botschafters sein musste.
»Im Namen des Verhangenen Rates und gemäß den Gesetzen der Lex Nebula verhafte ich Sie für den Mord an Botschafter Henthoumin!«, donnerte Grayson mit so viel Autorität in der Stimme, wie er nur aufbringen konnte. Gleichzeitig hob er seine Waffe und legte auf die Blutkappe an, während seine Quadriga es ihm mit ihren Waffen gleichtat. Für einen Moment waren sie wieder eine gut geölte Maschine, die reibungslos zusammenarbeitete, und das machte Grayson stolz.
»Er hat sie nicht verdient!«, schrie die Blutkappe wie von Sinnen und strich dabei mit einer Hand über den Bilderrahmen. »Sie gehört mir! Mir allein!«
Noch bevor Grayson aus den wahnsinnigen Rufen schlau werden konnte, stürzte das Wesen vorwärts, um ihn anzugreifen.
Das war der Moment, in dem alles schief ging.
Richard beschwor mit einem Ruf seinen Schild, stand aber viel zu weit weg, um eingreifen zu können. Grayson feuerte auf die Blutkappe, um sie zu stoppen, aber in dem Moment stieß ihn Shaja mit einem mordlüsternen Lachen aus der Flugbahn der heransausenden Rotkappe und schwang ihre Schrotflinte am Griff durch die Luft. Die Schusswaffe konnte auch als Knüppel verwendet werden, wie sie nun eindrucksvoll zur Schau stellte. Die Arme der Saggitaria glommen dabei golden auf, wie Grayson an ihren Handrücken sehen konnte. Das Metall der Waffe traf die rasende Kreatur mitten in der Luft und schleuderte sie meterweit bis in den See hinein. »Hab ich dich«, tönte Shaja triumphierend. Richard schnaubte abfällig, während Grayson sich auf die Füße rappelte.
»Gar nichts hast du«, wütete der Custos erbost. »Als ob so ein Schubser eine Rotkappe lahmlegt. Jetzt kann er irgendwo an Land kriechen und entkommt uns!«
»Ach ja?«, tönte Shaja und baute sich herausfordernd vor Richard auf. »Du warst jedenfalls nicht zur Stelle, um den Quaestor zu schützen. Ein schöner Custos bist du.«
Grayson war mittlerweile wieder auf den Beinen und konnte nicht glauben, was sich da vor seinen Augen abspielte. Richard und Shaja funkelten sich erbost an, während Morgan nur in einer herablassenden Geste den Kopf schüttelte.
»Gestritten wird später, erst müssen wir die Rotkappe finden«, kommandierte Grayson in hartem Tonfall. »Asmal wird die Leute mit dem Feuerwerk nicht ewig ablenken können, und ich will nicht, dass uns der Mörder entkommt …«
Im Nachhinein hätte sich Grayson die Worte auch schenken können, denn die Rotkappe sprang plötzlich in einem Sprühregen davonwirbelnder Wassertropfen aus dem See und warf mit zwei nachlässig wirkenden Hieben sowohl Richard als auch Shaja zur Seite wie Stoffpuppen. Blut spritzte in alle Richtungen, als die Krallen des Wesens mühelos das Fleisch der beiden aufschnitten. Grayson legte seine Waffe an und feuerte instinktiv die komplette Trommel auf das Ding ab und riss erstaunt die Augen auf, als er feststellte, dass die Kugeln in der borkigen Haut der Rotkappe steckenblieben und nur winzige Löcher in das rindenartige Material rissen, das das Wesen bedeckte! Der Angreifer grinste böse und machte sich zum Sprung auf Grayson bereit, als plötzlich das Gras zu seinen Füßen in die Höhe wuchs und sich um die Knöchel der Kreatur wand. Morgan keuchte vor Anstrengung, als die Rotkappe sich innerhalb eines Augenblicks frei riss und der Zauber des Magus in einem bläulichen Funkenregen kollabierte. Grayson zog sein Messer hervor, hatte aber große Zweifel, ob er seinem Gegenüber einen Stich versetzen könnte, bevor ihm die scharfen Krallen den Körper aufschnitten. Dann sauste ein Breitschwert von rechts und eine Ladung magischen Schrots von links heran und sorgten dafür, dass der Quaestor die Antwort nie herausfinden musste. Shaja hatte noch im Flug ihre zweite Schotflinte gezogen und die Läufe beider Waffen auf die Rotkappe abgefeuert, die daraufhin zur Seite taumelte – mitten hinein in das mit aller Kraft geworfene Schwert des Custos, der mit blutverschmiertem Gesicht auf einem Knie dahockte. Die schwere Waffe des Ritters drang mit einem Knirschen durch eines der Löcher, die Graysons Kugeln in die Haut der Rotkappe geschlagen hatte, und fuhr durch die dürre Gestalt wie durch Butter. Mit einem dumpfen Geräusch fiel dem Wesen der Bilderrahmen aus der Robe ins blutgetränkte Gras und dann stürzte die Rotkappe ohne einen weiteren Laut zu Boden.
»Verdammt nochmal, du hast mich angeschossen!«, maulte Richard und hielt sich den linken Arm, der voller kleiner Einschusslöcher war, wo Shajas Salve ihn gestreift hatte. »Dir war doch klar, dass der Gegner zwischen uns war, oder nicht?«
»Gern geschehen«, sagte die Halbdämonin trotz ihrer Wunden äußerst selbstzufrieden. »Ohne meine Salve wäre er nie in deine Richtung gestolpert und dein Schwert wäre einfach abgeprallt.«
»Keiner von euch hat planvoll gehandelt«, mischte sich Morgan tadelnd in den Streit ein. »Die bittere Wahrheit ist, wir hatten einfach nur Glück.«
Grayson steckte zitternd seine Waffe weg und betrachtete das Blut seiner Teamkollegen ringsum. Wenn das gerade Glück gewesen war, wollte er sich nicht ausmalen, wie wohl eine Pechsträhne aussehen würde.