Читать книгу Nebula Convicto. Grayson Steel und der Verhangene Rat von London. Band 1 (Fantasy) - Torsten Weitze - Страница 7

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Eine wehrhafte Bettlerin

London, New Scotland Yard, City of Westminster, Dienstag, 11. Oktober, 15.25 Uhr

Zwei Stunden später ging einem durchnässten, frierenden und geistig ausgelaugten Grayson vieles durch den Kopf, aber ein Gedanke erfüllte seinen Geist mit scharfer Klarheit: Hätte ich doch nur den Kaffee ausgetrunken.

Während er die teerartige Masse herunterwürgte, die Gilford im Autopsielabor zu trinken pflegte, musste er wehmütig an die halbe Tasse perfekten Genusses denken, die er bei Rudvig Straage hatte stehen lassen. Nachdem er die Plymouth Road verlassen hatte, war Grayson erst einmal aufs Revier gefahren, um sich dort nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen und die gesicherten Spuren von der Oberfläche der Münze untersuchen zu lassen. Seine Kolleginnen und Kollegen waren in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen. Suchstreifen hatten die Brieftasche des Opfers zwei Straßen vom Tatort entfernt in einem Mülleimer aufgefunden und man wusste nun, dass es sich bei der Toten um eine gewisse Caren Arling handelte, die Abteilungsleiterin einer größeren Marketingfirma gewesen war. Nach ihrer erfolgreichen Identifizierung hatte man auch ihren Wagen, zehn Meter vom Tatort entfernt auf der Hauptstraße parkend, zuordnen können. Bisherige Nachforschungen hatten keine Kontakte zu jemandem oder etwas in der Nähe des Tatorts zu Tage gefördert, so dass immer noch ungeklärt war, was sie dort mitten in der Nacht gesucht hatte.

Es sei denn, Straage hatte Recht und die Münze hat sie dazu gezwungen. Schnell unterdrückte Grayson den Gedanken. Ihre letzte Kreditkartenaktivität hatte am späten Montagabend stattgefunden, und zwar in der Westfield Mall bei Shepherd Bush. Danach war sie weder von ihrem Mann noch von einer ihrer Freundinnen gesehen oder gehört worden. Grayson hatte sich gerade auf den Weg zu dem riesigen, modernen Einkaufszentrum machen wollen, um sich dort die Überwachungsaufnahmen anzusehen, als Gilford ihn per Telefon hatte wissen lassen, dass die Autopsie beendet war. Also stand Grayson nun hier im rechtsmedizinischen Flügel des Gebäudes, trauerte um den entgangenen Kaffee des Händlers und wartete darauf, dass Gilford soweit war. Der Mann konnte furchtbar akribisch sein und äußerte sich erst zu einem Vorgang, wenn er ihn vorher niedergeschrieben hatte. Jetzt schaute der Ermittler ihm dabei zu und versuchte, ihn mit schierer Willenskraft dazu zu bringen, endlich fertig zu werden. Grayson wusste, dass jedwede aktive Drängelei seinerseits nur dazu führte, dass es noch länger dauerte. Hier, in seinem Reich, war Gilford unerbittlich. Grayson ging daher hinüber zur Leiche, die hinter einem Sichtschirm auf dem Untersuchungstisch lag, und betrachtete noch einmal das Gesicht des Opfers. Obwohl er sich zwang, länger hinzusehen als ihm lieb war, konnte er keine neuen Hinweise entdecken. Nur das Gefühl der Angst und des Entsetzens schien mit jedem Augenblick stärker zu werden, so als würde es in seine Knochen einsickern und seinen Körper von innen heraus mit einer lähmenden Kälte überziehen.

Mit einem lauten Ruck zog Gilford den Sichtschirm hinter ihm zur Seite und erschreckte Grayson derart, dass er schon eine Hand an der Dienstwaffe hatte, bevor er sich zusammenreißen konnte.

Der Rechtsmediziner schaute ihn finster an und brummte: »Harter Tag, Inspector Steel?«

»Sie haben ja keine Ahnung«, erwiderte Grayson und hob beide Hände in einer entschuldigenden Geste.

Gilford zuckte die Achseln. »Wie auch immer. Nun zu unserem Opfer: Die Todesursache war definitiv Herzversagen. Da ihre medizinische Vorgeschichte keinerlei Vorerkrankungen aufweist, die dies erklären könnten, musste ich genauere Untersuchungen vornehmen.«

Er hielt Grayson ein Blatt Papier entgegen, das ein Balkendiagramm zeigte. Einer der Balken überragte die anderen um ein Vielfaches.

»Ich habe auf bestimmte Substanzen getestet, weil Drogenkonsum nahelag. Obwohl meine Vermutung falsch war, förderte sie doch ein interessantes Ergebnis zu Tage.«

»Und zwar?«, hakte Grayson nach.

»Diese junge Frau hatte mehr Adrenalin im Körper, als ihr Herz verkraften konnte. Und wir reden hier von einer Menge, die auf natürlichem Wege nicht produziert werden kann. Oder besser gesagt, nicht produziert werden sollte. Als theoretisches Modell kann der menschliche Körper schon derart schnell so viel Adrenalin erzeugen, aber dann müssten schon ein halbes Dutzend Schutzfunktionen versagen.« Gilford schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Es schien plausibel, dass jemand ihr Adrenalin gespritzt hatte. Also habe ich nach Einstichstellen gesucht, um eine Außeneinwirkung nachzuweisen, ohne Erfolg.« Gilford ging hinüber zu seinen Unterlagen und holte ein Bild heraus, das das Innenohr des Opfers zeigte. »Aber hier ist noch eine Unregelmäßigkeit. Beide Trommelfelle weisen mikroskopisch kleine Risse und Einblutungen auf. Meine beste Theorie ist also, dass diese Frau einem starken akustischen Signal ausgesetzt worden ist. Und zwar einem, das sie derart in Furcht versetzte, dass sie daran starb.« Gilford zog eine Grimasse und blickte Grayson mit einem unzufriedenen Gesichtsausdruck an. »Eine bessere Erklärung habe ich nicht.«

»Sie wollen mir also sagen, sie hat etwas gehört, durch das sie sich zu Tode erschreckt hat?«, fragte Grayson ungläubig.

»Grob zusammengefasst, ja. Oder hier wurden Mittel eingesetzt, die ich mit meiner bescheidenen Ausrüstung nicht erfassen kann«, erwiderte Gilford gereizt.

Eines seiner liebsten Argumente war die eher durchschnittliche Technik, mit der sein Labor ausgestattet war. Er hatte schon mehrmals modernere und mehr Geräte angefordert, aber von den Summen, die allein eines dieser Instrumente kosten würde, konnte man drei Jahre lang einen Constable einstellen. Also wurde immer wieder entschieden, dass es keine weiteren Investitionen in die Rechtsmedizin geben würde. Trotz allem ließ sich Gilford nicht davon abbringen, immer wieder darauf hinzuweisen. Auch wenn Grayson seine Hartnäckigkeit bewunderte, war er es doch langsam müde, ständig davon zu hören. Und die Erkenntnisse des Doktors bezüglich des Falles waren auch nur bedingt hilfreich. Er hatte es also mit einer jungen Frau zu tun, die am Abend shoppen ging, von der Bildfläche verschwand und mitten in der Nacht in einer heruntergekommenen Gegend von einem mysteriösen Geräusch zu Tode erschreckt wurde. Und eine rätselhafte Münze, der ein kauziger Händler magische Kräfte unterstellte.

Also diesen Bericht würde nicht einmal ich abgeben, dachte Grayson. Und er war sich sicher, dass Gilford seinen Teil der kuriosen Erkenntnisse wieder mit mangelnder Ausrüstung erklären würde. Es muss schön sein, für alles eine Generalausrede zu haben. Laut sagte er: »Ich danke Ihnen für die Information. Ich fahre jetzt erst mal zum letzten bekannten Aufenthaltsort des Opfers, vielleicht kann ich auf den Überwachungsbändern noch was Sinnvolles erkennen.«

Sie verabschiedeten sich voneinander, und Grayson ging den langen, grau gestrichenen Flur entlang, der die Rechtsmedizin mit dem Rest des Gebäudes verband. Wenn er in der Mall auch nichts fand, war es offiziell: Dies wäre dann sein achter unerklärlicher Fall.

Grayson hielt in der Stille des dämmrigen Korridors inne und schlug fluchend mit der Faust gegen die Wand.

London, Westfield, Dienstag, 11. Oktober, 17.39 Uhr

Der Feierabendverkehr hatte ihn länger aufgehalten, als er befürchtet hatte, aber um diese Uhrzeit quer durch London zu gelangen, raubte immer zu viel Zeit. Mittlerweile ging es auf sechs Uhr abends zu und es waren heute leider unglaublich viele Leute in der Westfield Mall. So ansprechend die gläserne Fassade und die hellen Kacheln der Mall auch aussehen mochten, erinnerte Grayson die eckige Form doch stets an eine Fabrik. Selbst das Innere mit seinen geschwungenen Geländern und der modernen Architekur konnte der harten Realität seiner Besucher wenig entgegensetzen. Abgekämpfte Büroangestellte, die gehofft hatten, anzukommen, bevor es zu voll wurde, drängelten sich an entnervten Eltern vorbei, die es noch nicht geschafft hatten, alle Einkäufe des Tages zu erledigen und daher in den Mahlstrom der »zweiten Welle« gerieten, wie Grayson es gerne nannte. Das Ganze wurde gewürzt durch die allgegenwärtigen, umherstromernden Touristen, die ihre Reiseführer hergelockt hatten und die mitten im Strom der Menschen Erinnerungsfotos und Selfies schießen mussten. Das Resultat war eine gereizte Atmosphäre voller Frust, Müdigkeit und Hektik. Die Hintergrundmusik, die aus den Lautsprechern strömte und Frohsinn zu verbreiten suchte, erschien eher wie ein asynchrones Störsignal, stand sie doch im krassen Gegensatz zu der Erlebniswelt der meisten hier.

Grayson schob sich durch die Menge und wagte sich gar nicht vorzustellen, wie es hier wohl in der nahenden Vorweihnachtszeit zugehen mochte. Er selbst bestellte schon seit Jahren alles online und die Lebensmittel, die er nicht auswärts zu sich nahm, gab es in dem kleinen Laden an der Ecke. Wobei ihm gerade einfiel, dass er jetzt schon wieder über eine Woche nicht am Kühlschrank gewesen war. Dann also wieder alles wegwerfen, dachte er zerknirscht. Das war jetzt sein vierter Versuch, sich gesünder zu ernähren, der mit einer großen Mülltüte voll nicht genutzter Lebensmittel endete.

Vielleicht sollte er es einfach lassen. Oder kündigen.

Der Gedanke hatte nach diesem Tag etwas sehr Reizvolles, und der Ellbogen, den er gerade von einem vorbeihastenden Mitbürger in die Rippen bekam, bestärkte dieses Gefühl noch. Der Kerl warf Grayson einen bösen Blick zu, als ob es seine Schuld gewesen sei und verschwand in der Menge. Auch wenn er eher schlaksig war, hatte Grayson wenigstens den Vorteil seiner außerordentlichen Körpergröße von über einem Meter neunzig. Mit Schaudern stellte er sich vor, mit welchen Mühen sich hier ein kleingewachsener Mensch durchkämpfen musste. Endlich erspähte der Inspector eine blaue Schirmmütze in dem Getümmel und steuerte langsam auf den Sicherheitsmann zu.

Er holte seine Marke aus der Tasche und stellte sich vor. »Grayson Steel, Scotland Yard. Wo finde ich die Sicherheitszentrale des Gebäudes?«

Der Sicherheitsmann, eher noch ein Junge, nicht einmal in den Zwanzigern, deutete auf eine Tür, die etwa dreißig Meter entfernt lag. »Da vorne hinein, Sir. Ich bringe Sie hin, ohne Schlüsselkarte kommen Sie da nicht rein.«

Der junge Mann setzte sich in Bewegung, und die Menge teilte sich vor ihm in nahezu biblischem Sinne.

Ich sollte dringend noch einmal über die Vorteile einer Uniform nachdenken, ging es Grayson schon zum zweiten Mal an diesem Tag durch den Kopf. Er ging dicht hinter dem Wachmann her, denn die Menge schloss sich unmittelbar hinter ihm wieder, und Grayson hatte keinen Bedarf an weiteren Ellbogenstößen oder Schubsereien.

An der Tür angekommen, zog sein Vordermann die Schlüsselkarte durch und hielt Grayson die Tür auf. »Die Treppe hoch, rechte Seite, zweite Tür. Einen schönen Abend noch, Sir.«

Grayson nickte ihm dankbar zu und stieg die Stufen empor. Mit einem leisen Klick rastete die Sicherheitstür hinter ihm wieder ein und der Lärm der Menschen und die Einkaufsmusik verschwanden wie durch Zauberhand. Grayson hielt inne, atmete zweimal tief durch und genoss die Stille. Zehn Minuten in diesem Hexenkessel und schon sehnte er sich nach Ruhe. Sein Nervenkostüm war wirklich dünn, und er beschloss, nach der Sichtung der Aufnahmen erst mal Feierabend zu machen und richtig auszuschlafen. Am oberen Ende der Treppe angekommen, stellte er fest, dass die Angestellten des Verwaltungsteils der Mall ihm in puncto Feierabend schon zuvorgekommen waren. Er blickte sich in dem freundlich gestalteten Büro mit den nun leeren Schreibtischen um und entdeckte auf der rechten Seite eine Tür mit der Aufschrift »Sicherheitsraum«. Grayson zog wieder seinen Ausweis hervor, klopfte an und öffnete die Tür. Drinnen saßen zwei überrascht dreinschauende Männer und eine Frau, die alle sehr entspannt in ihren Stühlen hingen. Offenbar hatten sie nicht mit Besuch gerechnet. Bei dem Anblick der Marke setzten sich der jüngere Mann und die Frau gerade hin, und der älteste der Sicherheitsleute stand auf, um Grayson zu begrüßen. Mitte vierzig, Vollbart, mit der Souveränität eines Menschen, der schon so lange seine Arbeit machte, dass alles zur Routine geworden war. »N’abend, Sir«, schnarrte er. »Arthur Millers. Wie können wir behilflich sein?« Er streckte seine Hand aus.

»Detective Chief Inspector Steel, ich ermittele in einem Mordfall. Das Opfer wurde hier zuletzt lebend gesehen. Ich würde gerne einen Blick auf die Überwachungsaufnahmen des gestrigen Abends werfen«, antworte Grayson, während er die Hand seines Gegenübers schüttelte.

»Kein Problem, kommen Sie mit.« Millers ging an Grayson vorbei und öffnete eine Tür mit der Aufschrift »Archiv«. Vor sich sah Grayson einen kleinen Raum, gefüllt mit mehreren Computerservern und einer einzelnen Überwachungsstation mit Monitor.

»Ich stelle den Startpunkt auf gestern Nachmittag ein. Dann können Sie mit diesen Reglern Zeit und Kamera einstellen. Da vorne liegt ein Übersichtsplan, dem Sie die Positionen der Kameras im Gebäude entnehmen können. Haben Sie noch Fragen?«

Grayson kannte diese Art System bereits und sagte daher: »Nur eine: War es gestern genauso voll wie heute?« Er hoffte inständig, die Antwort wäre Nein.

»Ja, wir haben gerade eine Rabattaktion in der gesamten Mall.«

Grayson stöhnte und sagte müde: »Dann habe ich noch eine Frage: Gibt es hier irgendwo Kaffee?«

Gute drei zermürbend lange Stunden später hatte Grayson Caren Arling endlich auf den Bändern entdeckt. Er folgte ihr auf ihrem Weg durch das Einkaufszentrum und konnte dabei nichts Ungewöhnliches feststellen. Sie hatte ein paar Schuhe und einige Kleidungsstücke eingekauft, in einem der Edelrestaurants auf der obersten Etage etwas gegessen und dann gegen zweiundzwanzig Uhr die Mall verlassen. Grayson studierte den Lageplan der Kameras und wurde glücklicherweise fündig. Auch die Parkplätze waren videoüberwacht, und nach weiteren zehn Minuten Suche hatte Grayson Caren wiedergefunden, wie sie gerade auf ihren Wagen zuschritt. Vielleicht war sie ja an ihrem Auto überfallen worden, obwohl das mehr als unwahrscheinlich war, denn Grayson konnte allein auf dieser Kameraaufnahme über zwanzig Menschen sehen. Um da unbemerkt einen Menschen zu irgendetwas zu zwingen, musste schon ein Team von Profis her, und das passte nicht zum Rest der Indizien. Er konzentrierte sich trotzdem weiter auf die Aufnahme. Etwa zwanzig Meter vom Wagen entfernt hielt Caren inne und bewegte sich aus dem Bild. Knapp dreißig Sekunden später erschien sie wieder und ging weiter auf ihr Auto zu. Aber Grayson war sich sicher, dass sich das Verhalten des Opfers verändert hatte. Ihr Gang war irgendwie hölzern, die Arme hingen teilnahmslos an ihr herab, so dass ihr die Einkaufstüten immer wieder um die Beine schlackerten. Mit mechanischen Bewegungen stieg sie ein und fuhr extrem langsam los. Was zur Hölle ist da gerade passiert?

Hektisch nahm er den Lageplan zur Hand und suchte eine andere Kamera, die ihm zeigte, wo Caren in diesen dreißig Sekunden gewesen war und was sie dort getan hatte. Er schaltete auf ein anderes Areal und stellte die entsprechende Zeit ein. Dann starrte er auf den Monitor und hielt den Atem an. Er war sich sicher, hier den Schlüssel zum Fall zu finden. Vielleicht hatte sie doch eine neue Designerdroge genommen? Traf sie hier ihren Dealer? Das würde zu Gilberts Theorie passen, dass seine Ausrüstung den Stoff vielleicht nicht erkennen konnte, weil sie veraltet war.

Nun kam Caren ins Bild. Sie ging auf eine alte Frau in Lumpen zu, die an der Wand hockte und mit einem Schild und einem Pappkarton um Almosen bettelte. Grayson sah, wie Caren in ihrer Brieftasche kramte und einen Schein hervorzog. Dann sagte sie etwas zu der alten Frau und hielt ihr den Schein hin. Es wurden einige Worte gewechselt, und dann griff die Bettlerin in den Pappkarton und holte etwas heraus. Caren wollte ablehnen und gehen, aber die sitzende Frau schien sie zu bedrängen. Das zukünftige Opfer griff zu und drehte sich um. Mit demselben hölzernen Gang, den Grayson schon vorher gesehen hatte, verschwand sie aus dem Bild. Die alte Frau schaute ihr mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck hinterher. Grayson hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand Eiswasser in die Venen gepumpt. Er spulte zurück und ließ die Übergabe in Zeitlupe laufen, bis Caren den Gegenstand entgegennahm. Dann stellte er auf Standbild und rückte so nah vor den Monitor, dass er dessen Hitze deutlich auf seinem Gesicht fühlen konnte. Er konnte gerade eben erkennen, was die alte Frau Caren in die Hand drückte: eine kleine Münze von der Größe einer Crown.

Unschlüssig betrachtete Grayson den Bildschirm, auf dem wieder das Standbild der Übergabe prangte. Er hatte die Szene etliche Male laufen lassen, in der Hoffnung, weitere Einzelheiten erkennen zu können, aber das gab die Aufnahmequalität nicht her. Vom Überreichen des Scheins und der Entgegennahme der Münze abgesehen, gab es keinen Kontakt zwischen den beiden Frauen. Grayson hatte gehofft, vielleicht einen Hinweis auf eine Injektion in Carens Hand seitens der Bettlerin zu bekommen. Das wäre zwar auch schon sehr abenteuerlich, aber immer noch besser als die einzige Schlussfolgerung, die sonst übrig blieb. Doch alles deutete darauf hin, dass die Münze der Auslöser des marionettenhaften Verhaltens war. Er hatte kurz an ein Gift gedacht, das auf die Oberfläche der Münze geschmiert worden war, aber die Bettlerin hatte keine Handschuhe getragen, und an ein vorher eingenommenes Gegenmittel glaubte Grayson nicht. Außerdem hätte Dr. Gilford dann Rückstände auf Carens Hand entdeckt. Wären der Vorfall in Straages Haus und dessen Worte nicht gewesen, würde er über die Möglichkeit noch nicht einmal nachdenken, aber so wie es aussah, schien Caren durch den Erhalt der Münze wirklich hypnotisiert worden zu sein. Ihm kam kurz der Gedanke, dass sie mit der Annahme des Wechselgeldes zur rechmäßigen Besitzerin der Münze geworden war, verdrängte ihn aber schnell wieder. Hypnose vielleicht, aber Magie? Auf keinen Fall. Nahm er die Theorie eines Trancezustands als wahr an, zweifelte Grayson nicht eine Sekunde daran, dass das Opfer schnurstracks zu dem Ort geeilt war, an dem man es gefunden hatte. Sogar die Sackgasse, die Grayson so perfekt als Tatort ausgewählt schien, ergab dann einen Sinn. Aber warum hatte der Mörder nicht gewartet, bis Caren dort angekommen war? Warum fünfzehn Meter vorher zuschlagen? Und womit?

Müde rieb sich Grayson über das Gesicht und trank den restlichen Kaffee aus. Der war zwar nur Durchschnitt, aber erfüllte zumindest seinen Zweck und ließ dankenswerterweise jedwede geschmackliche Entgleisung vermissen. Er schaltete den Monitor ab und erhob sich. Hier war nichts mehr zu holen. Morgen würde er zwei Kollegen zur Mall schicken, die nach der Bettlerin Ausschau hielten, und er selbst würde Rudvig Straage ein paar konkrete Fragen stellen. Vielleicht waren die Muster hypnotischer Natur, und man war für Suggestionen empfänglich, wenn man die Münze betrachtete. Immerhin hatte die alte Frau ja mit Caren gesprochen. Das wäre eine Erklärung, mit der Grayson leben könnte. Exotisch, aber nachvollziehbar. Wenn ihn nur nicht die leise Stimme in seinem Hinterkopf konstant an ein verwüstetes Zimmer und sein eigenes seltsames Verhalten bei Straage erinnern würde. Als er aufstand, wurde ihm erst einmal schwindelig. Erst jetzt merkte Grayson, wie sehr ihm das Summen der Server und die abgestandene Luft in den letzten drei Stunden zugesetzt hatten. Müdigkeit, bisher gebannt durch zu viel Kaffee, gesellte sich zu der nervlichen Belastung der Ereignisse des Tages und einer guten Portion Frust. Ein pochender Kopfschmerz hinter seinen Augen nahm immer mehr zu, und nun fühlte er sich einfach nur noch elend und müde. Grayson öffnete die Tür des Archives und trat in den Überwachungsraum. Aufgrund der späten Stunde war nur noch ein Sicherheitsmann im Raum, die Mall war vor einer Stunde geschlossen worden, und die Nachtschicht hatte übernommen. Der unbekannte Mann erhob sich und blickte ihn fragend an. »Fündig geworden?«

Zu erschöpft für Höflichkeiten, nickte Grayson nur und fragte: »Wie komme ich von hier aus schnell zum Parkplatz? Ich muss dringend ins Bett.«

Amüsiert winkte der andere ihn heran. »Ich bringe Sie hin.« Mit seinen Kopfschmerzen kämpfend ließ Grayson sich von dem Mann durch das Büro und einige Korridore und Türen führen, bis sie an einer doppelt gesicherten Metalltür ankamen. »Das hier ist der Eingang für den Geldtransporter. Hier kommen Sie sofort zum Parkplatz, ohne durch die Mall zu müssen«, erklärte er freundlich, während er aufschloss.

»Danke«, brachte Grayson hervor und schob sich an dem Mann vorbei ins Freie. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und er atmete erst mal tief durch, darauf hoffend, dass die kalte Nachtluft seine Lebensgeister ein wenig wecken würde. Er stand auf einem gut beleuchteten Sicherheitsparkplatz, auf dem die Geldtransporter ihre wertvolle Fracht entgegennahmen. Rechts ging es auf die Hauptstraße, linker Hand konnte Grayson die Symmetrie der leeren Reihen des Parkplatzes erkennen, nur unterbrochen durch einzelne Fahrzeuge, die noch ausharrten und auf ihre Besitzer warteten. Er machte einige Schritte auf den Parkplatz zu und versuchte, sich zu erinnern, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Dass schon wieder Nebel aufzog, half nicht dabei. Fluchend begann Grayson, systematisch den Parkplatz abzusuchen, da er sich in seinem erschöpften Zustand nicht an einen Bezugspunkt erinnern konnte, der ihm bei der Orientierung geholfen hätte. Während er langsam über den Parkplatz schritt und im dichter werdenden Nebel nach seinem Wagen Ausschau hielt, bemerkte er ein Geräusch, das langsam durch den Schmerz in seinem Kopf bis in sein Bewusstsein vordrang. Schritte, leise und verstohlen, die sich von hinten näherten. Er drehte sich um und sah eine kleine Gestalt, die noch knapp fünf Meter von ihm entfernt war. Sie kam ihm irgendwie vertraut vor, aber das diffuse Zwielicht der Parkplatzlaternen, das sich durch den mittlerweile dichten Nebel quälte, ließ keine klare Sicht zu. Als er sich zu ihr umgedreht hatte, war die Gestalt stehen geblieben und begann nun, langsam rückwärts in den Nebel zu gehen, um sich Graysons Blicken zu entziehen.

Ruhig bleiben, alter Junge, ermahnte sich Grayson, sich vor Augen führend, wie er selbst auf einen zufälligen Passanten wirken musste, der ihn im Nebel sah. Eine hagere, hochgewachsene Gestalt mit langem Mantel und stoppeliger, dunkler Kurzhaarfrisur. Viele hatten ihm schon gesagt, dass ihn sein schwarzer Bart finster aussehen ließ, den er sich um den Mund herum hatte wachsen lassen. Da konnte jemandem im Dunkeln schon mulmig werden. Er ging langsam auf den Schemen zu und hob beschwichtigend die Hände. »Guten Abend, kann ich Ihnen helfen? Sie brauchen keine Angst zu haben, ich bin Polizist. Wenn Sie möchten, kann ich mich ausweisen …«

Graysons Stimme verlor sich, als die Gestalt bei ihrer langsamen Rückwärtsbewegung von dem schwachen Lichtkegel einer der Laternen angeleuchtet wurde. Vor ihm stand die Bettlerin, die Caren die Münze gegeben hatte. Grayson blieb verunsichert stehen und wusste nicht, was er denken sollte. Als sie Graysons Gesichtsausdruck bemerkte, blieb sie ruckartig stehen und begann, ein leises unartikuliertes Heulen von sich zu geben.

Ist sie vielleicht geistesgestört?, kam es Grayson in den Sinn. »Miss, können Sie mich verstehen? Geht es Ihnen gut?«, fragte Grayson und machte einen langsamen Schritt auf sie zu. Er wollte sie nicht verschrecken, denn so wie er das sah, war sie seine beste Spur, um diesen Fall voranzubringen. Die Frau hielt inne und blickte Grayson verblüfft an. Dann stieß sie einen lauten Schrei aus, der extrem dissonant und schrill in Graysons Ohren klang, sodass er sich die Hände an den Schädel presste. Seine Kopfschmerzen nahmen schlagartig zu, als hätte ihn ein kräftiger Hieb am Kopf erwischt. Er musste blinzeln, um seine Sicht zu klären, als ihm vor Schmerz die Tränen kamen. Die Bettlerin starrte ihn aus bösen Augen an und fauchte etwas, das wie »Lacunus« klang. Grayson hatte anscheinend immer noch Probleme mit seinen Augen, denn irgendwie verzerrte sich der Anblick der kleinen Frau in ihren Lumpen, sie schien dünner und höher zu werden. Grayson schüttelte den Kopf, nur um mit einem stechenden Schmerz belohnt zu werden. Keine gute Idee, schoss es ihm durch den pulsierenden Schädel. Sein Blick klärte sich langsam, und nun war er sich sicher, dass es nicht an seinen Augen lag. Die Frau wurde wirklich größer. Und dünner. Ein leichtes Flimmern umgab sie, wie ein Hitzeschleier an einem heißen Sommertag. Grayson stand fassungslos da und begaffte das Schauspiel, das sich vor seinen Augen abspielte. Sein Gegenüber richtete sich aus seiner gekrümmten Haltung auf, nun über zwei Meter hoch, die Lumpen als groteske Fetzen herabhängend oder dort abstehend, wo die Proportionen nicht mehr menschlich waren, und Grayson erkannte den Umriss wieder, den er heute früh in der Gasse in Islington gesehen hatte. Der, der sich so schnell bewegen konnte, fiel ihm schlagartig ein, und er griff so schnell er konnte nach seiner Dienstwaffe. Bevor er die Pistole auch nur halb aus dem Holster gezogen hatte, flog er bereits in hohem Bogen über den Asphalt. Ein stechender Schmerz setzte in seiner Brust ein, und erschrocken sah Grayson Blut, das sein zerfetztes Hemd durchtränkte. Das Ding hat mich erwischt, ohne dass ich was gemerkt habe, dachte er erschrocken und benommen. Dann schlug er mit einem dumpfen Knirschen mehrere Meter entfernt auf, und flammende Schmerzen schossen durch seinen Rücken. Er nahm eine verschwommene Bewegung wahr, und plötzlich ragte das Wesen über ihm auf.

Die Erscheinung erinnerte nur noch entfernt an einen Menschen. Der Kopf mit dem strähnigen, schütteren Haar war unglaublich dünn und eckig, fast wie ein umgekehrtes Dreieck, dessen Spitze in einen viel zu dürren Hals auslief. Die Augen schimmerten gelblich und reflektierten das wenige Licht. Sie erinnerten Grayson an die eines Raubtieres, inklusive des gierigen Ausdrucks, mit dem er gemustert wurde. Der Rest des Körpers wies dieselbe Dürre auf, bis hin zu den Fingern, die nun in Krallen endeten und ihn eher an zehn überlange Skalpelle erinnerten. Grayson hatte nur den Bruchteil einer Sekunde, um dies zu erfassen, ehe die Kreatur auch schon auf ihm saß und ihre Krallen in seinen Leib stieß. Grayson schrie auf, die Schmerzen explodierten förmlich in seinem Bauch, und er dachte, es wäre das Ende. Er wehrte sich so gut er konnte, indem er seinen Gegner mit Schlägen gegen den Kopf traktierte.

Kleine Funken stoben auf, wo immer seine Fäuste die Haut der Kreatur berührten.

Ich dachte immer, sterben wäre schmerzhafter, stellte der Teil seines Gehirns fast schon teilnahmslos fest, der bereits mit seinem Schicksal abgeschlossen hatte. Und wirklich, die Schmerzen im Bauch waren schlimm, wurden aber nicht stärker. Ein kurzer Blick nach unten zeigte ihm, dass die Krallen nur einen halben Zentimeter in seinen Körper eingedrungen waren. Irgendetwas hatte die Wucht dieses unglaublich kräftigen Wesens abgefedert. Mit neuer Kraft drosch Grayson auf den Kopf der Kreatur ein, zielte auf die Augen und schlug nach dem Hals, während das Wesen seine Hände mit einem schmatzenden Geräusch aus seinem Bauch zog, von dem Grayson übel wurde. Neue Schmerzen durchzuckten ihn, aber er wehrte sich weiter. Einer seiner Schläge traf den Kehlkopf des Monsters, und für einen kurzen Moment hatte Grayson Zeit zum Nachdenken und aktiven Handeln, während seine Gegnerin nach Luft rang. Grayson tastete nach seiner Waffe und stellte erschrocken fest, dass sie sich in seinem Holster verfangen hatte, als er beim Ziehen unterbrochen worden war. Er nestelte mit beiden Händen in seinem langen Mantel herum und versuchte, die durch sein eigenes Blut glitschig gewordene Waffe freizubekommen. Mittlerweile hatte sich seine Kontrahentin erholt und legte ihre Hände in einem Schraubstock ähnlichen Griff um seinen Hals. Schon hörte er das Blut in seinen Ohren rauschen und sein Sichtfeld verengte sich. Aus dem Nahkampftraining wusste er, dass er nur noch wenige Sekunden hatte, bevor er in Ohnmacht fiel. Dann wäre es wirklich vorbei.

Endlich bekam er die Waffe zu fassen und zog sie mit einem Ruck aus dem Halfter, hielt sie jedoch noch unter dem Mantel verborgen. Seine Sicht war nur noch stecknadelkopfgroß, an einen gezielten Schuss war daher nicht mehr zu denken. Also tastete er mit der linken Hand nach dem Brustkorb der Kreatur, die er höhnisch zischen hörte. Wieder umspielten kleine Blitze seine Hand, wo er die ledrige Haut berührte. Dann stellte er den Pistolenlauf direkt neben seiner linken Handfläche auf und drückte ab, wieder und wieder. Das Wesen stieß einen schrillen, unmenschlichen Schrei aus und der Druck um seinen Hals schwand. Tief zog Grayson die Luft in seine geschundene Kehle, noch immer feuernd, bis seine Waffe mit einem lauten Klicken zu verstehen gab, dass alle Kugeln verschossen waren. Selbst da zog Grayson immer noch am Abzug; es war als würde sein Finger einen eigenen Willen besitzen. Er lag mittlerweile auf der Seite und rang weiter nach Luft, die Augen geschlossen. Nie hatte er die einfache Handlung, seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen, so sehr genossen. Selbst der dreckige Gestank der Großstadt, der sich hier auf dem Boden eines Parkplatzes von seiner schlimmsten Seite zeigte, erschien ihm momentan wie reinster Blumenduft. Langsam öffnete er die Augen und sah nach seiner Gegnerin, die in einer rasch größer werdenden Lache Blutes direkt vor ihm lag. Auch sie war auf die Seite gekippt, so dass nur ein halber Meter ihre Gesichter voneinander trennte. Die Augen in einer Grimasse völliger Überraschung aufgerissen, lag die alte Bettlerin vor ihm, ihr Torso von neun Kugeln zerfetzt. Nichts erinnerte mehr an die unmenschliche Kreatur, die ihn beinahe getötet hatte, hier lag eine alte, unbewaffnete Landstreicherin, die von einem Polizisten mit seiner Dienstwaffe durchlöchert worden war.

Stöhnend drehte sich Grayson auf den Rücken und starrte in den Himmel hinauf. Der Nebel hatte sich wieder gelichtet, und er konnte über sich graue Sturmwolken sehen, die von einem unbarmherzigen Wind über den Nachthimmel gepeitscht wurden. In der Ferne hörte er die ersten Sirenen der Streifenwagen. Seine Schüsse waren natürlich nicht unbemerkt geblieben, und die Kavallerie rückte an, wie immer zu spät. Unfreiwillig musste Grayson grinsen. Während er den teilnahmslosen Nachthimmel betrachtete, lauschte er den näherkommenden Sirenen und dachte darüber nach, welcher Kaffee wohl besser schmecken würde – der in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung oder der im Gefängnis.

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