Читать книгу Nebula Convicto. Grayson Steel und der Verhangene Rat von London. Band 1 (Fantasy) - Torsten Weitze - Страница 8
ОглавлениеFeuer im Verhörzimmer
London, New Scotland Yard, City of Westminster, Mittwoch, 12. Oktober, 14.04 Uhr
Die nächsten Stunden waren wie in einem Traum vergangen. Die Kollegen hatten den Tatort gesichert und versucht, Grayson vor Ort zu vernehmen, was sich als ziemlich hoffnungsloses Unterfangen erwiesen hatte. Selbst wenn er gewusst hätte, was er hätte sagen sollen, wäre er trotz allem nicht in der Verfassung gewesen, sinnvolle Antworten zu geben. Also hatte man ihn unter Bewachung in ein Krankenhaus verfrachtet, wo die Ärzte ihn untersucht und zusammengeflickt hatten. Drei angebrochene Rippen, eine schwere Prellung am Rücken, zehn oberflächliche Stichwunden im Bauchbereich sowie ein geprellter Kehlkopf wurden durch jede Menge Beulen und Schrammen abgerundet. Nur der Vielzahl seiner Verletzungen und der Tatsache, dass er Polizist war, hatte er es zu verdanken, dass sie ihn noch nicht mit Handschellen ans Bett gekettet hatten. Als die Ärzte mit ihm fertig gewesen waren, hatte er zehn Stunden durchgeschlafen. Seine Träume waren voller Nebelfetzen und unmenschlicher Grimassen gewesen. Kaum war er erleichtert aufgewacht und hatte unter Schmerzen den Krankenhausfraß heruntergewürgt, wurde er jedoch von zwei ihm unbekannten Beamten der Mordkommission abgeholt, wahrscheinlich um zu vermeiden, dass Grayson bei seinen Kollegen irgendwelche Strippen ziehen konnte. Anscheinend war seine prekäre Situation auch bei Graysons zahlreichen politischen Feinden angekommen, und so wurde er von jedem abgeschirmt, der ihm ansatzweise hätte helfen können. Der Arzt hatte unter Protest die Entlassungspapiere unterschrieben, und Grayson wurde auf sein Revier gebracht, was in seinen Augen aber gar nicht so schlimm war, da er festgestellt hatte, dass der Kaffee im Krankenhaus eine Katastrophe war.
Er kehrte ins Hier und Jetzt zurück und analysierte seine Situation. Der Absturz zur Persona non grata war wirklich schnell gegangen. Nun saß er in einem der vertrauten Vernehmungszimmer auf der falschen Seite des Tisches, ohne ein einziges ihm bekanntes Gesicht gesehen zu haben.
Der Raum war fensterlos, von dem obligatorischen Einwegspiegel abgesehen, der ihm gegenüber in die Wand eingelassen war. Grayson nagte an seiner Unterlippe und versuchte noch immer zu entscheiden, wo er lieber hin wollte, Klapse oder Knast. Mit seiner Aussage hatte er zumindest darüber die Kontrolle. Dass er nicht ungeschoren oder nur suspendiert aus der Sache herauskam, stand für ihn außer Frage. Nach offizieller Darstellung hatte er in einem Amoklauf eine unschuldige, unbewaffnete Obdachlose zusammengeschossen. Grayson schätzte, dass man bereits fieberhaft daran arbeitete, ihm andere ungeklärte Morde an Obdachlosen anzulasten und ihn zum Serienmörder zu erklären. Er hatte stets gewusst, dass er genug Feinde hatte und war sich sicher gewesen, dass die ihn irgendwann aus seinem Job drängen würden. Grayson hatte nur nie damit gerechnet, dass er selbst ihnen genug Material liefern würde, dass sie ihn damit beerdigen konnten. Während er noch immer das Für und Wider seiner beiden Wahlmöglichkeiten abwog, öffnete sich die Tür und ein Mann trat ein.
Der Unbekannte blieb direkt hinter der Tür stehen, intelligente tiefgrüne Augen blitzten Grayson entgegen, und er zeigte ein ehrliches Lächeln, als er den Gefangenen von Kopf bis Fuß musterte. Grayson tat dasselbe und kam zu dem Schluss, dass er entweder den politischen Freund eines seiner Feinde vor sich hatte oder einen Anwalt. Genau wie seine Wahl zwischen Irrenanstalt und Vollzug, gefiel ihm keine der beiden Möglichkeiten.
Der Neuankömmling trug einen dunkelblauen, perfekt sitzenden Anzug und hielt einen schlanken Gehstock mit silbernem Knauf in seiner Hand. Seine schulterlangen Haare waren im Nacken zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Da sich Blond und Grau einen erbitterten Stellungskrieg auf seinem Kopf zu liefern schienen, schätzte Grayson den Mann auf mindestens Ende vierzig. Das glatt rasierte, makellos gepflegte Gesicht mit den markanten Linien unterstützte seine Einschätzung.
Nachdem sich beide einige Sekunden schweigend abgeschätzt hatten, der eine immer noch lächelnd, der andere finster dreinblickend, brach der blonde Mann das Schweigen.
»Mein lieber Mr. Steel, Sie wissen wirklich, wie man sich in Schwierigkeiten bringt, nicht wahr?«
Er schien ernsthaft amüsiert von Graysons Lage zu sein, ohne jedoch Häme zu zeigen. Einer der Typen, für die alles nur ein Spiel ist, entschied Grayson und beschloss, nicht mitzuspielen. Alles an dem Kerl schrie nach Privatschule, Eliteuni und Absprachen in verräucherten Privatclubs. Er schwieg den Mann weiter an und wartete ab.
Der zog kurz die Augenbrauen hoch und fuhr dann, immer noch lächelnd, fort: »Ich entschuldige mich aufrichtig, ich sollte mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Morgan Worthington, ich bin im weitesten Sinne des Wortes so etwas wie Ihr Anwalt.« Bei der Formulierung entspannte Grayson sich ein wenig. Der Mann war anscheinend ein Unterhändler, jemand, der einen Deal anbot, damit alles schnell und leise über die Bühne gehen konnte. Es schien, als hätte er doch noch ein, zwei Freunde an den richtigen Stellen.
»Zuerst sollten Sie zwei Dinge wissen. Erstens, ich kann Sie hier herausholen. Und zweitens, für Sie wahrscheinlich noch wichtiger: Ich weiß, was auf dem Parkplatz passiert ist«, fuhr der Anwalt fort.
»Wirklich? Dann erzählen Sie mal, Mr. Worthington. Ich habe nämlich noch keine Aussage getätigt, und die einzige andere Person, die anwesend war, liegt in der Leichenhalle.« Demonstrativ lehnte Grayson sich zurück und blickte den anderen Mann erwartungsvoll an.
Der schürzte die Lippen und nickte nachdenklich vor sich hin. Das erste Mal, seit er eingetreten war, ließ seine spürbare Aura der Selbstsicherheit ein wenig nach. Nach zwei Sekunden schien er jedoch einen Entschluss gefasst zu haben. Er tippte mit dem Knauf seines Gehstocks kurz gegen das Türschloss, das ein Klicken von sich gab. Dann kam er zu Grayson herüber, blieb aber auf der anderen Seite des Tisches stehen, den Stuhl ignorierend.
Merklich leiser begann er, mit seiner weichen, kraftvollen Stimme zu sprechen: »Sie wurden auf dem Parkplatz von einer spindeldürren Kreatur angegriffen, die übermenschliche Kräfte und Schnelligkeit besaß und zwei Meter oder größer war. Ihre Hände liefen in Krallen aus, die Augen waren die eines Raubtieres. Vor dem Angriff stieß sie erst ein Heulen, dann einen Schrei aus. Nachdem Sie sie bewundernswerterweise besiegt hatten, verwandelte sie sich in ihre menschliche Gestalt zurück. Trifft diese Darstellung in etwa zu?«
Grayson hatte sich bei diesen Worten immer mehr versteift und starrte sein Gegenüber nun fassungslos an. War er dort gewesen? Hatte er alles mit angesehen? Egal, selbst als Zeuge könnte er mich bei so einer Geschichte niemals entlasten, ging es ihm rasend schnell durch den Kopf. Laut sagte er nur: »Und wenn es so war? Keiner wird mir glauben. Was Sie da gerade beschrieben haben, existiert nicht.«
Ihn erschreckte die Müdigkeit, die in seinen eigenen Worten mitschwang. Erst jetzt wurde Grayson klar, wie sehr er sich selbst in den letzten Stunden aufgegeben hatte.
Morgan lehnte sich mit beiden Händen auf den Knauf seines Gehstocks und beugte sich vor. Seine Stimme nahm einen gelehrtenhaften Tonfall an. »Mr. Steel, hören Sie mir jetzt gut zu. Das Wesen, das Sie getötet haben, war eine Banshee. Diese Kreaturen ernähren sich von der Furcht, die ihr Heulen in anderen Lebewesen hervorruft. Die Opfer sterben meist dabei, so wie die unglückliche Miss Arling vorletzte Nacht. Wer überlebt, bleibt schwer traumatisiert zurück und erholt sich niemals völlig, da die Hirnchemie während des Schreis verrücktspielt und dieser irreparable Schäden verursacht. Wenn sie zum Kampf gezwungen werden, können sie kurzfristig die Gestalt annehmen, die Sie auf dem Parkplatz gesehen haben. Den Rest der Zeit erscheinen sie als alte Frauen. Sie tragen meist lange Lumpen, die dem massiven Größenunterschied ihrer beiden Formen geschuldet sind.«
Hier unterbrach er sich und starrte Grayson durchdringend in die Augen. »Eigentlich müssten Sie tot sein, wenn nicht durch den Gesang, den Sie als Heulen wahrgenommen haben, dann durch den nachfolgenden Schrei, der Lebewesen im unmittelbaren Umfeld einer Banshee lähmt oder tötet. Über ihre Furiengestalt sind Fälle dokumentiert, in denen eine Banshee sechs ausgebildete Kontrahenten besiegt hat und immer noch flüchten konnte. Selbst wenn man Ihre besondere Situation bedenkt, ist es eine beachtliche Leistung, dass Sie überlebt haben. Sie können stolz auf sich sein, diese Banshee war eine Mörderin, deren Opferzahl sicherlich im dreistelligen Bereich lag.« Als er fertig war, lächelte er Grayson wieder aufmunternd zu und wartete dessen Reaktion ab.
Der atmete ein paarmal tief durch und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er war sich nicht sicher, was er von dem Mann halten sollte, der da lächelnd vor ihm stand und derart skurriles Zeug von sich gab. Morgan Worthington schien von den Dingen, die er gerade gesagt hatte, vollkommen überzeugt zu sein. Entweder war er ein hervorragender Schauspieler und das alles war nur ein kompliziertes Komplott, um Grayson aus dem Verkehr zu ziehen, oder der Kerl war vollkommen übergeschnappt.
Oder er sagte die Wahrheit, genau wie Rudvig Straage.
Grayson ging die Möglichkeiten in seinem Kopf durch. Ein Komplott würde bedeuten, dass jemand den skurrilen Mord an Caren inszeniert, Grayson unter Drogen gesetzt und jedes andere Detail der letzten achtundvierzig Stunden sorgfältig durchchoreografiert hatte, um ihn loszuwerden. Ziemlich viel Aufwand, wenn man bedachte, dass eine Fünfzig-Pfund-Note und ein Bild von Grayson auch ausgereicht hätten, damit ihm irgendein Junkie die Birne wegpustete. Die Sache mit dem Wahnsinn war da schon plausibler, schließlich konnte Grayson sich den Mann, der vor ihm stand, auch einfach einbilden, um seine Tat, die er an irgendeiner armen alten Frau begangen hatte, vor sich selbst zu rechtfertigen. Das würde den ganzen mysteriösen Kram erklären, den er durchlebt hatte. Aber er fühlte sich nicht verrückt. War das auch ein Zeichen von Verrücktheit? Das brachte ihn nicht weiter. Wenn er dermaßen psychisch gestört war, dann, so entschied Grayson, war ihm eh nicht mehr zu helfen. Also konzentrierte er sich auf die letzte Möglichkeit. Dieser elegante Mann im Anzug sagte ebenso die Wahrheit wie der seltsame Mr. Straage, so unglaublich sie auch klingen mochte.
Grayson beschloss, das zu tun, was er am besten konnte, nämlich Fragen stellen, um so die Geschichte seines Gegenübers auf die Probe zu stellen. Er würde ihn also wie einen Verdächtigen behandeln.
»Also gut, tun wir einmal so, als würde ich Ihnen weiter zuhören, Mr. Worthington. Was meinten Sie dann mit ›meine besondere Situation‹?«, stellte er die erste Frage, die ihm in den Sinn kam.
Frustrierenderweise antwortete Morgan mit einer Gegenfrage: »Hat die Banshee irgendetwas zu Ihnen gesagt, als Sie ihr begegnet sind?«
Unwirsch brummte Grayson: »Nein, hat sie nicht. Warum sollte das …?« Eine blasse Erinnerung an die Momente vor dem Kampf blitzte auf und er sagte: »Irgendwas, das wie ›Lakukus‹ oder so klang.«
Morgan nickte zufrieden: »Das Wort, das Sie meinen, ist ›Lacunus‹, abgeleitet aus dem lateinischen Wort für Lücke. Damit bezeichnet man Personen, die wie Sie die Fähigkeit besitzen, magischen Einflüssen jedweder Art in besonderem Maße zu widerstehen. Deswegen konnte Ihnen das Heulen der Banshee nichts anhaben, und auch der Todesschrei zeigte bei Ihnen nur eine extrem schwache Wirkung. Ihre Bauchverletzungen sind daher so oberflächlich, weil die Banshee immer langsamer und schwächer wurde, je mehr Körperkontakt sie mit Ihnen hatte. Als sie sich auf Sie setzte und alle zehn Finger in Sie bohrte, muss sie das unglaublich geschwächt haben. Daher konnten Sie sie auch mit Ihrer Dienstwaffe töten. Die Haut einer Banshee ist eigentlich extrem widerstandsfähig.«
Grayson rieb sich den Hals und antwortete: »Also besonders schwach kam sie mir nicht vor.«
»Schwach ist hier relativ zu sehen, Mr. Steel. Für menschliche Verhältnisse war sie sicherlich noch sehr kräftig, aber im Vergleich zu ihren normalen Fähigkeiten war sie schwach, glauben Sie mir. Glücklicherweise wusste sie nicht, wie man mit einem Lacunus fertig wird und hat entscheidende Fehler begangen«, erklärte Morgan.
Die nächste Frage, die Grayson stellte, war grundsätzlich seine Lieblingsfrage in einem Verhör oder bei einer Ermittlung. Mit ihr wurden Informanten zu Verdächtigen und umgekehrt. Heute hatte er zum ersten Mal ein wenig Angst davor, sie zu stellen.
»Können Sie irgendetwas davon beweisen, Mr. Worthington?«
Die Reaktion des blonden Mannes war so ganz anders, als Grayson vermutet hätte. Er strahlte den Gefangenen an und klatschte einmal in die Hände: »Ich bin so froh, dass Sie das fragen, Mr. Steel. Zufälligerweise habe ich eine kleine Demonstration vorbereitet. Als Zeichen meines guten Willens habe ich sie dergestalt ausgewählt, dass sie direkt eine weitere Ihrer brennenden Fragen beantworten wird.« Dann lächelte er, als hätte er gerade einen besonders guten Witz gemacht. »Ihnen ist die Akte 97-GR-56723422 sicherlich ein Begriff?«
Fall Nummer Vier, schoss es Grayson durch den Kopf. Der Mann, der in einem geschlossenen Zimmer, das von innen verriegelt war, völlig ohne Brandbeschleuniger oder sichtbare äußere Einwirkungen verbrannt war. Grayson konnte nur stumm nicken.
»Gut. Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit bitte dort hinüber richten würden.« Morgan deutete mit einer eleganten Geste in eine Ecke des Verhörraums, und Grayson blickte irritiert auf die angezeigte Stelle. Zuerst tat sich dort gar nichts, aber dann sah er ein Flimmern in der Luft, das schnell stärker wurde. Auf einmal erschien mit einem lauten Knistern, das wie ein in sich zusammenbrechendes, großes Lagerfeuer klang, eine mannshohe Flammensäule. Grayson zuckte zurück, aber sein Gegenüber blieb ganz entspannt, sodass er nach einigen Sekunden begann, das Gebilde fasziniert zu betrachten. Die Flammen schienen drei Handbreit über dem Boden aus dem Nichts zu entstehen und aufzulodern, nur um exakt mit dem gleichen Abstand zur Decke wieder zu verschwinden. Rauch stieg nicht auf, aber die Hitze spürte Grayson auch über mehrere Meter hinweg. Als Grayson länger hinsah, bemerkte er immer wieder ein kurzes Aufflackern in der Mitte der Säule, helle und dunklere Stellen in den Flammen, die für Sekundenbruchteile die skizzenhaften Züge eines menschenähnlichen Gesichts zeigten. Während Grayson völlig gebannt das Schauspiel betrachtete, das sich ihm dort bot, hörte er die Stimme Mr. Worthingtons: »Dies ist ein Feuerelementar. Normalerweise sind sie etwas ungezügelter und weniger eingeschränkt, aber ich möchte ungern unerklärliche Beweise mitten im Hauptquartier von Scotland Yard hinterlassen, meinen Sie nicht auch?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort: »Ihr damaliges Opfer hatte die rachsüchtige Aufmerksamkeit eines Magus, wie ich einer bin, erregt. Er schickte in einem impulsiven Anfall einen dieser Elementare los. Leider befolgen sie ihre Befehle immer sehr genau und sind nicht für Eigeninitiative bekannt, und so verwischte der betreffende Elementar seine Spuren nicht. Bis wir am Tatort eintrafen, war leider schon die Polizei vor Ort. Wir hatten gehofft, dass der Vorfall zu den Akten gelegt werden würde, wenn die Ermittlungen ins Stocken gerieten. Mit Ihrer Hartnäckigkeit hatten wir damals noch nicht gerechnet. Und das meine ich als Kompliment.«
Langsam besiegte Graysons Neugier seine Fassungslosigkeit. Er konnte noch immer die Hitze auf der Haut spüren. Das Ding war echt! »Kann ich näher herangehen?«, fragte er.
Kurz zögerte der Magus. »In Ordnung. Dann können wir direkt eine weitere Demonstration hinter uns bringen. Nur Mut, der Elementar ist für Sie in seinem jetzigen Zustand vollkommen ungefährlich.«
Zögernd stand Grayson auf und ging langsam auf die Flammensäule zu. Die Hitze wuchs zwar beständig an, war aber auch aus einem Meter Entfernung noch erträglich, obwohl ihm der Schweiß aus allen Poren brach. Als er vorsichtig seine Hände ausstreckte, bemerkte er, wie die Flammen sich krümmten, als ob sie ihm ausweichen wollten. Grayson beschloss, seine gefesselten Hände blitzschnell durch die Flammen zu ziehen, wie man es bei einem Lagerfeuer tat, um anzugeben. Er musste unbedingt sichergehen, dass er sich dies hier nicht einbildete. Als er seine Hände in einem seitlichen Bogen vor seinem Körper entlangrasen ließ und sie die Flammen berührten, verschwand die komplette Feuersäule mit einem leisen Knall. Die Wärme erlosch ebenso plötzlich, und der Schweiß auf Graysons Haut fühlte sich plötzlich sehr kalt und klamm an. Hinter sich hörte er ein ersticktes Keuchen. Schnell drehte er sich um und sah, wie sich Morgan mühsam auf den Beinen hielt. Eine Hand am Gehstock, die andere schwer auf den Tisch gestützt, lief ihm ein wenig Blut aus der Nase und sein Gesicht war kreidebleich. Mühsam brachte er hervor: »Wie ich schon sagte, Sie heben magische Effekte auf oder schwächen sie zumindest stark ab. Ein derart gefesselter Elementar hatte keine Chance gegen Ihre Begabung.« Er wischte sich das Blut mit einer Hand von der Nase. »Leider hat eine solch gewaltsame Bannung immer nachteilige Auswirkung auf den Erschaffer des Effekts.«
»Das tut mir wirklich leid«, begann Grayson. »Wie sollte ich das auch wissen …«
»Exakt. Deswegen war diese Demonstration notwendig, damit Sie zumindest grob einschätzen können, was für Auswirkungen Sie hervorrufen können. Jetzt können Sie vielleicht etwas besser verstehen, wie sehr Sie die Banshee geschwächt haben müssen.«
Nachdenklich ließ sich Grayson wieder auf seinen Stuhl sinken. Morgan tat es ihm gleich und holte ein Taschentuch hervor, mit dem er sich Gesicht und Hand reinigte. Grayson würde wohl oder übel erst einmal akzeptieren müssen, dass Morgan Recht hatte mit all seinem Gerede von Magie, Lacunus und Banshees. Irgendwie fühlte er sich betrogen. Jahrelang hatte er nach einer Lösung für die Seltsamen Sieben gesucht, dabei hätte er diese Fälle niemals lösen können, da die Grundlage seiner Ermittlungen auf völlig falschen Tatsachen beruht hatte.
»Die anderen sechs Fälle, an denen ich schon so lange arbeite, sind die auch …?«, brachte er mit heiserer Stimme hervor. Er wehrte sich dagegen, das Wort »magisch« zu benutzen, aber Morgan schien zu spüren, was in ihm vorging und antwortete mit beruhigendem Tonfall: »Ja, allerdings. Als wir vor einigen Jahren darauf aufmerksam wurden, dass es da einen Mundanen gab, der all die ungelösten Fälle auf den Tisch bekam und weiter bearbeitete, wurde eigens für London eine zusätzliche Interventionseinheit zusammengestellt, damit nicht noch mehr Ausrutscher in Ihre Hände gelangen konnten. Ich werde Ihnen gerne später die Hintergründe zu allen sieben Fällen ausführlich erläutern.«
Erschöpft fuhr sich Grayson durchs Haar. Erleichterung und Müdigkeit rangen in seinem Inneren um die Vorherrschaft. Die Seltsamen Sieben waren jahrelang ein fester Bestandteil seines Lebens, seiner Psyche gewesen, und nun löste sich dieser wichtige Baustein einfach in Luft auf. Andererseits war damit auch eine riesige Belastung von ihm genommen worden. Oft hatte er Selbstzweifel verspürt, weil er nicht weiterkam, hatte sich körperlich und geistig über seine Grenzen hinaus getrieben, um zumindest bei einem der Fälle einen Durchbruch zu erzielen. In Graysons Kosmos waren diese Erkenntnisse momentan wichtiger, als die Offenbarung, dass Magie tatsächlich existierte.
Er riss sich zusammen und stellte sich wieder dem Hier und Jetzt. Wenn er die Informationen des Anderen als wahr akzeptierte, dann ergab sein jüngster Fall deutlich mehr Sinn. Jahrelange Instinkte übernahmen die Führung, und Grayson lief wie auf Autopilot, als er sagte: »Die Bannmünze sollte Caren Arling in die Sackgasse locken, richtig?« Morgan nickte ihm ermutigend zu. »Aber warum wurde sie dann schon in der Nebenstraße getötet, wo sie viel früher gefunden wurde? Das ergibt keinen Sinn.« Grayson fuhr sich mit der Hand über den Kopf, wie er es immer tat, wenn er intensiv über einen Fall nachdachte. Seine Fesseln klirrten dabei. Der Magus antwortete ihm: »Das liegt an der Bannmünze. Sie ist zwar ein mächtiges Werkzeug, aber der Bann muss höchst präzise eingraviert werden. Ich denke nicht, dass die Banshee die Bannmünze selbst hergestellt hat, sondern ein Dritter. Der Zauber sollte das Opfer in die Sackgasse locken, wo sie ihr Versteck hatte. Vielleicht eine der verlassenen Garagen dort. Aber der Zielort war zu ungenau bestimmt, wahrscheinlich weil der Erschaffer des Banns niemals vor Ort gewesen ist oder weil er unsauber gearbeitet hat. Also ließ die Wirkung einige Meter früher nach.«
Grayson schloss die Augen und rief sich den Tatort ins Gedächtnis. »Die Banshee musste also handeln, als der Zauber nachließ. Aber warum hat sie das Opfer nicht einfach in die Sackgasse gezerrt?«
Morgan schüttelte den Kopf. »So funktioniert das nicht. Banshees ernähren sich von der Furcht ihrer Opfer, der negativen Energie in der Aura. Als Caren starb, musste sie sofort ›fressen‹, oder es wäre nichts mehr da gewesen. Ich denke, sie wurde gestört, bevor sie fertig war, denn eigentlich entsorgen Banshees die Leichen ihrer Opfer immer. Und die kostbare Bannmünze hätte sie sonst auch nicht zurückgelassen. Für diese Wesen ist es in der heutigen Zeit glücklicherweise sehr schwer geworden zu jagen. Daher hat sie wohl auch versucht, sich mit einer Bannmünze zu behelfen. Irgendwo schön weit weg vom eigenen Revier ein Opfer in der Menge aussuchen und dann zu Hause auf das Essen warten, das bereitwillig zu einem kommt.«
Grayson nickte zufrieden, die wichtigsten Fragen zu dem Fall waren beantwortet.
»Dann gilt es vorerst nur noch eines zu klären: Warum erzählen Sie mir das und was wollen Sie von mir?«, fragte Grayson misstrauisch. Eigentlich war dies die wichtigste Frage von allen, denn er wusste, nichts war ohne Preis.
Morgan beendete seine Reinigung mit eleganten, sparsamen Bewegungen und steckte das blutverschmierte Taschentuch geziert ein. Dann richtete er sich auf und wirkte auf einmal einschüchternd offiziell: »Ich bin gekommen, um Sie um Ihre Hilfe zu bitten. Ich repräsentiere ein Gremium, welches die Einhaltung unserer besonderen Gesetze durchsetzt und im Falle von Verstößen ermittelt. Man könnte uns als Ermittlungsbehörde betrachten, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn die weltlichen Einsatzkräfte im Nachteil wären, so wie bei Ihren sieben Fällen. Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, solange ich keine Zusage von Ihnen habe und außerdem läuft uns die Zeit davon.«
Das erste Mal nahm Grayson bei dem Magier so etwas wie Unruhe wahr. Selbst als er vorhin durch die Bannung seines Zaubers verletzt worden war, hatte er noch unerschütterliche Ruhe und Gelassenheit ausgestrahlt.
»Warum ich?«, hakte Grayson nach.
»Sie sind dafür prädestiniert, derartige Ermittlungen zu leiten. Sie haben eine hervorragende Erfolgsquote bei all Ihren mundanen Fällen, jahrelange Erfahrung, Durchhaltevermögen und Ihre außergewöhnlich stark ausgeprägte Fähigkeit der Magieresistenz. Bezauberung und Suggestion werden bei Ihnen nicht wirken, Illusionen werden Sie nicht täuschen. Leute wie Sie, die leider viel zu selten sind, wurden im Laufe der Jahrhunderte immer wieder erfolgreich in der magischen Verbrechensbekämpfung eingesetzt. Ich nutze dieses Wort nur selten, aber Sie sind perfekt für den Job.«
Morgan strahlte ihn an und Grayson war sich fast sicher, dass er es ehrlich meinte. Das Problem war nur: Es war ihm egal. All die Offenbarungen und Enthüllungen, die seltsamen Begebenheiten und vielen Worte. Es spielte alles einfach keine Rolle mehr. So wie seine Ermittlungen in den letzten Jahren keine Rolle mehr spielten. Er fühlte sich einfach nur noch leer.
»Warum sollte ich Ihnen helfen? Holen Sie mich sonst nicht hier raus? Beginnt unsere Zusammenarbeit mit einer Erpressung?« Grayson bemerkte, dass sein Tonfall viel beißender war als beabsichtigt. Der Frust ließ ihn zwischen Zorn und Resignation schwanken.
Morgan schien das jedoch kaum zu bemerken. Echte Sorge stand auf seinem Gesicht, als er antwortete: »Mr. Steel, Ihre Freilassung wurde bereits in die Wege geleitet. Egal wie Sie sich entscheiden, Sie können gehen. Ich werde vor dem Eingang des Gebäudes eine Stunde auf Sie warten. Kommen Sie heraus, oder lassen Sie es bleiben, wie es Ihnen gefällt.«
Zum ersten Mal wirkte seine Freundlichkeit und Unverbindlichkeit wie weggeblasen, und er offenbarte stattdessen einen starken Willen und energische Zielstrebigkeit. Er drehte sich um und ging Richtung Tür. Auf halbem Wege blieb er noch einmal stehen und schaute über seine Schulter: »Ich will aber noch Ihre Frage nach dem Sinn Ihrer Hilfe beantworten. Bisher haben Sie immer nur Verbrecher dingfest gemacht, nachdem sie gemordet oder verletzt hatten. Ich biete Ihnen die Chance, ein Verbrechen zu verhindern. Ein Kind wurde entführt und sein Tod ist hochwahrscheinlich. Sie könnten uns dabei helfen, dieses Kind zu retten. Denken Sie darüber nach, aber nicht zu lange. Sie werden sicherlich verstehen, dass ich in dieser Situation nicht viel Zeit für Ihr Selbstmitleid übrig habe. Ich habe Sie nur besucht, weil ich glaube, dass es sich lohnt. Für Sie. Für uns. Und für das Kind.« Dann ging er zur Tür und tippte mit dem Knauf des Gehstocks nochmals dagegen. Es klickte wieder und sie öffnete sich, nur um die verdutzten Gesichter zweier Beamter und eines Haustechnikers zu offenbaren.
»Wir dachten, die Tür würde klemmen. Wir versuchen schon seit einer Viertelstunde, sie zu öffnen«, hörte Grayson vom Flur. Morgan schob sich an den Männern vorbei und antwortete: »Manchmal reicht ein beherzter Ruck, meine Herren. Einen schönen Tag noch.«
Grayson blieb, wo er war und wartete, bis die zwei Beamten vor der Tür, die ihn auch schon aus dem Krankenhaus abgeholt hatten, den Raum betraten. Der Haustechniker kratzte sich unschlüssig am Kopf, testete noch einmal das Türschloss, packte sein Werkzeug wieder ein und ging.
»Steel, kein Wunder, dass Sie nichts sagen wollten. Mir wäre das auch peinlich, von einer Oma auf Speed auseinandergenommen zu werden«, sagte einer der beiden Polizisten vor ihm in jovialem Tonfall. Die Kollegen schauten ihn überraschend freundlich an und feixten dabei.
»Wie bitte?«, fragte Grayson vorsichtig. Jetzt nur keinen Fehler machen, dachte er.
»Der toxikologische Befund, den Gilford gemacht hat, ist da. Sie waren sauber, aber die alte Schachtel war bis unter die Hutschnur vollgepumpt mit allem, was stark und wütend macht. Zusammen mit dem Blut unter ihren Fingernägeln, das von Ihnen stammt, ist der Fall eindeutig. Die interne Abteilung hat einen Rückzieher gemacht und erwartet nur noch einen ausführlichen schriftlichen Bericht von Ihnen. Sie können gehen.« Einer von ihnen schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter und unter belanglosen Scherzen über Polizisten, die sich von Großmüttern verprügeln ließen, öffneten sie seine Handschellen und verließen den Raum.
Für einige Zeit saß Grayson einfach nur regungslos da. Dann stand er schnell auf und ging zur Tür, halb erwartete er eine Falle. Niemand auf dem Flur, alles ruhig, jeder ging seiner Arbeit nach. Er trat aus dem Verhörraum und ging zu seinem Büro. Keiner schenkte ihm große Beachtung, nur ein feixendes Grinsen oder ein freundliches Lächeln hier und da. Durch die Scheibe der Tür sah er, dass alles in dem kleinen Raum so war, wie er es hinterlassen hatte. Ein kreatives Chaos beherrschte seinen Schreibtisch und er wusste, dass es in jeder einzelnen Schublade da drinnen nicht anders aussah. Die Wände waren übersät mit Hinweisen, Zeitungsausschnitten, Tatortfotos und Zeugenaussagen, mit allem, was mit den Seltsamen Sieben zusammenhing. Nun, da er mit einer Wahrheit konfrontiert worden war, die all dies erklärte, wirkte der Raum wie der Arbeitsplatz eines Fremden, eines Unwissenden, der sich an eine falsche Wirklichkeit klammerte. Die Begegnungen mit der Banshee und dem Feuerelementar hatten Grayson jedoch eines Besseren belehrt. Seine Hand ruhte auf der Türklinke, aber er konnte sich nicht überwinden, hineinzugehen und alles abzuräumen. Es war nicht mehr wichtig. Die Seltsamen Sieben hatten sich erledigt, und bei der Vorstellung die nächsten Stunden damit zu verbringen, seinen Bericht in dreifacher Ausfertigung zu schreiben, verzog er angewidert das Gesicht.
Stattdessen hatte ein anderer Gedanke den Platz der Sieben in seinem Kopf eingenommen. »Sie könnten uns dabei helfen, dieses Kind zu retten«, hatte Morgan gesagt. Die Aussicht darauf, ein unschuldiges Leben zu beschützen, zog ihn an wie ein Fanal, ein Leuchtfeuer in einem Meer aus Formalitäten und Bürokratie. Grayson drehte sich um und ging, alles um ihn ignorierend, zum Haupteingang hinaus.
Morgan wartete mit einem fragenden Gesichtsausdruck auf ihn, zwei Meter von der Eingangstür entfernt. Grayson stellte sich vor ihn, blickte ihm ernst in die Augen und sagte: »Erst muss ich wissen, worauf ich mich da einlasse. Ich will alles, wirklich alles wissen. Über die verdammte Münze, wer Sie sind, für wen Sie arbeiten. Wenn Sie mich danach überzeugt haben, helfe ich Ihnen.« Er streckte dem Magier seine Hand entgegen. Der griff ohne zu zögern zu und sagte mit ehrlicher Erleichterung in der Stimme: »Einverstanden. Sie haben sich richtig entschieden.«
Morgan begann, die Straße entlang zu gehen, und der Ermittler folgte ihm. »Sie werden einige grundlegende Informationen sofort bekommen, danach müssen wir dringend weiter ermitteln. Die restlichen Lücken werde ich später füllen.«
Anscheinend war der aristokratisch anmutende Mann sich sicher, Grayson für sich gewinnen zu können. Schon wollte der den Enthusiasmus des Magiers bremsen, aber dann sagte er etwas, durch das er Grayson spontan viel sympathischer wurde: »Ich erkläre Ihnen alles Nötige bei einem Kaffee.«