Читать книгу Nebula Convicto. Grayson Steel und der Verhangene Rat von London. Band 1 (Fantasy) - Torsten Weitze - Страница 5
ОглавлениеEin Mord um drei Uhr früh
London, New Scotland Yard, City of Westminster, Mittwoch, 12. Oktober, 14.04 Uhr
Detective Grayson Steel starrte seine Erscheinung im verspiegelten Glas des Vernehmungszimmers an. Blaue Flecken verunzierten sein Gesicht, und die Wunden am Bauch brannten wie Feuer. Während er in Handschellen auf die Vernehmung durch seine Kollegen wartete, ging er gedanklich noch einmal die Ereignisse des letzten Tages durch und fragte sich, wie zur Hölle es soweit hatte kommen können.
London, Islington, Dienstag, 11. Oktober, 05.34 Uhr
Der Nebel bedeckte die nächtliche Stadt wie ein grob gewebtes Leichentuch. Aller Details und Farben beraubt, verschwamm das spärliche Nachtleben auf den Straßen zu flüchtigen Eindrücken. Allein die instinktive Bedrohung undeutlicher Bewegungen blieb.
Während Grayson mit seinem Dienstwagen in die St. John Street einbog, bemerkte er ein rostrotes Graffiti, das sich vom grauen Einerlei abhob. Mit wenig Talent und noch weniger Einfallsreichtum gemalt, sollte es wohl den Kopf einer rothaarigen Frau darstellen. Durch den Nebel wirkte das Ganze eher wie eine Stichwunde, so als wäre das Haus ermordet worden. Das wäre doch mal ein Fall., dachte Grayson trocken. Das erste Lächeln des Tages stahl sich auf sein Gesicht. Dies war eine der ersten Lektionen, die er als Ermittler gelernt hatte: Nimm jedes Lächeln mit, selbst wenn es von den eigenen Witzen stammt. Man weiß nie, wie lange man auf das nächste warten muss.
Zu dieser frühen Stunde war auf den Straßen noch wenig los. Erste Pendler mit Anfahrtsstrecken von weit über zwei Stunden quälten sich gerade aus dem Haus, um dem Sirenengesang der Arbeit zu folgen. Grayson sah mehrere Zeitungsboten, die ihre Schicht begannen, durch seine Scheinwerfer aus dem Schleier des Nebels herausgerissen.
Eine Minute später ließ ihn eine rote Ampel anhalten – als einzigen Fahrer an einer großen Kreuzung, die still und menschenleer dalag. Grayson hasste es, wenn das passierte. Denn wie immer focht er dann einen stummen Kampf zwischen Vernunft und Bequemlichkeit aus. Er könnte einfach die Sirene einschalten, anstatt nutzlos zu warten, oder er könnte den Anwohnern in Hörweite ihren Schlaf lassen, den sie so dringend brauchten. Still vor sich hin fluchend wartete er auf das grüne Licht. Grayson wusste, dass der Tatort schon gesichert war, es bestand also kein Grund zur Eile.
Das Opfer wird es schon nicht umbringen, wenn ich zwei Minuten später ankomme. Dieses Mal war sein Lächeln etwas gequält, als er sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Der fehlende Schlaf dieser Nacht schien von Graysons Humor Tribut gefordert zu haben. Besser keine weiteren Witze mehr heute früh. Die Kollegen haben es auch so schon schwer genug.
Während er auf die Ampel wartete, warf er einen kurzen Blick in den Rückspiegel, um seine Erscheinung zu prüfen. Müde blaue Augen starrten ihm unter kurzgeschnittenen schwarzen Haaren entgegen, die Wangenknochen stachen aus dem hageren Gesicht hervor. Er musste dringend daran denken, mehr zu essen. Wenigstens waren seine Kleidung und sein Mantel sauber und ordentlich, sonst würde man ihn noch für einen Obdachlosen halten. Endlich wurde es Grün, und er fuhr los, weiter hinauf ins nördliche London.
Langsam änderte sich die Gegend, weg von den gepflegten Vorgärten und den historischen Fassaden Londons, die man in jeder Werbebroschüre sehen konnte, und hinein in die harte Realität der fünfstöckigen Mietshäuser und kleinen Geschäfte. Die Nebenstraßen wurden enger, die Sackgassen häufiger, fast so, als passe sich die Umgebung den Lebensperspektiven ihrer Bewohner an. Nach wenigen Minuten nahm die Anzahl der Graffitis weiter zu, und die Qualität und Art der Geschäfte wurde zweifelhafter. In diese Gegend Islingtons verirrte sich kein Tourist, wenn er nicht gerade von einem zweitklassigen Reiseführer hierhergeschickt wurde, weil er unter der Rubrik »Alternative Geheimtipps« nachgeschlagen hatte.
In einer Seitenstraße rechts von ihm durchbrachen schließlich die vertrauten rot-blauen Lichtblitze alarmbereiter Streifenwagen den grauen Schleier dieses herbstlichen Dienstagmorgens. Grayson fuhr seinen Wagen langsam um die Ecke und stellte den Motor ab, ließ die Scheinwerfer aber noch an, um durch den Nebel hindurch einen besseren Blick auf den Tatort werfen zu können. Vor sich sah er zwei Streifenwagen und einen Dienstwagen von der Spurensicherung sowie den Leichenwagen des Gerichtsmediziners, alle hatten sich desselben Tricks wie Grayson bedient, und die Szene war hell erleuchtet. Also waren mindestens acht Kollegen vor Ort, vielleicht noch weitere in der Umgebung.
Das wird auf jeden Fall hässlich, dachte Grayson mit einem Seufzen. Aber sonst hätte man mich ja auch nicht angefordert.
Wobei angefordert nicht das richtige Wort war. Sein Vorgesetzter hatte ihn vielmehr hergeschickt, damit er auf andere Gedanken kam.
»Wir wissen doch, wohin zu viel Grübeln über ungelöste Fälle bei Ihnen führt, Inspector Steel. Hier, schauen Sie sich das mal an.«
Schwungvoll hatte Chief Biggs ihm die Akte in die Hand gedrückt. Ganz neu, nur ein einziges Blatt Papier darin. Nicht wie die Akten, die Grayson sonst bekam, überquellend vor Berichten von zwei oder mehr Abteilungen, die sich vor ihm die Zähne an den Fakten ausgebissen hatten.
Einer der Streifenpolizisten hatte die Hand gehoben, um sich gegen die Strahlen des Autoscheinwerfers abzuschirmen. Dieser blendete ihn jetzt schon eine ganze Weile, während Grayson seine Gedanken hatte schweifen lassen. Missmutig schaute der Polizist in Graysons Richtung.
»Na prima«, brummte der vor sich hin, während er das Licht ausschaltete. »Noch nicht ausgestiegen und schon den ersten Kollegen verärgert.« Mit einem Seufzen nahm er seine Dienstwaffe aus dem Handschuhfach und schob sie in das Achselholster, kramte schon mal seinen Dienstausweis hervor und stieg aus.
Der Polizist baute sich vor ihm auf, musterte seine Zivilkleidung und sagte in scharfem Tonfall: »Dies ist ein Tatort, Sir. Sie können hier nicht weiterfahren. Wenn Sie ein Anwohner sind …«
Grayson hob seinen Dienstausweis, den sein Gegenüber misstrauisch beäugte.
»Zeigen Sie mal her.« Herrisch schnappte er sich den Ausweis und starrte eine Weile darauf.
Ja, diese Dienstmarke sieht man eher selten, ich weiß., dachte Grayson und konnte ein Schmunzeln nicht verbergen. Dummerweise sah der Polizist das und blickte nun noch finsterer drein.
Verdammt, soviel zur Kooperation, schoss es Grayson durch den Kopf. Dann eben auf die harte Tour.
»Detective Chief Inspector Grayson Steel von New Scotland Yard, Sonderermittler in der Abteilung für Schwerverbrechen. Wenn Sie wollen, können Sie gerne meine Dienstnummer überprüfen und meine Abteilung anrufen. Und jetzt her mit dem Ausweis, Police Constable.« Energisch winkte er mit seiner Hand, und widerwillig kam der andere seiner Aufforderung nach.
»Sonderermittler, huh. Naja, seltsam genug ist die ganze Sache ja.« Respektvoll gab er den Ausweis zurück und schaute sich fragend um.
»Wo ist denn Ihr Partner?«
»Ich arbeite zur Zeit allein«, antwortete Grayson. Mal wieder, fügte er in Gedanken hinzu.
Seine Arbeitsweise und die Natur seiner Fälle hatten schon weit über zehn Partner verschlissen. Sechs hatten sich in ruhigere Gefilde versetzen lassen, entweder um wieder schlafen zu können, oder um sich nicht weiter der Gefahr des politischen Selbstmordes auszusetzen. Die Hälfte seiner Fälle wäre nämlich recht leicht lösbar, wenn nicht irgendwelche einflussreichen Leute darin verwickelt wären. Allerdings war Grayson politischer Druck egal. Drei weitere Partner hatten sogar den Dienst quittiert, einer davon schon nach einer Woche. Von wegen Bester seines Jahrgangs. Den Rest hatte Grayson nicht leiden können. Die hielten nie lange durch.
»Also, was haben wir hier?«, fragte er nun laut. Dabei trat Grayson an dem Mann vorbei und betrachtete die Szenerie.
Eine kleine, wenig befahrene und daher völlig verdreckte Nebenstraße, die ins Dunkel führte, lag vor ihm. Die meisten der Straßenlaternen waren nicht in Betrieb. Ob absichtlich herbeigeführt oder durch Vernachlässigung konnte er nicht sagen, nicht hier in dieser Gegend. Nur eine einzige Laterne warf ein trübes oranges Licht auf den Tatort, und ohne die Scheinwerfer der Dienstwagen hätten sie ebenso gut raten können, was hier passiert war. Er sah ein weißes Tuch, ausgebreitet über einem Körper. Merkwürdig unpassend durch seinen Mangel an Grau und Schmutz schien es automatisch zum natürlichen Zentrum der Wahrnehmung zu werden.
Hinter ihm erklang die Stimme des Constables: »Es ging ein anonymer Anruf ein. Ein Autofahrer berichtete, hier wäre jemand zusammengebrochen. Es wurde noch eine zweite Person gesehen, die sofort flüchtete. Keine Beschreibung. Das Opfer selbst ist eine Frau, Ende zwanzig, keine äußeren Anzeichen für Gewalteinwirkung. Die Brieftasche fehlt. Bisher keine Möglichkeit zur Identifizierung des Opfers.« Ein kurzes Zögern. »Aber das Gesicht sollten Sie sich ansehen.« Man merkte, dass der Constable schon einige Jahre Dienst tat. Der sachliche Tonfall bewies, dass der Mann es geschafft hatte, die notwendige innere Mauer zu errichten, die diese Arbeit erforderte. Grayson fragte sich nach all den Jahren immer noch, ob das gut oder schlecht war.
Mit einem Achselzucken unterbrach er seine abermals beginnende Grübelei und kniete neben dem Tuch nieder. Wie immer wünschte er sich, das nicht tun zu müssen, einfach auf die Bilder der Spurensicherung warten zu können und dann im Büro aus sicherer Distanz Fotos zu betrachten, die auch aus einem schlechten Spielfilm hätten stammen können. Aber zu oft schon hatten Kleinigkeiten den entscheidenden Hinweis oder Zusammenhang geliefert, als dass er sich den Luxus erlauben könnte, den Anblick durch die gefilterten Augen eines Tatortfotos zu betrachten.
Er holte noch einmal tief Luft und hob das Tuch an. Mit einem leisen Flattern, fast wie ein Flüstern, hob sich das Gewebe vom Körper, und hinter sich hörte Grayson das leise, unterdrückte Würgen des Constables, als das Gesicht des Opfers entblößt wurde. Also eher ein guter Schauspieler als ein abgehärteter Scheißkerl, der nichts mehr fühlt. Gut. Das macht einen besseren Polizisten aus dir, Kumpel.
Sein Blick wanderte über den Körper der Toten, den Kopf aussparend. Es war besser, zuerst die normalen Dinge zu betrachten, bevor man sich mit den Auffälligkeiten auseinandersetzte. Die nahmen einem immer die Perspektive für den Rest des Tatorts. Das Opfer lag auf dem Rücken und war sehr gut gekleidet, vom Stil her ein teurer Businesslook. Keine offensichtlichen Abwehrverletzungen. Gepflegte Hände, sauber manikürt. Die Handtasche lag direkt neben dem Opfer, halb offen und durchwühlt, wahrscheinlich vom Täter auf der Suche nach der Brieftasche. Für Grayson sah es bis hierhin wie ein normaler Raub aus, bei dem etwas schief gegangen war. Als er sich dem Gesicht zuwandte, wusste Grayson, warum ausgerechnet er zu diesem Tatort geschickt worden war. Im Laufe seiner Karriere hatte Grayson schon viele Gesichter gesehen, die zeigten, in welchem gefühlsmäßigen Zustand sich die Opfer im Augenblick des Todes befunden hatten. Viele waren schmerzverzerrt, ängstlich und erschöpft, je nach Tathergang war mehr von einer und weniger von den anderen Emotionen zu sehen. Einige wenige wirkten auch überrascht oder sogar friedlich, wenn der Tod unerwartet gekommen war. Hier jedoch war jeder einzelne Gesichtsmuskel zu einem Ausdruck äußersten Entsetzens angespannt. Kein Schmerz, keine Überraschung oder Erschöpfung, nur pure Angst. Der Mund war weit aufgerissen, so grotesk, dass die Zähne komplett entblößt waren. Die Augen schienen aus den Höhlen zu quellen, derart weit waren die Lider geöffnet. An einigen Stellen schien die Haut bis über das natürliche Maß gedehnt worden zu sein, so dass Risse entstanden waren, durch die man einzelne Muskelstränge sehen konnte, die gespannt waren wie Drahtseile. Es war Grayson, als würde er ins personifizierte Antlitz der Furcht blicken.
Bestimmt kein normaler Raubüberfall. Sogar ihn erschreckte dieses reine Entsetzen, das ihm aus der Fratze der Toten entgegenschlug. Etwas hölzern ließ er das Tuch sinken und sammelte sich einige Sekunden. Er stand auf und drehte sich um, nur um einer vertrauten Gestalt gegenüberzustehen. Vertraut, aber nicht freundlich. Naja, man nimmt, was man kriegen kann, dachte Grayson.
Dr. Gilford war ein kompetenter Gerichtsmediziner, aber für Graysons Geschmack etwas zu enthusiastisch bei der Arbeit. Außerdem konnte er sich nie des Gedankens erwehren, dass die Opfer als letzte Gesellschaft vielleicht lieber jemand anderen als diesen dicklichen, kleinen Mann um sich gehabt hätten. Sein Gesicht mit den leicht vorstehenden Augen ließ ihn immer wie eine kranke Kröte erscheinen.
»Detective Steel, was für eine unerwartete Überraschung. Ich dachte, man hätte Sie mittlerweile suspendiert. Ihr letzter Fall war doch politisch recht brisant, oder nicht?« Der Tonfall des Mediziners schwankte zwischen ehrlicher Überraschung und etwas, das tatsächlich nach Sympathie klang.
Bei dieser Bemerkung hatten sich die Köpfe der anderen Uniformierten am Tatort umgedreht. Einige ganz offen, andere nur ein wenig, aber Grayson war klar, dass ihr Gespräch nun die ungeteilte Aufmerksamkeit der kompletten ermittelnden Truppe hatte.
Also schön, bringen wir es hinter uns. Er seufzte und setzte sein bestes gequältes Lächeln auf, um möglichst laut und deutlich klarzustellen: »Die meisten meiner Fälle sind heikel. Der letzte war nichts Besonderes. Der Täter war nur der Cousin zweiten Grades des Agrarministers. Nachdem ich ihn überführt hatte, habe ich mich mit den politisch Beteiligten zusammengesetzt und eine Lösung gefunden, mit der alle leben konnten. Alle, außer dem Cousin natürlich. Aber das hätte er sich überlegen sollen, bevor er diesem Mädchen derart übel mitgespielt hat.«
Die Ermittlungen waren im Laufe von zwei Jahren fast zum Erliegen gekommen. Massiver politischer Druck und die Trägheit des Alltags unter den zuständigen Kollegen hatten den Fall beinahe in Vergessenheit geraten lassen. Als Grayson sich angeboten hatte, die Ermittlungen zu übernehmen, hatte er plötzlich zwei neue Freunde, nämlich die beiden Kollegen, die den Fall los waren, und weit über zwei Dutzend neue Feinde.
Aber Grayson liebte Feinde, also war das in Ordnung. Zumindest wenn sie bedeuteten, dass er seine Arbeit richtig machte. Ein paar Fragen an den richtigen Stellen, ein wenig Unnachgiebigkeit gegenüber den üblichen Drohungen und ein klärendes Gespräch mit dem Minister bezüglich seiner Optionen hatten ausgereicht, um ein Geständnis des Cousins und eine stille und leise Verurteilung zu erwirken. Das Opfer wurde geschont, der Täter bekam eine angemessen hohe Strafe und der Minister keine negativen Schlagzeilen.
Es hatte schon etwas für sich, wenn einem die eigene Zukunft scheißegal war.
Nicht, dass Grayson selbstzerstörerisch gewesen wäre, es war eher eine Art beiläufige Kaltschnäuzigkeit. Er hatte einfach genug Angebote aus dem privaten Sektor, um jederzeit aus dem Polizeidienst aussteigen zu können und dabei das Dreifache zu verdienen. Aber Sicherheitsfirmen konnten keine Leute ins Gefängnis stecken, also blieb er, wo er war, solange er konnte und kümmerte sich um die Fälle, die so brisant, skurril oder einfach nur kompliziert waren, dass keiner sie bearbeiten wollte. Dass er verdammt gut in seiner Arbeit war, half ihm natürlich auch, sonst hätte seine Karriere vieles nicht überstanden.
Dr. Gilford streckte ihm die Hand entgegen, die Grayson etwas überrascht in einen kurzen Griff nahm. »Auf jeden Fall danke dafür, dass Sie das Schwein erwischt haben. Ich habe damals die Tatortbilder gesehen …« Die Stimme des Doktors verlor sich, und nach einigen Sekunden drehte er sich zur Leiche um und fuhr fort: »Keine Anzeichen eines Kampfes am Tatort, keine Abwehrspuren an der Leiche. Keine äußeren Verletzungen. Bei der Autopsie wird wahrscheinlich Herzversagen rauskommen. Vorläufig schätze ich den Todeszeitpunkt auf drei Uhr morgens. Wäre nicht der Gesichtsausdruck, so würde ich in diesem Fall nicht von einem Gewaltverbrechen ausgehen.«
Grayson nickte nachdenklich. »Ja, der Gedanke kam mir auch als Erstes. Aber warum sollte eine junge Frau einfach so mitten auf der Straße vor Schreck tot umfallen? Das ergibt keinen Sinn. Und auch wenn die Brieftasche fehlt, das hier war sicherlich kein Raubüberfall. Die Kleidung der Frau deutet darauf hin, dass sie nicht aus dieser Gegend kommt. Aber wen soll sie hier besucht haben, mitten in der Nacht und in diesem Aufzug? Hier passt nichts wirklich zusammen.« Er drehte sich zu dem Streifenpolizisten um, der sich mittlerweile erholt hatte. »Die Kollegen sollen die umliegenden Straßen absuchen. Wenn wir Glück haben, hat der Täter die Brieftasche schnell entsorgt. Dann fällt uns zumindest die Identifizierung leichter. Ich bezweifele, dass ihre Fingerabdrücke in unserer Datenbank erfasst sind.«
Dann blickte er die umliegenden Häuserwände hinauf. Wenige Fenster, die meisten davon zerbrochen. Die beiden Lagerhäuser direkt am Tatort schienen leer zu stehen, die hinteren Gebäude wurden vom Nebel und der Dunkelheit verschluckt. Zeugen würde er hier sicherlich keine finden.
»Mir wird immer klarer, warum ich den Fall bekommen habe. Hoffentlich wird der hier nicht die Nummer Acht«, murmelte Grayson.
»Nummer Acht?«, fragte Gilford.
»Es gibt bisher sieben Fälle, die ich nicht lösen konnte. Wann immer ich keine aktiven Fälle habe, versuche ich mich weiter an deren Aufklärung. Leider haben meine Theorien immer einige … Lücken«, antwortete der Sonderermittler nachdenklich.
Der Gerichtsmediziner räusperte sich. »Davon habe ich gehört. Gerüchten zufolge haben Sie sogar alternative Ansätze durchdacht, wenn ich das mal so formulieren darf.«
Alternative Ansätze, den Ausdruck muss ich mir merken, dachte sich Grayson. Der Chief nennt so was Spinnereien. Deswegen hat er mir doch den Fall hier gegeben. Damit ich nicht wieder die Seltsamen Sieben anrühre. Das war der Spitzname, den die Fälle in seiner Abteilung hatten. Die Seltsamen Sieben. Bei keinem dieser Fälle gab es eine sinnvolle Erklärung, es fehlte immer ein wichtiger Aspekt. Zum Beispiel der Mann, der in einem von innen verschlossenen Raum verbrannte, ohne dass ein Brandbeschleuniger oder ein anderer Brandherd als der Mann selbst nachgewiesen werden konnte. Grayson hatte jede Spur verfolgt, von experimentellen Chemikalien bis hin zur Verschwörung. Erst nachdem er alles ausgeschlossen hatte, hatte er sich mit dem Thema der spontanen Selbstentzündung beschäftigt. Obwohl er selbst nicht daran glaubte, blieb es die einzig passende Theorie. Aber damit wollte er sich nicht zufrieden geben. Also grub er weiter, obwohl jede andere Erklärung, die er fand, auch nicht wahrscheinlicher war.
»Ich diskutiere die Fälle mittlerweile nicht mehr«, sagte Grayson knapp zu dem immer noch fragend dreinblickenden Mediziner. Sonst lande ich noch in der psychiatrischen Anstalt. Und an einem solchen Ort angekommen, wären die Angebote privater Sicherheitsfirmen hinfällig.
Chief Biggs sagte immer, dass er Grayson nie an einen verärgerten Politiker, einen wütenden Mob oder einen Serienkiller verlieren würde, sondern höchsten an die Seltsamen Sieben. Na, dann hoffen wir mal, dass der Chief mich hier nicht zum Achten geschickt hat, um mich von den Sieben abzulenken. Einen Moment genoss Grayson die Ironie, bevor ihm bewusst wurde, was das für ihn und seine geistige Gesundheit bedeuten würde, sollte er Recht behalten.
Er schauderte. Der Schlafmangel hatte ihn grüblerisch gemacht, und so versuchte er, sich wieder auf den Tatort zu konzentrieren. Grayson starrte hinunter auf die regungslose Gestalt unter dem Leichentuch. Was hast du gesehen? Was hat dich zu Tode erschreckt? Er stellte sich genau vor die Leiche und drehte sich dann so, dass er in die Blickrichtung der Toten schaute. Er sah nur Nebel und Dunkelheit.
»Sie hat in diese Richtung geschaut, als sie gestorben ist. Ich schau mir mal den hinteren Teil der Straße an, vielleicht hat der Mörder etwas verloren, oder es gibt andere Hinweise«, sagte er zu Dr. Gilford.
»Gut, ich bin hier fast fertig. Die genaue Todesursache werde ich Ihnen erst später mitteilen können«, erwiderte er. »Wenn wir Glück haben, hat sie eine experimentelle Droge eingeworfen und der Fall ist morgen erledigt.« Der Gerichtsmediziner wollte ihn aufmuntern, aber Grayson glaubte nicht an Drogen als Ursache. Das Opfer wirkte sehr gepflegt, die Art von Mensch, die sehr genau auf sich und ihren Körper achtete. Die wenigsten von solchen Typen nahmen Drogen und wenn, dann in einer kontrollierten Umgebung wie einer schicken Penthouse-Wohnung und nicht mitten auf der Straße in einem heruntergekommenen Viertel. Außerdem war ja auch eine flüchtende Person gesehen worden.
Gedankenverloren ließ Grayson sich eine Taschenlampe von einem der Beamten in Uniform geben und machte sich auf den Weg ins Dunkel. Der Nebel schien dichter zu werden, während er sich dem Rande des Lichtkegels näherte, den die einzige funktionierende Laterne und die Lichter der Streifenwagen warfen. Nach drei weiteren Schritten stand er in massiver Schwärze, bis seine Augen sich langsam an die veränderten Sichtverhältnisse gewöhnt hatten. Grayson nutzte die Zeit, um ein paar Mal tief durchzuatmen. Nach einigen Sekunden war die Straße als kaum zu erkennender Schemen sichtbar. Besser wird’s wohl nicht, dachte sich Grayson und schaltete die Taschenlampe ein. Sofort verschwand alles außerhalb des Lichtkegels wieder in einer grauen Wand, aber die vorherige Gewöhnung seiner Augen an das Zwielicht sorgte zumindest dafür, dass er den Strahl der Taschenlampe als ausreichend hell empfand, um innerhalb seiner kleinen Insel aus Licht einige Details erkennen zu können. Er ging weiter, und nach zehn Metern endete die Straße an einem kleinen Parkhof mit heruntergekommenen Garagen. Grayson leuchtete die umliegenden Laternen an und erkannte gesplittertes Glas. Alle Laternen auf dem Parkplatz waren zerschmettert worden, es lagen Steine in der Nähe der Splitter. Grayson trat näher und leuchtete einen der Scherbenhaufen an. Die Bruchkanten waren dreckig und angelaufen, also waren die Laternen vor längerer Zeit beworfen worden. Höchstwahrscheinlich von Jugendlichen, die irgendwie die Langeweile eines weiteren Abends ohne Perspektive bekämpfen wollten. Es schien, als ob der Mörder den hinteren Teil der Straße als eigentlichen Tatort vorgesehen hatte. Hier war alles schön dunkel, weit genug entfernt von der Hauptstraße, um eventuellen Lärm ungehört verhallen zu lassen, und kein Mensch kam hierher, erst recht nicht nachts. Vielleicht war ihm das Opfer entkommen oder hatte die Falle gewittert und es zumindest bis ins Licht der Nebenstraße geschafft.
Aber wie konnte er erwarten, dass überhaupt jemand herkam? Was hatte die Frau hier zu suchen, mitten in der Nacht? Und wie hat er sie getötet?
Er suchte nach Anzeichen eines Kampfes, aber die Taschenlampe offenbarte nur weiteren Dreck und Müll. Er wollte sich eben umdrehen, als er eine Bewegung aus den Augenwinkeln erspähte. Der Strahl seiner Taschenlampe zuckte herum und traf auf das stumpfe, rostige Blech eines Garagentores. Da waren Schritte in der Dunkelheit zu hören, aber Grayson konnte nicht sagen, von wo genau sie kamen. Der Nebel und das Wellblech der Garagen verzerrten jedes Geräusch.
Seine Kollegen erschienen ihm auf einmal hundert Meter weit entfernt zu sein, und Grayson war sich plötzlich der Tatsache schmerzlich bewusst, dass er allein in einer unbeleuchteten Sackgasse stand, in deren unmittelbarer Nähe ein rätselhafter Mörder zugeschlagen hatte. Sollte der Mörder psychisch gestört sein, habe ich gerade eine riesige Zielscheibe auf dem Rücken.
So unwahrscheinlich dieser Gedanke auch war, Grayson hatte gelernt, dass eine gute Gelegenheit die Hemmschwelle solcher Täter herabsetzte. Er zog seine Waffe, entsicherte sie und betätigte den Schlitten, um eine Kugel in den Lauf zu befördern. Ganz ruhig, alter Junge. Nur nicht durchdrehen. Ist bestimmt nur ein Obdachloser, der definitiv mehr Angst vor dir hat, als du vor ihm, beruhigte er sich selbst.
Langsam und vorsichtig rückwärtsgehend machte Grayson sich auf den Weg zurück zum Tatort, wobei er die Sackgasse mit seiner Taschenlampe so gut es ging im Auge behielt und nervös einen Blick über die Schulter warf. Das neblige Grau und die verschmierten Hauswände im kalten Scheinwerferlicht der Streifenwagen wirkten auf einmal genauso einladend auf ihn wie der Anblick seiner Lieblingsbar.
Erstaunlich wie so ein wenig Todesangst die Wahrnehmung verändern kann. Langsam, möglichst leise auftretend, damit er jedes Geräusch hören konnte, schob sich Grayson an der linken Hauswand entlang, bis er knapp außerhalb des Lichtstrahls der Streifenwagen stand. Hier blieb er stehen und starrte noch einmal in die alles verhüllende Schwärze. Nichts regte sich. Er machte hastig drei weitere Schritte rückwärts ins Licht und steckte seine Waffe weg, damit die anderen Kollegen nicht bemerkten, was er da trieb.
Ich brauche einen Kaffee, dachte Grayson, während er sich umdrehte und erleichtert den Atem ausstieß.
Und stutzte.
Die Leiche war abtransportiert worden, die Leute von der Spurensicherung packten bereits zusammen. Aber dort, wo die Leiche gelegen hatte, lag etwas Glänzendes auf dem Boden. Anscheinend hatte noch keiner der drei anwesenden Spurensicherer den Gegenstand bemerkt.
Grayson trat näher und bückte sich, um genauer hinschauen zu können. Eine silberne Scheibe oder Münze lag dort gut sichtbar, direkt an der Stelle, wo die Leiche gelegen hatte. Grayson zog sich einen Gummihandschuh über und hob die Scheibe auf. Ein kleiner Funken sprang dabei auf seine Hand über, anscheinend war sie elektrisch aufgeladen gewesen. Sie wirkte auf den ersten Blick wie eine Crown, eine 25-Cent-Münze, war jedoch von einem feinen Muster überzogen, wie Grayson es noch nie gesehen hatte. Von einer normalen Prägung fehlte jede Spur.
Sieht wertvoll aus, vielleicht wollte der Mörder das an sich bringen, dachte er. Damit wäre schon mal ein Motiv vorhanden, und Grayson begrüßte an diesem Tatort jeden Anhaltspunkt, der einen Sinn ergab. Aber wenn ich als Täter dafür morde, dann suche ich doch danach! Ihm fiel die durchwühlte Handtasche ein, und Grayson schätzte, dass der Täter bestimmt hiernach gesucht hatte. Anscheinend hatte das Opfer die Münze in der Hand gehalten, und bei ihrem Tod war sie zu Boden gefallen, und der Körper der Frau hatte sie verdeckt.
Zufrieden winkte Grayson einen der Spurenermittler heran, die sich gerade abfahrbereit machten. »Packen Sie das bitte ein, das lag unter der Leiche.«
Der junge Mann beugte sich aus dem Fenster des Wagens und warf einen seltsam flüchtigen Blick auf Graysons Hand. »Ach, das ist nur eine Crown, die haben wir vorhin schon gesehen, die können Sie behalten«, scherzte er freundlich und schloss das Fenster des Wagens. Für einen kurzen Moment dachte Grayson an einen schlechten Witz. Als der Mann den anderen jedoch signalisierte loszufahren, erkannte er seinen Irrtum. Das war kein Scherz gewesen und verhört hatte er sich auch nicht! Der Lieferwagen setzte sich in Bewegung und ließ Grayson fassungslos zurück.
Der lässt mich hier echt stehen … Grayson schäumte vor Wut und stampfte zu seinem verbeulten Dienst-BMW hinüber, über die mangelnde Qualität der Nachwuchspolizisten im Allgemeinen und die Schlampigkeit der Spurenermittler im Besonderen fluchend. Dort kramte er ein Beweistütchen aus seinem Notfallkoffer, den er immer dabei hatte, und packte die Münze ein.
Mittlerweile waren auch die Streifenwagen abgefahren, und Grayson blickte auf den verlassenen Tatort. Nur das gelbe Absperrband erinnerte noch an das Geschehen.
Ein weiterer Morgen im schönen London, dachte Grayson grimmig.
Er startete den Wagen, schaltete seine Scheinwerfer ein und erstarrte. Zwanzig Meter entfernt, nur als Schemen im Nebel zu erkennen, stand eine Gestalt, über zwei Meter groß, in seltsam unförmige Kleidung gehüllt und starrte ihn an. Gute drei Sekunden bewegte sich keiner der beiden, während derer Grayson versuchte, so viele Details wie möglich zu erkennen, aber der Nebel machte jedwede Bemühung zunichte. Etwas an den Konturen der Person kam Grayson seltsam falsch vor, abgesehen von der Größe. Arme und Beine schienen zu lang für einen Menschen, die Finger, nur als angedeutete Schatten zu erkennen, wirkten irgendwie spitz. Er spürte die Bedrohung, die von dieser Gestalt ausging, wie Beute, die weiß, wenn sie sich im Fokus eines Raubtiers befindet. Ihm brach am ganzen Körper der kalte Angstschweiß aus. Langsam griff er nach seiner Dienstwaffe, bis er das beruhigend kühle Metall mit seinen Fingerspitzen spüren konnte. Das brach den Bann. Grayson öffnete mit einer Hand die Tür, rief »Polizei, stehenbleiben!« und zog mit der anderen Hand seine Waffe, alles in einer flüssigen Bewegung.
Für einen Sekundenbruchteil nahm ihm der Türholm die Sicht, da war die Gestalt bereits verschwunden. Was auch immer da gewesen war, es hatte sich blitzschnell bewegt. Wäre nicht der wirbelnde Nebel gewesen, der die plötzliche Leere füllte, wo der Schemen eben noch gestanden hatte, Grayson hätte seinen Augen nicht getraut. Doch auch dieser Moment verstrich, und der Nebel beruhigte sich. Die Gasse lag wieder in trügerischer Stille da und erwartete die Geräusche der erwachenden Stadt. Grayson ließ sich ins Auto fallen und zog die Tür ins Schloss, die Waffe auf seinem Schoß.
Nach fünf Minuten hatte er sich soweit beruhigt, dass er mit zitternden Fingern den Wagen wenden und losfahren konnte.