Читать книгу Küsse unterm Weihnachtsbaum - Tracy Cozzens - Страница 3
1. Kapitel Connecticut, 1897
ОглавлениеImmer schön das Ziel im Auge behalten, Meryl.«
»Tue ich ja.« Sie beobachtete ihren Vater, der durch sein Fernglas blickte und das hohe Gras am Rand der Weide nach Moorhühnern absuchte.
Meryls »Ziel« gehörte nicht zur Gattung Federvieh, sondern war Herr über ein gewaltiges Eisenbahnimperium und stand direkt neben ihr, die Wangen von der kühlen Morgenluft gerötet. Sie war so erpicht darauf, mit ihrem Vater über ihre Zukunft zu reden, dass sie sogar die behagliche Wärme des Landhauses verlassen hatte, um ihn bei seiner traditionellen Jagd an Thanksgiving zu begleiten. Mr McDougall und Mr Whitney, übers Wochenende angereiste Gäste, waren ebenfalls mit von der Partie und folgten gerade dem Setter zu einem kleinen Hügel ganz in der Nähe. Das verschaffte Meryl ein paar kostbare Minuten allein mit ihrem Vater.
Mr Carrington senkte das Fernglas und betrachtete seine Tochter. »Du bist alles andere als begeistert bei der Sache. Warum bist du nicht im Haus geblieben? Deine Mutter hätte es sicher begrüßt, wenn du ihr bei den Vorbereitungen für das Essen zur Hand gegangen wärst.«
»Sie braucht mich doch gar nicht, auch wenn die Dienstboten heute freihaben. Im Haus sind vier verheiratete Damen, die sowieso alles viel besser können. Mrs McDougall betrachtet sich als Expertin auf dem Gebiet der Truthahnzubereitung. Mrs Whitney hat ganz klare Vorstellungen, was die Tischdekoration angeht, Clara führt ausschweifende Gespräche über die Ernährung von Kleinkindern und ...«
Er hob die Hand. »Still jetzt! Da vorn bewegt sich etwas. Sieh doch.«
Er hielt ihr das Fernglas hin. Zögernd nahm sie es in die Hand.
»Achte auf die Stelle links neben dem Beerenstrauch.« Er hob das Gewehr und legte an.
»Los, Jasper.« Der Golden Retriever schoss auf den Busch zu und scheuchte einen Schwarm Moorhühner auf.
»Also gut, ich gestehe«, platzte Meryl heraus.
Mr Carrington zuckte zusammen – und sein Schuss ging daneben. Er senkte das Gewehr und sah seine Tochter an. »Du gestehst? Was ist es dieses Mal?« Er seufzte. »Schon gut, ich kann es mir denken.«
»Du weißt, wie sehr ich es liebe, in der Firma zu arbeiten«, setzte Meryl an und hoffte, die richtigen Worte zu finden. »Jahrelang habe ich von nichts anderem geträumt. Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass es so stumpfsinnig sein würde ...«
Seine Augen über dem mittlerweile fast vollständig ergrauten Zwirbelbart funkelten. »Ich hatte dich gewarnt: Frauen besitzen nun mal keinen Geschäftssinn. Es war töricht von dir, zu glauben, die Arbeit würde dir gefallen.«
»Dir würde es auch nicht gefallen, wenn du den ganzen Tag lang Formulare in Aktenordner heften müsstest«, entgegnete sie trocken.
Er gab die Verfolgung der Moorhühner endgültig auf, stellte den Gewehrkolben auf den Boden und hielt mit behandschuhten Händen den Lauf umfasst. »Diese Arbeit ist wichtig und keinesfalls unter der Würde meiner Tochter.«
»Als Einstieg war es gewiss geeignet. Aber jetzt bin ich bereit für größere Herausforderungen. Ich bin keine Anfängerin mehr und habe mittlerweile auch eine angesehene Akademie absolviert.«
»Bryn Mawr. Eine Mädchenschule.«
»An der ich ein eingehendes Studium der Geschichte, Sprachen und Mathematik betrieben habe. Ich bin bestens vorbereitet, um die Westgate-Übernahme durchzuführen.«
Er sah sie ungläubig an. »Westgate? Du hältst dich für fähig, den Kauf einer Eisenbahngesellschaft abzuwickeln?« Sie nickte energisch. »Ganz recht. Ich bin bereit, Vater. Ich habe alle Gutachten gelesen und sogar ein Kaufangebot für die Geschäftsleitung von Westgate aufgesetzt. Vielleicht könntest du es dir heute einmal ansehen?«
»Meryl ...«
»Vater, bitte.« Sie legte die Hand auf den Ärmel seiner schweren Jagdjacke. »Du hast nun mal keinen Sohn – aber mich. Und ich verspreche dir, dass ich dich nicht enttäuschen werde.«
Er tätschelte ihr die Hand, während sein Blick in die Ferne schweifte. »Du hast ja Recht. Ich habe immer davon geträumt, einen Sohn darauf vorzubereiten, meinen Platz einzunehmen. Was nicht heißt, dass ich nicht meine helle Freude an meinen Töchtern gehabt habe, einschließlich dir, Schnuppel.«
»Ich könnte für dich wie ein Sohn sein – wenn du mir die Chance dazu gibst.«
Er seufzte tief und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Meryl, du musst dich nicht abmühen, um eine Geschäftsfrau zu werden. Ein hübsches Mädchen wie du sollte sich einen netten Mann suchen und eine Familie gründen. Dann könnte deine Mutter auch endlich aufhören, sich Sorgen zu machen«, fügte er mit einem schiefen Blick hinzu. »Sei froh, dass du die jüngste meiner fünf Töchter bist. Bei Hannah und Lily war deine Mutter geradezu versessen auf einen Adelstitel. Dummerweise hat Lilys Bursche keinen – aber zum Glück konnte Pauline das mit ihrem Marquis wieder wettmachen.«
»Ja, aber die Firma ...«, begann Meryl.
»Die Firma«, unterbrach er sie, »ist für dich der perfekte Ort, um einen geeigneten Mann kennen zu lernen. Fleißig und intelligent. Einen Mann, der dich anständig behandelt. Im Grunde könnte es der nette Junge von nebenan sein. Und da wir gerade davon sprechen – rate mal, wer dort hinten kommt!« Mit einem triumphierenden Lächeln blickte er Meryl über die Schulter.
Meryl bekam ein ungutes Gefühl. Die Phase der Eheanbahnung hatte begonnen. Nun, da sie die Akademie abgeschlossen hatte, konnte sie es nicht länger hinauszögern. Aber so leicht würde sie sich nicht an den Mann bringen lassen. Schließlich hatte sie sich nicht durch die Mathematik gequält, um das Heimchen am Herd zu spielen und ein Kind nach dem anderen zu bekommen.
Die Stimme des Neuankömmlings schnitt durch die kühle Morgenluft. »Guten Morgen, Mr Carrington! Ihre Frau hat mir verraten, dass ich Sie hier finden würde.«
Meryls Vater war sichtlich erfreut. »Joseph! Wie ich sehe, bist du aus Mexiko zurück.«
Meryl seufzte erleichtert. Es war bloß Joe. Kein Grund zur Beunruhigung. Sie kannte ihn von Kindesbeinen an – damals hatte er sie immer an den Zöpfen gezogen und in einem fort gepiesackt.
Joe Hammond, der Sohn des ehemaligen Geschäftspartners ihres Vaters, konnte eine Plage sein, aber er war zumindest eine bekannte Plage. Seit vier Jahren hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Er war die ganze Zeit über in Mexiko gewesen, wo er den Bau einer neuen Eisenbahnlinie der Atlantic-Southern Railroad überwacht hatte.
Meryl wappnete sich innerlich für den Schlagabtausch, der mit Sicherheit folgen würde. Dann drehte sie sich langsam um – und stand vor einem völlig Fremden.
Jetzt sei nicht albern, sagte sie sich. Das ist Joe. Er ist einfach nur ... älter. Aber er war auch viel größer als früher und hatte richtig breite Schultern bekommen. Sein Gesicht war mehr oder weniger noch das alte – es hatte nach wie vor diese markante Form. Sein hellblondes, leicht gewelltes Haar ließ sich auch mit Pomade nicht bändigen. Auf seinen Wangen schimmerte der Schatten eines Bartes, und als er lächelte, zeigten sich um seine Augen herum kleine Lachfältchen. Alles an ihm wirkte männlich.
Seine smaragdgrünen Augen musterten Meryl überrascht. »Meryl? Bist du das etwa? So vermummt und mit roter Nase?«
»Mach dich nicht lächerlich«, fauchte sie und wünschte, ihre Stimme würde weniger aufgeregt klingen. »Für einen kalten Novembermorgen bin ich absolut passend gekleidet.« Trotzdem ärgerte sie sich, dass sie nicht etwas Vorteilhafteres gewählt hatte als den schweren Wollumhang und den Schal, der nicht nur einen Teil ihres Gesichts, sondern vor allem ihr langes, goldblondes Haar verhüllte, auf das sie besonders stolz war. »Was sollte ich denn sonst tragen? Ein Flatterkleidchen wie die Mädchen in den Tanzlokalen, in dem ich mir die Arme abfriere?«
»Meryl«, sagte ihr Vater tadelnd, aber Joe lächelte nur.
»So frech und vorlaut wie eh und je«, erwiderte er mit unverschämt guter Laune. »Und redet immer noch über Dinge, von denen sie gar nichts wissen dürfte.«
»Wie darf ich das denn verstehen?« Meryl baute sich herausfordernd vor ihm auf.
»Du hast doch noch nie ein Tanzlokal von innen gesehen. Woher willst du also wissen, was die Damen dort tragen?«
»Verstehe«, erwiderte sie spöttisch. »Während du in Mexiko zweifelsohne Stammgast solcher Etablissements gewesen bist.«
Joe zog seine sandfarbenen Augenbrauen hoch. »Zweifelsohne.«
Dann wandte er sich demonstrativ ihrem Vater zu und berichtete, wie das Bauprojekt verlaufen war. Die neue Linie war bereits in Betrieb genommen und beförderte Passagiere von der Baja Peninsula bis nach Mexiko City, wobei das Stück ab San Diego durch Südkalifornien zur Eisenbahnlinie der Westgate-Gesellschaft gehörte.
Meryl bebte vor Wut über Joes Gelassenheit und die Ungezwungenheit, mit der er über wichtige Geschäfte sprach. Ob er wirklich in diesen Tanzlokalen verkehrt hatte? Einfach skandalös – und was für ein Glück er hatte, dass er tun und lassen konnte, was ihm gefiel!
»Wir haben noch genügend Zeit, alles in Ruhe zu besprechen«, sagte ihr Vater gerade. »Schön, dass du wieder da bist, Joe. Sehr schön. Ich hätte nicht gedacht, dass deine Familie uns schon dieses Wochenende mit einem Besuch beehrt.«
»Ich muss Sie leider enttäuschen, ich bin allein. Mutter besucht noch immer Freunde in Italien. Ich hoffe, meine Anwesenheit beim Thanksgiving-Dinner kommt nicht ungelegen. Aber ich wollte Ihnen so schnell wie möglich von der Fertigstellung der Eisenbahnlinie berichten, bevor ich in die Stadt fahre.«
Ihr Vater klopfte Joe freundschaftlich auf den Rücken. »Guter Junge. Immer nur die Arbeit im Kopf.«
»Genau wie dein Mädchen«, murmelte Meryl. Sie ärgerte sich maßlos, dass ihr Vater Eigenschaften am Sohn seines früheren Partners lobte, die er ihr schlichtweg absprach. .«
Mr Carrington senkte verschwörerisch die Stimme. »Aber lass uns ungeachtet der vorlauten Kommentare meines Nesthäkchens in Anwesenheit meiner Frau nicht über Tanzlokale reden. Für sie bist du immer noch der kleine Junge, der sich Bücher aus meiner Bibliothek ausleiht und regelmäßig vergisst, sie zurückzubringen.«
»So etwas habe ich getan?« Joe sah ihn mit großen Augen unschuldig an.
»Das weißt du doch ganz genau«, mischte sich Meryl ein. »Du bist bei uns ein und aus gegangen, als würdest du zur Familie gehören. Hoffentlich hast du nicht vor, bei uns zu wohnen, nun, da du wieder in New York bist.«
Joe sah sie nachdenklich an. »Um ehrlich zu sein, liebste Meryl, hatte ich diese Möglichkeit gar nicht in Betracht gezogen. Ich würde es nicht wagen, deiner Familie zur Last zu fallen ...«
»Wir wären überglücklich, dich bei uns zu haben«, stellte ihr Vater klar.
Meryl stöhnte. Warum hatte sie nicht den Mund gehalten? Ihr Vater betrachtete Joe doch jetzt schon wie den Sohn, den er nie gehabt hatte!
»Warten wir erst einmal dieses Wochenende ab, Mr Carrington«, sagte Joe und bedachte Meryl mit einem eindringlichen Blick. »Mal sehen, ob ich die liebenswürdige Gastfreundschaft Ihrer Tochter überlebe.«
»Du darfst es ihr nicht übel nehmen«, erklärte Mr Carrington mit leichtem Verdruss. »Sie ist unzufrieden mit ihrer Aufgabe in der Firma – und mit mir.«
»Meryl arbeitet für Sie? Sie belieben zu scherzen!«
Ihr Vater senkte die Stimme, als könnte sie ihn dann nicht mehr hören. »Ich habe ihr eine einfache Bürotätigkeit in der Abteilung Verträge und Rechnungen gegeben. Laut des Abteilungsleiters macht sie ihre Aufgabe recht ordentlich.«
»Smithson, nicht wahr?«
»Genau. Mir ist zwar zu Ohren gekommen, dass sie ihn ständig mit Fragen und Vorschlägen löchert, aber bei mir hat er sich bisher nicht beschwert.«
»Über die Tochter des Chefs? Nicht sonderlich überraschend.«
»Ich bin nicht nur die Tochter des Chefs«, protestierte Meryl, empört darüber, dass Smithson – oder sonst jemand – sie anders behandeln könnte, nur weil sie mit dem Firmeneigner verwandt war. Wenn sie irgendeine x-beliebige Frau gewesen wäre, hätte sie vielleicht weniger Mühe gehabt, in dieser von Männern beherrschten Arbeitswelt erfolgreich zu sein.
»Bemerkenswert.« Joe betrachtete Meryl, als wäre sie ein interessantes Insekt. »Mir war immer klar, dass sie ehrgeizig ist, aber nicht, wie ehrgeizig. Ich weiß allerdings nicht, ob ich an Ihrer Stelle meiner zart besaiteten Tochter erlauben würde, sich in einer derartig ... rauen Umgebung zu tummeln.« Seine Augen blitzten amüsiert.
Mr Carrington runzelte nachdenklich die Stirn.
Meryl warf Joe einen vernichtenden Blick zu. Er war nicht mehr als ein Haar in der Suppe ihrer Pläne. Sie drehte ihm den Rücken zu und wandte sich an ihren Vater: »Was er kann, kann ich auch. Das Bauvorhaben in Mexiko hätte genauso gut ich abwickeln können.«
Joe brach in schallendes Gelächter aus. »Tatsächlich?«
Meryl fuhr zu ihm herum. »Tatsächlich.«
»Mut hast du ja, das muss man dir lassen.« Joe schüttelte den Kopf und grinste amüsiert. »Ich kann kaum glauben, was ich da höre. Aber eigentlich sollte es mich nicht überraschen. Vernunft war noch nie deine Stärke. Ich weiß noch, wie du dich damals im Kohlenschacht versteckt hast, um zu beweisen, dass du im Dunkeln keine Angst hast. Natürlich bist du stecken geblieben. Drei erwachsene Männer waren nötig, um dich zu befreien.«
Ihr Vater lachte leise. »Als man sie schließlich herauszog, sah sie aus wie eine Eingeborene – von Kopf bis Fuß schwarz.«
»Musste sie nicht sogar draußen gewaschen werden?«
»Ja, meine Frau wollte nicht, dass Meryl den Dreck ins Haus trägt.« Die beiden Männer lachten bei der Erinnerung an diese Geschichte.
Meryl hätte am liebsten laut geschrien. Sie starrte Joe wütend an – er war nämlich derjenige gewesen, der darauf gewettet hatte, dass sie es im Dunkeln nicht lange aushalten würde – aber diesen Punkt hatte er geflissentlich unterschlagen. »Ich war erst sieben! Diese Sache hat rein gar nichts mit meinen heutigen Fähigkeiten zu tun, Vater.«
»Trotzdem hat Joe nicht ganz Unrecht.« Mr Carrington umfasste mit der Hand Meryls Kinn. »Das Geschäftsleben ist nichts für eine junge Dame. Du solltest deine Jugend genießen und davon träumen, den richtigen Mann zu heiraten, statt zuzuhören, wie muffige ältere Herren über Fusionen und Stahllieferungen debattieren.«
Meryl trat einen Schritt zurück, sodass ihr Vater sie loslassen musste. Wie sehr wünschte sie, er würde endlich einsehen, dass sie genauso fähig war wie Joe. Abgesehen davon war es geradezu lächerlich, wie sehr Joe von sich überzeugt war. Es verlangte sie förmlich danach, ihn zurechtzustutzen – und zwar ein für alle Mal.
Plötzlich hatte Meryl eine Idee. »Vater, ich kann dir beweisen – euch beiden«, korrigierte sie sich und sah Joe an, »dass ich mit Männern wie Joe durchaus konkurrieren kann.«
»Und auf welche Art gedenkst du, dies zu bewerkstelligen?«, fragte Joe.
»Indem ich mehr Moorhühner schieße als du. Schick Jasper los, Vater, damit er die Vögel in dem Gebüsch da hinten aufscheucht. Wer die meisten Moorhühner erlegt, hat gewonnen.«
Bei ihrem Vorschlag brach Joe erneut in amüsiertes Lachen aus.
Mr Carrington runzelte die Stirn. »Bist du sicher, Meryl? Joe ist ein ausgezeichneter Schütze.«
»Das bin ich auch. Du hast es mir beigebracht, weißt du noch?« Sie tätschelte ihm den Arm. »Und ich lerne schnell, was du mir beibringst – insbesondere, wenn es um die Firma geht.«
Er seufzte. »Man muss nicht aus allem einen Wettkampf machen, Schnuppel.«
Meryl wandte sich zu Joe. »Bist du bereit, oder hast du nicht genug Mumm, es mit mir aufzunehmen?«
»Um es mit dir aufzunehmen, braucht ein Mann mehr als nur Mut«, entgegnete Joe trocken. »Aber zu meinem großen Glück kenne ich dich. Mir machst du keine Angst, Plagegeist.«
Plagegeist – so hatte er sie als Kind immer genannt. Und nun besaß er doch tatsächlich die Frechheit, diesen Namen wieder auszugraben! »Dann mach dich darauf gefasst, vernichtend geschlagen zu werden, Watschelente«, feuerte sie mit dem Namen zurück, den sie ihm damals verpasst hatte.
Joes Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, aber ganz tief in dem Smaragdgrün entdeckte Meryl ein amüsiertes Funkeln. Während sie einander schweigend anstarrten, lud ihr Vater seine Winchester und reichte sie Joe.
Joe überprüfte den Lauf, hob das Gewehr an und bot Meryl eine letzte Chance zum Rückzug. »Bist du dir sicher? Ich habe in Mexiko viel Zeit bei der Jagd verbracht.«
»Zeit, in der du wahrscheinlich hättest arbeiten sollen«, entgegnete Meryl schnippisch, legte an und fasste das Ziel ins Auge. Sie galt als recht guter Schütze, auch wenn sie diese Fähigkeit bisher fast ausschließlich beim Bogenschießen geübt hatte.
Joe seufzte und legte an. »Wenn du darauf bestehst.«
Mit lautem Gebell schoss Jasper auf das Gebüsch zu, in dem die Moorhühner Zuflucht gesucht hatten. Ein Dutzend der fetten Vögel stob hervor und erhob sich wild flatternd in die Lüfte. Bevor sie außer Reichweite flogen, erlegte Meryl mit präzisen Schüssen zwei der Vögel. Zufrieden senkte sie das Gewehr. »Nicht einen, sondern zwei. Was sagst du nun?« Sie grinste Joe triumphierend an.
Er senkte sein Gewehr ebenfalls und nickte. »Alle Achtung. Nicht schlecht für ein Mädchen.«
Mädchen. Für ihn war sie also immer noch ein Mädchen. »Aber ich war besser.« Er klemmte sich das Gewehr unter den Arm und arbeitete sich durch das Gebüsch zu den getroffenen Vögeln vor. Jasper kehrte bereits mit einem Moorhuhn zurück und legte es ihrem Vater vor die Füße, während sich Meryl daranmachte, ihre Ausbeute einzusammeln.
Als sie zu ihrem Vater und Joe zurückkehrte, stellte sie fest, dass fünf Vögel getroffen worden waren.
»Fünf! Vater, hast du etwa auch geschossen?«, rief Meryl überrascht.
»Nein, nur Joe. Tut mir leid, Schnuppel, aber er hat drei heruntergeholt.«
So werde ich die Männer nie davon überzeugen, dass ich mithalten kann, dachte Meryl enttäuscht.
Sie riss sich zusammen und wandte sich Joe zu. »Dann muss ich dir wohl gratulieren.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.
Er nahm sie und drückte sie sachte. »Kein Grund, sich zu ärgern. Du besitzt einen guten Instinkt. Du musst nur lernen, vorsichtiger zu sein – und weniger gefühlsbetont. Du hast dich eher darauf konzentriert, mich zu besiegen, als darauf, Moorhühner zu schießen.«
»Du willst eine Frau dazu bringen, weniger gefühlsbetont zu sein? Viel Erfolg, Joe«, sagte ihr Vater lachend.
Joe nickte. Er hatte immer noch dieses überhebliche Siegerlächeln im Gesicht. »Das ist ja das Problem bei Frauen im Geschäftsleben. Ich habe keine einzige getroffen, die sich nicht von ihren Gefühlen leiten ließ – und das war immer zum Schaden des Unternehmens.«
Meryls Vater runzelte die Stirn, schlug sich zu ihrer großen Überraschung jedoch auf ihre Seite. »Meine Meryl ist allerdings etwas Besonderes. Du musst zugeben, dass sie sich in eurem kleinen Wettstreit sehr gut behauptet hat. Zwei Vögel – viele Männer könnten es nicht besser.« Er klopfte seiner Tochter stolz auf die Schulter. Meryl errötete vor Freude. Seine nächste Bemerkung versetzte sie in helle Aufregung. »Vielleicht finden wir in der Firma eine etwas verantwortungsvollere Aufgabe für dich.«
Meryl fiel ihm um den Hals und rief: »Oh ja!«, und warf Joe über die Schulter ihres Vaters hinweg ein triumphierendes Lächeln zu. Dann strahlte sie ihren Vater an. »Ich bin dir so dankbar. Wenn du erst einmal das Angebot studiert hast, das ich aufgesetzt habe ...«
Bevor Mr Carrington antworten konnte, mischte sich Joe ein. »Und in zehn Jahren bist du fettleibig und unglücklich wie all die anderen Geschäftsfrauen. Tja, tja. Dabei hättest du eine viel versprechende Zukunft gehabt.«
Meryl erstarrte. Wie konnte er es wagen, ihre Freude in kaltem Zynismus zu ersticken? »Warum sagst du das?«
»Die Welt der Männer zermürbt die Frauen. Sie müssen selbst wie Männer werden, um in ihr zu überleben.«
»Ist das wirklich deine Meinung?« Mr Carrington schien durch dieses schwachsinnige Argument tatsächlich ins Grübeln zu kommen.
»Das ist doch Humbug!«, warf Meryl ein.
Joe zuckte mit den Schultern. »Sie müssen zugeben, Mr Carrington, dass Männer für gewisse Dinge einfach die besseren Voraussetzungen mitbringen – und die Jagd ist nur ein Beispiel von vielen. Das hat Gott so gewollt. Du siehst also, Meryl, es hat keinen Sinn, gegen mich anzutreten. Die Naturgesetze weisen dich in deine Schranken. Aber ärger dich deshalb nicht. Eines Tages wird ein Mann närrisch genug sein, dich zu heiraten – und du kannst ganz in deiner Rolle als Frau aufgehen.« Als krönenden Abschluss seiner dreisten Kommentare zwinkerte er ihr frech zu.
Meryl biss die Zähne zusammen. Ihr Vater schien tatsächlich über Joes Behauptungen nachzudenken, denn er verlor kein Wort mehr über ihre neue Position in der Firma. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Jagd, bis es an der Zeit war, das Wild einzusammeln und zum Haus zurückzukehren. Auf dem etwa eine Meile langen Heimweg trottete Meryl lustlos hinter ihrem Vater, seinen beiden Gästen und Joe her. Die Männer unterhielten sich angeregt über Geschäfte und schienen gar nicht zu merken, dass Meryl auch noch da war. Sie musste endlich etwas tun, um den Respekt ihres Vaters zu erwerben und ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Aber es musste schon etwas Spektakuläres sein.
Die Westgate-Übernahme wäre die perfekte Gelegenheit. Meryl hatte ihre Tätigkeit in der Firma genutzt, um alle Berichte über Westgate zu lesen, die man ihr zum Abheften gegeben hatte. Wahrscheinlich wusste sie mehr über Westgate als irgendjemand sonst bei Atlantic-Southern.
Sie balancierte ihr Gewehr auf der Schulter und machte mit ihren schlammbespritzten Stiefeln einen vorsichtigen Schritt über eine riesige Pfütze. Ihr Vater musste sie einfach damit beauftragen, die Verhandlungen mit Westgate zu führen. Das war er ihr schuldig. In Kalifornien, weit weg von seinem Einflussbereich, könnte sie ihm dann beweisen, was in ihr steckte – ihm und auch den anderen Männern in der Firma, die in ihr genau wie Joe offenbar nur die Tochter des Chefs sahen.
Die kleine Jagdgesellschaft erreichte die Kuppe des Hügels, von dem aus man einen Blick auf den Landsitz der Familie Carrington hatte. Nur zwei Meilen von dem kleinen Dorf Wallingford entfernt, überragte das Haus alle Gebäude in der Nachbarschaft und war das größte Anwesen im Umkreis von dreißig Meilen. Das Herrenhaus war nach dem Vorbild eines rustikalen Jagdhauses entworfen worden. Die zahlreichen zweiflügeligen Fenster schimmerten im milden Licht dieses Herbstmorgens. Im Unterschied zu der schlichten Fassade wies das Gebäudeinnere nicht nur jeglichen modernen Komfort wie fließendes Wasser und elektrisches Licht auf, sondern war erlesen und geschmackvoll ausgestattet. Ihr Vater hatte das Haus vor zehn Jahren in Auftrag gegeben, um hin und wieder dem Trubel der Großstadt entfliehen zu können. Dabei mangelte es ihnen in ihrem Haus auf der 5th Avenue wahrlich an nichts.
Meryl war buchstäblich mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden, und wenn sie unzufrieden war, hielt sie sich das manchmal vor Augen. Ihr war durchaus bewusst, wie gut es ihrer Familie ging und wie schwer das Leben für manch anderen war. Trotzdem verspürte sie im Gegensatz zu ihrer Schwester Clara einen weitaus geringeren Drang, sich wohltätigen Aufgaben zu widmen. Meryl wollte sich in dieser Welt auf andere Weise einen Namen machen, sie wollte etwas bewirken und dem Familienerbe Ehre erweisen. Wenn ihr Vater nur endlich aufhören würde, ihre Bemühungen zu vereiteln!
Sie folgte ihrem Vater und Joe den Hang hinunter zur Rückseite des Anwesens. Mr Whitney und Mr McDougall hatten bereits die Rasenfläche erreicht und angefangen, ihre Gewehre zu reinigen und die Jagdausbeute zu vergleichen.
Ihre Gattinnen kamen aus dem Haus geeilt, um die Vögel entgegenzunehmen. Da das Küchenpersonal an diesem Tag freihatte, war ein Mädchen aus der Gegend angeheuert worden, um die Vögel zu rupfen. Ansonsten mussten die Damen heute jeden Handgriff in der Küche selbst erledigen – ausgerechnet an Thanksgiving. Aber sie würden schon dafür sorgen, dass ein vollendetes Dinner auf dem Tisch stand.
Meryl seufzte. Warum nur machte es sie nicht glücklich, so wie diese Frauen in der Küche zu hantieren und das Essen vorzubereiten? Warum machte es sie nervös und rastlos, zu Hause zu sitzen und sich um nichts als den Haushalt zu kümmern?
Zwanzig Schritte vor dem Hintereingang trennte sich Mr Carrington von Joe – der kein Gewehr reinigen musste – und gesellte sich zu Mr McDougall und Mr Whitney auf den Rasen.
Bevor sie ebenfalls dorthin ging, nutzte Meryl die Gelegenheit, um mit Joe zu reden. Sie überholte ihn am Fuß der Verandatreppe und verstellte ihm den Weg. »Du bist offenbar wild entschlossen, meinem Vater zu imponieren. Es ist jedenfalls nicht zu übersehen, wie verzweifelt du dich darum bemühst, dass er eine gute Meinung von dir bekommt.«
»Ich habe keinen Grund, verzweifelt zu sein. Dein Vater hat nämlich bereits eine gute Meinung von mir, und die habe ich mir redlich verdient.« Er lächelte, und dabei zeigte sich ein Grübchen in seiner stoppeligen Wange.
Meryl schüttelte den Kopf und seufzte theatralisch. »Ich weiß ja nicht, was du vorhast, Joe Hammond, aber du wirst der Tatsache ins Auge sehen müssen, dass ich dir gegenüber immer im Vorteil bin, wenn es um meinen Vater geht.«
Seine Augen verengten sich. »Was willst du damit sagen?« Sie zuckte mit den Schultern. »Das ist doch offensichtlich. Vater denkt bereits über meine künftige Rolle in der Firma nach.«
»Das stimmt. Du wirst befördert: Von der Aktensortiererin zur ... was eigentlich? Stenografin?«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Jeder muss irgendwo anfangen. Aber schon bald werde ich wichtigere Aufgaben übernehmen. Sehr viel wichtigere.«
»Da bin ich sicher. Bis du einen armen Irren gefunden hast, der dich heiratet und eine Familie mit dir gründet.« Er lächelte gönnerhaft und musterte sie von Kopf bis Fuß. Meryl wurde unbehaglich unter seinem durchdringenden Blick, obwohl sie bis zur Nasenspitze vermummt war. »Der arme Kerl tut mir jetzt schon leid«, schloss Joe.
»Du bist die ungehobeltste und verabscheuungswürdigste Kreatur, die mir je begegnet ist«, fauchte sie und ärgerte sich fürchterlich darüber, dass ihr seine Meinung nicht gleichgültig war. »Du bist noch genauso flegelhaft wie früher als Junge.«
»Nur dir gegenüber.« Seine grünen Augen nahmen einen grüblerischen Ausdruck an, und seine Stimme wurde auf einmal sehr viel sanfter. »Du bringst genau das in mir zum Vorschein, Meryl. Das hast du schon immer getan. Und dieser Unsinn, was dich und die Firma angeht – ich war sicher, das hätte sich mittlerweile gelegt.«
Sie hob trotzig das Kinn. »Darin hast du dich geirrt – einer deiner vielen Irrtümer.«
»Was bitte soll das heißen?«
»Um nur eine Sache zu nennen: Du willst einfach nicht verstehen, welche Position mir in unserem Familienunternehmen zusteht. Dabei ist das für jeden offensichtlich, der nur halbwegs bei Verstand ist. Vater hat fünf Töchter und keinen einzigen Sohn. Und von all seinen Kindern interessiere nur ich mich für die Firma. Jetzt, da ich meine Ausbildung beendet habe, wird mich Vater darauf vorbereiten, eines Tages seine Nachfolgerin zu werden. Irgendwann werde ich Atlantic-Southern Railroad leiten.« Nun hatte sie ihren Trumpf ausgespielt.
Die Überraschung stand Joe ins Gesicht geschrieben. »Du willst doch nicht etwa behaupten, dass du tatsächlich glaubst ...«. Er warf ihr einen eindringlichen Blick zu. Dann riss er die Augen auf und sah sie gleichermaßen verblüfft wie amüsiert an. »Scheinbar ja. Du glaubst also wirklich, dass du eines Tages in die Fußstapfen deines Vaters treten und Präsidentin der Firma sein wirst. Hat er ... hat er dir das gesagt?«
Sie zuckte mit den Schultern und log, ohne mit der Wimper zu zucken. »Er hat gewisse Andeutungen gemacht.«
Joe entspannte sich und seufzte. Dann grub er die Hände in die Taschen seines Mantels und setzte den Weg die Treppe hinauf fort. »Andeutungen. Missverstanden vom beschränkten Verstand einer Frau.«
Meryls Blicke bohrten sich förmlich in seinen Rücken. Sie folgte ihm, wobei die Absätze ihrer Winterstiefel laut auf den Holzstufen klapperten. »Oh – ich vergaß. Du dachtest wohl, du würdest die Firma eines Tages leiten?«
Er drehte sich zu ihr um. »Ganz ehrlich, Meryl, so weit in die Zukunft habe ich noch gar nicht geplant.« Er sah sie an und ließ den Blick dann über die Herbstlandschaft hinweg in die Ferne schweifen. Am Himmel über ihnen flog eine Schar Gänse in V-Formation, auf dem Weg in wärmere Gefilde. Ihre Rufe wurden vom Wind verweht. »Erst einmal muss ich mich wieder zu Hause eingewöhnen, bevor ich mich anderen Dingen widmen kann.«
Seine Worte verklangen in der Stille des klirrend kalten Morgens und weckten in Meryl den Wunsch, die Gedanken und Gefühle dieses Mannes zu verstehen, der als Kind ihr Widersacher gewesen und jetzt kaum mehr als ein Fremder für sie war. Joe schien in diesem Moment drauf und dran, ihr sein Vertrauen zu schenken, und zu ihrem eigenen Erstaunen freute sie sich darüber. »Du meinst ...«
Er hob abwehrend die Hand. »Schon gut. Dies hier ist nicht mein Zuhause, darauf hast du mich ja bereits laut und deutlich hingewiesen.« Er drehte sich um, stieß die Tür auf und ging ins Haus. Meryl blieb zurück und fühlte sich auf einmal sonderbar allein.