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4. Kapitel

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Joe saß behaglich zurückgelehnt in einem Abteil der ersten Klasse, zog seine Taschenuhr aus der taubengrauen Foulardweste und klappte den Deckel hoch. Jede Sekunde, die der Zeiger weitersprang, verstärkte sein Gefühl von Sicherheit.

Auf seiner Uhr war es jetzt Punkt sechs. Er lächelte. Jeden Augenblick würde der Zug den Bahnhof verlassen, und zwar ohne die kleine Meryl Carrington. Welch ein Triumph! Auch wenn Joe ein wenig enttäuscht darüber war, wie leicht sie es ihm gemacht hatte. Er hatte etwas mehr Kampfgeist erwartet, denn Meryls Entschlossenheit hatte ihn schon immer beeindruckt.

Während seiner Zeit in Mexiko hatte er nicht oft an Meryl gedacht. Und wenn doch, dann hatte er das eigenwillige, sturköpfige Mädchen vor Augen gehabt, das ihn unablässig geplagt und vor ihrer schönen älteren Schwester unmöglich gemacht hatte. Selbst als Joe schon längst über seinen unerreichbaren Jugendschwarm Lily Carrington hinweg gewesen war, hatte Meryl es immer wieder geschafft, den Finger in diese Wunde zu legen, wenn sie sich bei einem Familientreffen über den Weg liefen.

Beinahe bedauerte er es, dass sie einander nur so kurz gesehen hatten, denn Meryl hielt ihn zumindest auf Trab – was für den zukünftigen Chef eines Unternehmens niemals verkehrt war.

Die Minuten verstrichen, doch der Zug setzte sich immer noch nicht in Bewegung. Joe kämpfte gegen seine Unruhe an. Er würde erst entspannen können, wenn er Meryl weit hinter sich gelassen hatte.

Als ein Schaffner vorüberkam, sprach Joe ihn an. »Verzeihung!«

Der große, dunkelhäutige Mann trug eine schmucke, marineblaue Uniform, das Markenzeichen der Atlantic-Southern Bahnlinie

»Ja bitte, Sir?«

»Es ist bereits zwanzig Minuten nach sechs.« Joe klopfte auf seine Taschenuhr. »Warum sind wir noch nicht abgefahren?«

»Bitte entschuldigen Sie die Verzögerung, Sir. Der Zug wird festgehalten, weil noch eine wichtige Persönlichkeit erwartet wird. Es dauert gewiss nicht mehr lange.«

Joe nickte und lehnte sich seufzend zurück. Es wäre unsinnig, seine Verärgerung an dem Schaffner auszulassen.

Wichtige Persönlichkeit ... Es gab nicht viele Leute, für die ein Zug aufgehalten wurde. Er spähte durch das Fenster auf den Bahnhof von Wallingford, ein altertümliches Gebäude im Kolonialstil mit einer Holzplattform davor. Nebelschwaden waberten um die Laternenmasten. Joe fragte sich, wie lange sie wohl noch warten mussten – und auf wen.

Zehn Minuten später hielt eine Kutsche neben dem Bahnsteig. Joe hatte eine düstere Vorahnung. Die Tür der Kutsche wurde aufgestoßen und heraus trat – sie. Joe stieß ein enttäuschtes Stöhnen aus. Vollendet gekleidet im maßgeschneiderten Reisekostüm mit passendem Hut schritt sie das Treppchen herab. Die Dienstboten beeilten sich, den riesigen Schrankkoffer loszubinden und von der Gepäckablage der Kutsche zu wuchten.

Joe schaute zum wiederholten Mal auf die Uhr, zunehmend besorgt, weil mittlerweile durchaus die Aussicht bestand, dass er am Grand Central den Anschlusszug nach Westen verpassen würde. Sie verpasste den Anschluss dann zwar auch, aber nichtsdestotrotz war sein Vorsprung zum Teufel.

Der Schaffner begleitete Meryl persönlich zu ihrem Platz – nur zwei Reihen vor Joe. Natürlich entdeckte sie ihn sofort und konnte sich ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen.

Joe verzog das Gesicht. Diese verwöhnte Göre hatte wie gewohnt versucht, alles und jedes ihren Bedürfnissen zu unterwerfen – und leider mit Erfolg.

Wenige Minuten später verkündete ein Zischen und Dampfen, dass die Lokomotive sich in Bewegung setzte, und sobald der Zug den Bahnhof verlassen hatte, ratterten die Räder immer schneller. Das wurde aber auch Zeit! Joe starrte mit wachsendem Ärger auf Meryls perfekt frisierten Hinterkopf, bis er es einfach nicht mehr aushielt und aufsprang.

Er marschierte zu ihrem Platz, beugte sich über sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Du hast also deinen Namen benutzt, um den Zug aufzuhalten. Raffiniert.«

Sie presste die rosigen Lippen für einen kurzen Moment fest aufeinander. Dann erklärte sie: »Ich werde tun, was immer nötig ist.«

Er schüttelte langsam den Kopf. »Du bist ganz schön vorwitzig, pass nur auf, dass du nicht zu weit gehst.«

»Ich habe den Eindruck, als wäre ich schon weiter, als du dachtest.« Sie wandte sich demonstrativ ab und blickte starr geradeaus.

Joe kehrte zu seinem Platz zurück, voller Wut auf Meryl und sich selbst, weil sie ihn so leicht aus der Fassung bringen konnte. Während der 90-minütigen Fahrt nach New York City sprach er kein Wort mehr mit ihr.

Am Grand Central sprang Joe als Erster aus dem Zug und ging auf kürzestem Weg zum nächsten Fahrkartenschalter. In all dem Gedränge musste er bei fast jedem Schritt einem Reisenden oder Gepäckwagen ausweichen und erntete mehr als einen ärgerlichen Blick.

Mit ein bisschen Glück würde er den Zug um Viertel nach acht nehmen können, dieweil Meryl noch mit ihren lächerlichen Gepäckbergen beschäftigt war. Doch dann stellte er bestürzt fest, dass die Schlange vor dem Schalter aus mindestens einem Dutzend Menschen bestand. Nervös trat Joe von einem Fuß auf den anderen und schickte Stoßgebete gen Himmel, dass es schnell gehen möge. Der Kartenverkäufer bewegte sich wie eine altersschwache Schnecke.

Joe tippte dem Mann vor ihm auf die Schulter. »Entschuldigen Sie, Sir, ich bin sehr in Eile. Falls es Ihnen nichts ausmacht ...«

»Sie haben es eilig?«, entgegnete der Mann mit ausgeprägtem irischem Akzent. »Dann geht es Ihnen wie uns allen.« Er drehte Joe wieder den Rücken zu und ignorierte jeden weiteren Versuch. Wieder rückte die Schlange einen Platz vor. Joe schaute sich suchend um und stellte aufatmend fest, dass von Meryl weit und breit nichts zu sehen war. Es kostete Zeit, Gepäck aus dem Gepäckwaggon holen zu lassen, denn nicht immer war sofort ein Träger frei.

Endlich bekam der Mann vor ihm seine Fahrkarte. Nun war Joe an der Reihe. »Ich brauche eine Fahrkarte nach San Francisco. Und zwar unbedingt im Continental Express, der heute Abend geht.«

»Heute Abend? Da gibt es nicht mehr viele freie Plätze. Und Sie müssen sich beeilen. Der Zug fährt in fünf Minuten.«

»Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Ich arbeite für die Atlantic-Southern.« Er schob dem Mann Geld hin. »Ich nehme, was immer noch frei ist.«

Den Kartenverkäufer schien es nicht sonderlich zu beeindrucken, einen Angestellten der Eisenbahngesellschaft vor sich zu haben. »Das Geld reicht nicht für einen Platz im Pullman-Schlafwagen.«

»In Ordnung.« Joe zückte seine Brieftasche, entnahm den noch fehlenden Betrag für die Beförderung in der Luxusklasse und reichte ihn dem Schalterbeamten.

»Liebling! Du hast doch hoffentlich zwei Fahrkarten gekauft, oder?«, ertönte plötzlich glockenhell Meryls Stimme hinter ihm.

Joe stöhnte innerlich, während sich Meryl einen Weg zum Schalter bahnte und neben ihm stehen blieb. Hinter ihr wartete ein Träger mit einem Gepäckwagen, auf dem sich ihr Schrankkoffer, zwei Hutschachteln und ihre kleine Reisetasche stapelten. Sie lächelte den Schalterbeamten an. »Er tut geradezu so, als wolle er mich nicht mitnehmen. Das ist nicht nett, finden Sie nicht auch, Sir? Hier. Das sollte für meine Fahrkarte reichen.« Sie schob dem Mann ein Geldbündel entgegen, das dessen Augen tellergroß werden ließ.

»Diese Dame gehört nicht zu mir«, protestierte Joe.

Meryl hakte sich bei ihm ein und tätschelte ihm die Schulter. »Red keinen Unsinn, Liebling.« Sie wandte sich an den Schalterbeamten. »Immer dieses Spielchen, dabei wird es so langsam langweilig. Aber er hört nicht auf damit, vor allem nicht, seitdem er weiß, dass ich ...« Sie flüsterte, und zwar so laut, dass jede Silbe deutlich zu hören war. »... guter Hoffnung bin.«

Der Schalterbeamte errötete und vermied es, Meryl oder Joe anzusehen, während er die Fahrkarten ausstellte. Dann zählte er das Geld und schob Joe beide Fahrkarten hin.

Meryl schnappte sich ihre, bevor Joe sie auch nur berühren konnte. »Ich danke vielmals.« Sie drehte sich um und stürmte Richtung Bahnsteig Nummer neun davon, gefolgt von dem Gepäckträger.

Joe brauchte kaum mehr als sechs Schritte, um sie einzuholen. »Das war ausgesprochen dreist.«

Sie würdigte ihn keines Blickes. »Aber ich habe damit mein Ziel erreicht.«

Er packte ihren Arm und wirbelte sie zu sich herum. »Zu behaupten, du seiest meine Frau ... und noch dazu, du wärst ... du wärst ...« Er brachte die Worte nicht über die Lippen. Die Vorstellung, er wäre mit Meryl verheiratet und sie würde ein Kind von ihm erwarten ... Das war einfach zu viel.

Sie entwand sich seinem Griff. »Ich habe gesagt, was nötig war. Wir Frauen müssen jeden Vorteil nutzen, den die Natur uns gegeben hat.«

»Schon möglich, aber wie kannst du nur mit einem völlig Fremden über etwas derart Vertrauliches sprechen ...«

»Ich bezweifle, dass mir dieser Kartenverkäufer je wieder über den Weg laufen wird, da ich schon bald nach San Francisco umziehen werde, um die neue Abteilung zu leiten.« Sie hielt inne und zog fragend die Augenbrauen hoch. »Oder hast du damit etwa dich gemeint?«

»Ich bin ja wohl kein Fremder für dich. Besonders gut kennen wir uns allerdings auch nicht. Jedenfalls nicht mehr.« Unwillkürlich glitt sein Blick über ihren anmutigen, weiblichen Körper.

Was mochte sie an der Akademie gelernt haben? Joe fragte sich plötzlich, ob Meryl wirklich noch so unerfahren war, wie er dachte. Womöglich würde sie in ihrem Ehrgeiz Dinge tun, die sie hinterher bereute. »Verrate mir eines, Meryl: Wo ist die Grenze? Wie weit würdest du gehen, sei es mit Worten oder Taten?« Seine Stimme wurde eindringlich. »Wie weit, Meryl?«

Sie presste die Lippen aufeinander, und Joe entging nicht, dass ihr eine leichte Röte in die Wangen stieg.

»Du hast völlig Recht. Wir sind wie Fremde füreinander. Der Joe, den ich kannte, würde mir niemals unterstellen ...« Sie verstummte, drehte sich schnell von ihm weg und lief mit klappernden Absätzen das verbleibende Stück zum Bahnsteig.

Bereit zur Abfahrt stand der eiserne Koloss zischend und dampfend auf den Gleisen. Mitreisende verabschiedeten sich von Angehörigen und Freunden, während sich uniformierte Gepäckträger sputeten, die letzten Koffer zum Gepäckwagen zu bringen. Meryl marschierte entschlossen auf den Zug zu, gab dem Gepäckträger ein Trinkgeld, schnappte sich ihre Reisetasche und eilte die Stufen hinauf in den Waggon.

Joe schaute ihr völlig verblüfft hinterher. Sollte er tatsächlich ihre Gefühle verletzt haben? In all den Jahren, die er Meryl kannte, war es nicht ein einziges Mal vorgekommen, dass er sie aus der Fassung gebracht hatte. Irgendwann war er zu der Überzeugung gelangt, dass sie zu solchen Schwachheiten gar nicht fähig war. Wer war nur diese ihm gänzlich unbekannte Frau? Sie faszinierte ihn, aber es war sicher klüger, sich von ihr fernzuhalten. Irgendwo unterwegs würde er sie ein für alle Mal abschütteln, sodass sie ihn nicht mehr einholen konnte. Schließlich war es nicht besonders lustig, über Bahnsteige zu hetzen, um dann festzustellen, dass sie ihm doch noch auf den Fersen war.

Ein schwarzer Schaffner begleitete Meryl zu ihrem Abteil im Pullman-Waggon, einem mit viel Plüsch ausgestatteten Salon auf Rädern. Der Schaffner warf einen Blick auf ihre Fahrkarte und wies dann auf eine Sitzbank, deren Polster mit aufwändiger Flammenstickerei verziert waren. »Bitte sehr, Madam. Dies ist Ihr Platz, in Omaha müssen Sie dann umsteigen.«

Meryl lächelte ihm geistesabwesend zu. »Danke.« Sie setzte sich, während der Schaffner ihre taubenblaue Lederreisetasche verstaute. Auf der Bank gegenüber saß zusammengesunken ein alter Mann, dessen Hut fast sein ganzes Gesicht verdeckte. Er hielt die Arme verschränkt und schnarchte im Schlaf. Neben ihm schlenkerte ein etwa neunjähriger Junge so heftig mit den Füßen, dass seine Fersen mit schöner Regelmäßigkeit gegen die Abdeckung unter dem Sitz schlugen.

»In etwa einer Stunde fangen wir an, die Schlafwagen herzurichten«, erklärte ihr der Schaffner. Er würde während der gesamten Fahrtzeit in diesem Waggon Dienst tun.

Sie nickte noch einmal, und der Schaffner entfernte sich, um einen weiteren Fahrgast zu begrüßen.

Meryl war erleichtert, dass sie noch einen Platz im Pullman bekommen hatte. Sie war zwar schon in Europa gewesen, aber noch nie nach Westen gefahren, und vor allem war sie immer äußerst komfortabel gereist. Der Waggon war luxuriös – von den mit Intarsien verzierten Nussbaumtäfelungen an den Wänden über die Orientteppiche bis zu den Messingbeschlägen zeugte alles davon, dass man hier Reisende zufriedenstellen wollte, die sich diesen Luxus leisten konnten.

Dennoch war der Komfort in einem engen Zugwaggon begrenzt. Jeder Platz war besetzt – abgesehen von demjenigen neben Meryl. Aber das kümmerte sie nicht. Sie holte ihr in rotes Leder gebundenes Tagebuch aus der Reisetasche und begann, über das Wiedersehen mit Joe und die Wette zu schreiben.

Der Zug setzte sich in Bewegung und verließ das Gand Central Depot. Meryl blickte aus dem Fenster und sah die Eisen – und Stahlträger des Bahnhofs vorüberziehen. Bald hatten sie die Stadt hinter sich gelassen und fuhren durch die dunkle Nacht, wodurch der Passagierwagen etwas von einem warmen, hell erleuchteten Kokon bekam.

Während sich der Zug Meile für Meile über die Gleise schob, wurden aus Fremden rasch Reisebekanntschaften. Meryl erfuhr, dass der kleine Junge ihr gegenüber nicht mit dem älteren Herrn reiste, sondern zu der jungen Mutter auf der anderen Seite des Ganges gehörte, die vollauf mit ihren drei anderen Kindern beschäftigt war.

Der allein sitzende Junge wirkte abgrundtief gelangweilt. »Hättest du Lust, für deine Mutter ein Bild zu malen?«, fragte Meryl ihn. Sie riss ein Blatt aus ihrem Tagebuch.

Er nickte, lächelte schüchtern und nahm das Blatt sowie den angebotenen Stift entgegen.

»Tommy, belästige die Dame nicht«, ermahnte ihn seine Mutter.

»Keine Sorge, ich fühle mich nicht belästigt«, sagte Meryl und nickte der erschöpft wirkenden Frau zu, worauf diese ihr ein dankbares Lächeln schenkte.

Da der Junge beschäftigt war und der alte Mann immer noch schlief, musste sich Meryl allein unterhalten. Von Joe hatte sie nichts mehr gesehen, seit sie in den Zug gestiegen war. Vielleicht saß er in einem anderen Waggon. Sie zog den Fahrplan hervor und verstaute ihre Reisetasche dann wieder unter dem Sitz.

Laut Plan würde der Zug am folgenden Nachmittag um fünf Uhr Fort Wayne erreichen. Dort war ein längerer Halt geplant, damit die Reisenden Gelegenheit hatten, in der Stadt zu Abend zu essen. Einige Fahrgäste würden dort umsteigen, um nach Nordwesten in Richtung Chicago zu fahren. Meryl nahm sich vor, im Zug zu bleiben, bis er seine Reise nach Omaha fortsetzte.

Wenn sie Glück hatte, würde Joe den Zug verpassen ...

»Na, wenn das nicht urgemütlich wird!«

Joe nahm seinen Hut ab und ließ seine Aktentasche direkt vor Meryls Füßen auf den Boden fallen. »Mein Platz ist direkt neben Ihnen, Mrs Hammond. Während der gesamten Reise. Hunderte und Aberhunderte von Meilen.« Er schnappte sich den Fahrplan und warf einen Blick darauf. »Bis Mittwochmittag, um genau zu sein.«

Meryl rettete ihren Fahrplan aus seinen Klauen und atmete tief durch. Sie würde sich von ihm nicht zu einem Schlagabtausch hinreißen lassen. »Wie gesagt: Ich werde alles Nötige tun, um ans Ziel zu kommen«, erklärte sie betont heiter, während er sich neben sie setzte.

Der herbe Duft seiner Haarpomade stieg ihr in die Nase. Ein ausgesprochen männlicher, angenehmer Duft. Während sie versuchte, so weit von ihm fort zu rutschen wie möglich, berührte seine Schulter die ihre. Wann nur hatte der schlaksige Joe derartig breite Schultern bekommen? »Selbst wenn das bedeutet, dass ich mich mit deiner Anwesenheit abfinden muss ...«

»Was hast du denn erwartet, wenn du dich als meine Frau ausgibst?«

Sie zuckte die Achseln und fuhr zusammen, weil diese Geste sofort den Körperkontakt zwischen ihnen verstärkte. »Du hast meinem Vater gesagt, ich sei für dich wie eine Schwester. Das ist doch kein großer Unterschied.«

»Tatsächlich nicht?« Seine grünen Augen bohrten sich förmlich in die ihren und verunsicherten sie zutiefst.

Meryl wich seinem Blick aus und suchte nach einer Ablenkung. Schließlich öffnete sie den Verschluss ihrer Handtasche, die robust, geräumig und äußerst reisetauglich war – keines dieser albernen Strickbeutelchen, in die so gut wie nichts hineinpasste –, und steckte den Fahrplan ein. Dann schlug sie ihr Tagebuch auf und begann darin zu lesen, wobei sie den Mann an ihrer Seite schlichtweg ignorierte.

Seitdem sie vor wenigen Wochen zum ersten Mal von der Westgate-Übernahme gehört hatte, war sie in der Firma sämtliche Akten durchgegangen und hatte alle Informationen über Westgate in ihrem Tagebuch zusammengetragen. Sie wusste mit Sicherheit mehr über dieses Unternehmen und seinen Präsidenten, Mr Philbottom, als Joe. Schließlich war Joe jahrelang außer Landes gewesen.

»Ein Mädchen und sein Tagebuch. Wie reizend.« Joe lehnte sich zu ihr und versuchte einen Blick auf die Seite zu erhaschen, die sie gerade las – so wie er es zu tun pflegte, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war.

Sie warf ihm einen giftigen Blick zu und hielt das Buch so, dass er nichts sehen konnte. »Wenn du gestattest. Das sind meine Privatangelegenheiten.«

»Schreibst du immer noch poetische Ergüsse über deine Verehrer? Ich hoffe, du bist mittlerweile über meinen Freund Bradford hinweg.«

»Bradford?«, entgegnete sie spitz, obwohl sie nur allzu gut wusste, von wem die Rede war. Mit dreizehn Jahren hatte sie Bradford – einen verträumten, melancholischen Jungen – für das vollkommenste Geschöpf gehalten, das auf Gottes Erde wandelte. Meryl war davon überzeugt gewesen, dass Bradford und sie füreinander bestimmt waren.

Und da Joe eines Tages ihr Tagebuch gestohlen hatte, hatte er natürlich von ihrer Schwärmerei erfahren. Daraufhin war sie drei Monate lang seinen erbarmungslosen Sticheleien ausgesetzt gewesen – bis sie erfuhr, dass er selbst verliebt war: in ihre wohlgeformte, schöne Schwester Lily.

Als sich Meryl daran erinnerte, warf sie Joe einen triumphierenden Blick zu. »Ich verzehre mich ebenso wenig nach Bradford wie du nach Lily – oder schmachtest du etwa immer noch?«

Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Sei nicht albern. Ich war sechzehn. Sämtliche Jungen aus der Nachbarschaft haben für sie geschwärmt, das weißt du genau.«

»O ja, das weiß ich.« Sie liebte ihre Schwester, war aber stets ein bisschen eifersüchtig gewesen, weil Lily derart bewundert wurde. Kein Mann hatte Meryl je so sehnsüchtig angesehen. »Und ob ich das weiß.«

Joe schüttelte ungläubig den Kopf. »Du lieber Himmel, Meryl, du fühlst dich deiner Schwester immer noch unterlegen, nicht wahr?«

Sie schlug ihr Tagebuch zu. »Ganz gewiss nicht, aber vielen Dank für deine Anteilnahme. Offen gestanden bin ich sogar froh, nie derartig von Verehrern belagert worden zu sein. Leider fühlt ihr Männer euch selten vom Verstand einer Frau angezogen, sondern eher von ... von ...« üppigen Rundungen und einem bildschönen Gesicht, fügte sie im Stillen hinzu. »Ihr Männer macht mich ganz krank. Ohne Ausnahme.«

»Schon recht«, erwiderte Joe trocken und presste die Lippen zusammen. Dann erhob er sich und setzte seinen Hut auf. »In gewisser Hinsicht bist du reifer geworden«, sagte er und ließ den Blick über ihren Körper schweifen. »Das ist nicht zu leugnen. Aber du hast noch einen weiten Weg vor dir, bis du wirklich erwachsen bist.«

Das saß. Um zu verbergen, wie verletzt sie war, schleuderte Meryl ihm entgegen: »Erst beleidigst du mich und dann läufst du weg. Wie überaus ›erwachsen‹ von dir.«

»Nicht, dass es dich etwas anginge, aber ich setze mich in den Klubwagen«, erklärte er. »Dort ist die Gesellschaft weniger kratzbürstig.«

Meryl sah ihm hinterher. Seit wann benahm sich Joe so weltmännisch und souverän? Wo war der sommersprossige Junge geblieben, der ihr alberne, kindische Streiche gespielt hatte?

Ob er wirklich mit Mädchen aus Tanzlokalen verkehrt hatte?

Meryl war noch nie in einem solchen Etablissement gewesen, fühlte sich jedoch dank ausführlicher Artikel in Zeitungen und Zeitschriften bestens informiert. Sie stellte sich vor, wie Joe in einem rauchgeschwängerten Saal die Tänzerinnen auf der Holzbühne betrachtete. Gefallene Mädchen mit kurzen Rüschenröckchen, geschmeidigen Bewegungen und verheißungsvollen Blicken, die dem Gentleman mit dem hellblonden Haar, dem offenen Gesicht und dem warmherzigen Lächeln galten. Oh, er hatte sicher Gefallen gefunden an diesen Frauen mit ihren drallen Leibern. Ihre geschminkten Gesichter und Schmollmünder hatten ihn wahrscheinlich zu jeglicher Art von Fleischeslust verführt. Bei der Überlegung, was genau darunter zu verstehen war, wurde es Meryl plötzlich unangenehm warm. Sie knöpfte die Jacke ihres blauen Reisekostüms auf, unter der sie eine züchtige weiße Baumwollbluse mit Rüschenkragen trug.

Sie versuchte, sich auf ihr Tagebuch zu konzentrieren, aber immer wieder schweiften ihre Gedanken zu Joe und diesen Mädchen ab. Wie mochte es sein, einen Mann zu verführen? Gänzlich unerfahren in diesen Dingen hatte sie stets darauf vertraut, dass ihre Verehrer den ersten Schritt tun würden, doch keiner von ihnen schien bisher ausreichend beeindruckt gewesen zu sein von ihren ... Attributen. Meryl schaute an sich hinunter. Nein, sie war eindeutig nicht dafür ausgestattet, einen Mann zu verführen oder andere Gefühle als Ärger in ihm zu wecken.

Aber sie hatte ja sowieso nicht vor zu heiraten, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit.

Seufzend lehnte sie den Kopf gegen das Polster.

»Wünschen Sie, dass ich Ihr Bett für die Nacht zurechtmache, Madam?«

Der Schlafwagenschaffner lächelte sie an, und seine weißen Zähne leuchteten im Kontrast zu der dunklen Haut. Meryl nickte und trat auf den Gang, damit er die Sitzbank umklappen konnte. Joe hielt sich wohl immer noch im Klubwagen auf. Der ältere Herr von gegenüber war gegangen, und der kleine Junge trug bereits sein Nachthemd und saß drüben bei seinen Geschwistern in der Schlafkabine.

Sie konnte genauso gut ebenfalls zu Bett gehen. Nach dem aufregenden Tag war sie ziemlich erschöpft.

Der Schaffner klappte die Rückenlehnen der einander gegenüberliegenden Sitze herunter und hatte im Nu das Bett mit frischen Laken, Kissen und Decken hergerichtet. Dann reichte er nach oben und klappte die in der Wand befindliche Schlafkoje aus. Er zog gerade den Vorhang vor das Abteil, da kam der ältere Herr zurück. Er kämpfte sich den Gang entlang, vorbei an Reisenden, die vor ihren Abteilen standen oder gerade auf dem Weg zum Waschraum am Ende des Waggons waren. Ein Schlafwagen ließ nicht viel Raum für Sittsamkeit, wie empfindlich die Fahrgäste auch sein mochten. Der alte Mann hatte sich für die Nacht zurechtgemacht und trug jetzt einen gestreiften Morgenrock über seinem hageren Körper. Seine Füße steckten in braunen Lederpantoffeln. Ohne Meryl eines weiteren Blickes zu würdigen, zog er den Vorhang beiseite und kletterte in die obere Schlafkoje.

Damit blieb das untere Bett für sie – und Joe. Meryl erschrak, als ihr klar wurde, dass Joe und sie sich ein Bett teilen würden.

»Entschuldigen Sie bitte«, wandte sie sich an den Schaffner. »Ist vielleicht in einem anderen Abteil noch eine Schlafkoje frei?« Sie schaute den Gang entlang auf die Reihe der heruntergeklappten Betten.

»Nein, Madam. Der Zug ist bis auf den letzten Platz belegt. Sie verstehen, der Feiertag ... Ihre Fahrkarte gilt für einen Doppelliegeplatz. Er ist gewiss breit genug für Sie und Ihren Gatten. Atlantic-Southern kann sich rühmen, den Reisenden viel Komfort zu bieten.«

»Daran zweifele ich nicht«, erwiderte sie trocken und widerstand dem Drang, ihm zu verraten, wer sie wirklich war. Sie hatte sich für Joes Frau ausgegeben und sich durch diese Schwindelei selbst die Grube gegraben, in der sie nun buchstäblich würde liegen müssen. Neben ihm.

Der Schaffner wandte sich dem nächsten Abteil zu. Meryl kaute auf ihrer Unterlippe. Sie war immer stolz darauf gewesen, ihre Ziele aus eigener Kraft zu erreichen, nicht mit Hilfe verwandtschaftlicher Beziehungen. Sie hatte bereits einmal gegen diesen Grundsatz verstoßen, als sie den Zug in Wallingford aufgehalten hatte. In Joes Achtung würde sie nicht gerade steigen, wenn sie schon wieder zu diesem Mittel griff, und dann noch aus Schamhaftigkeit! Außerdem wäre sie dadurch auch nicht schneller in San Francisco.

Ich werde schon damit umgehen können, entschied sie resolut. Letztendlich sah Joe in ihr nichts anderes als eine lästige kleine Schwester – das sagte er ihr ja oft genug.

Sie musste sich beeilen, damit sie schon unter der Decke lag, wenn Joe kam. Sie würde sich einfach schlafend stellen.

Meryl griff nach ihrer Reisetasche und eilte zum Damenwaschraum. Die Tür stand ein Stück weit offen und gab den Blick auf eine vollschlanke Dame mit pechschwarzem Haar frei, die ihr Gesicht im Spiegel betrachtete. Sie sah kurz zu Meryl. »Kommen Sie nur herein, meine Liebe. Ich suche lediglich mein Gesicht nach neuen Falten ab.«

Meryl zwängte sich in den engen Raum und schloss die Tür. »Vielen Dank. Ich habe es ein bisschen eilig.«

Die Frau lachte tief und kehlig. »Eilig, ins Bett zu kommen? Sie müssen frisch verheiratet sein. Ich habe den werten Gatten übrigens gesehen. Wirklich appetitlich

Joe? Appetitlich? Meryl zog die Nase kraus, ohne dass die Dame es bemerkte. Dann begann sie, die Haarnadeln aus ihrer Frisur zu ziehen, und erwiderte lässig: »O ja, er ist ein richtiges Marzipanpraliné.«

Die Frau lachte erneut. »Sie scheinen eine aufgeweckte junge Dame zu sein. Nicht so verstaubt wie die meisten der Ladys an Bord. Darf ich mich vorstellen? Mrs Alphonse Yves-Kendall.«

»Miss Meryl Carr... Mrs Joe Hammond.« Meryl schüttelte ihr Haar und wühlte in der Reisetasche nach den Waschutensilien.

Mrs Yves-Kendall lächelte. »Sie sind frisch verheiratet und müssen sich erst noch an Ihren neuen Namen gewöhnen. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs Hammond.« Mit diesen Worten wandte sie sich wieder dem Spiegel zu und fuhr fort, ihr Gesicht unter die Lupe zu nehmen. »Haben Sie bereits Erfahrung mit den ehelichen Freuden während einer Zugfahrt?«

Meryl ließ beinahe Seife und Waschlappen fallen. Sie starrte Mrs Yves-Kendall im Spiegel in die Augen. »Ich habe schon häufig in einem Zug geschlafen«, stieß sie ausweichend hervor.

»Ich rede nicht vom Schlafen, Herzchen.«

»Das hatte ich befürchtet«, sagte Meryl kleinlaut.

»Letztendlich ist alles nur eine Frage des Rhythmus. Ein Zug hat einen besonderen Rhythmus, der für die körperlichen Freuden sehr von Vorteil sein kann. Ich zumindest fand es immer äußerst angenehm.« Sie zwinkerte Meryl zu.

Diese rang sich ein gequältes Lächeln ab. Auf der Akademie hatte man ihr die Grundlagen des Geschlechtslebens erklärt: Der Mann besaß ein Körperteil, das er an einer gewissen Stelle in die Frau einführte, und auf diese Weise entstand neues Leben – wie bei Blumen, die von Bienen bestäubt werden. Aber das Gerede über Rhythmus sagte Meryl rein gar nichts.

Mrs Yves-Kendalls zweideutiger Tonfall genügte allerdings, um Meryl das Blut in die Wangen zu treiben. Und die Vorstellung von Joe als ihrem »Gatten« verwirrte sie vollends.

Ob er auch Bedenken wegen des Doppelliegeplatzes hatte? Machte es ihm überhaupt etwas aus? Meryl musterte verstohlen die üppige Figur und die wissenden Augen der älteren Frau. Wahrscheinlich nicht. Aber sie, Meryl, war nun mal keines dieser Mädchen aus den Tanzlokalen und auch keine erfahrene Frau wie Mrs Yves-Kendall. Es wurmte sie, dass Joe über alles Bescheid wusste, während man sie im Dunkeln gelassen hatte. Möglicherweise ... Sie schielte zu der geschlossenen Tür. Wenn man im Leben Erfolg haben wollte, dann musste man jede Gelegenheit ergreifen, die sich einem bot. »Mrs Yves-Kendall ...«

»Nennen Sie mich Annabelle.«

»Danke. Sie haben Recht, Annabelle. Ich bin eine frisch gebackene Ehefrau. So frisch, dass ich noch nie ... wir haben noch nie ...«

»Tatsächlich? Du lieber Himmel, ich hatte nicht die Absicht, Sie mit meinen derben Bemerkungen vor den Kopf zu stoßen.«

»Das wollte ich damit nicht sagen. Aber heute Nacht ...« Meryl sah im Spiegel, dass sie erneut errötete.

Annabelle nickte. »Ich verstehe, was Sie fragen möchten. Mein erster Gatte war in dieser Hinsicht weiß Gott eine böse Überraschung. Aber mittlerweile bin ich zum dritten Mal verheiratet und lasse mir die Zügel nicht mehr aus der Hand nehmen.« Sie wies auf einen Korbstuhl in der Ecke des Waschraumes. »Setzen Sie sich. Ich werde Ihnen alles erzählen, was Sie wissen müssen.«

Küsse unterm Weihnachtsbaum

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