Читать книгу Küsse unterm Weihnachtsbaum - Tracy Cozzens - Страница 4

2. Kapitel

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Joe Hammond verharrte in der Halle vor dem Salon, in dem sich die Familie vor dem Mittagessen versammelt hatte. Er strich mit der Hand über seinen taubengrauen Anzug. Hoffentlich war er angemessen gekleidet. Während seiner Zeit in Mexiko hatte er in Zelten neben der entstehenden Bahnlinie kampiert und keinen großen Bedarf an Gesellschaftskleidung gehabt. Wenn er zurück in New York war, würde er sich an das Leben in der Stadt erst wieder gewöhnen müssen. Aber er freute sich sehr darauf, genauso wie darüber, endlich in den Stammsitz der Atlantic-Southern Railroad mit seiner hektischen Betriebsamkeit zurückzukehren.

Joes Familie hatte früher zur New Yorker Gesellschaft gehört – bis zu jenem Tag, an dem sein Vater diesen dummen Fehler beging. Doch selbst während ihrer Glanzzeit waren die Hammonds im Vergleich zu den Carringtons kleine Fische gewesen. Die Carringtons gehörten zu den wichtigsten Unternehmerfamilien des Landes. Sie und die Hammonds waren Nachbarn gewesen und hatten sogar die Sommer zusammen verbracht. In der Hoffnung, in den Rang der Carringtons aufzusteigen, beteiligte sich Joes Vater im Laufe der Jahre an etlichen Geschäftsunterfangen Richard Carringtons – bis zu der Torheit, die allem ein Ende setzte.

Joe beendete gerade sein Studium am Massachusetts Institute of Technology, da erkrankte sein Vater an einem »Herzleiden«. Trotz der peinlichen Vorkommnisse hatte Mr Carrington Joe in der Firma angestellt und ihn unter seine Fittiche genommen. Dies hatte auch den Schlag gemildert, den die Hammonds zwei Jahre später erlitten, als Joes Vater seiner Krankheit erlag.

Joe verdankte Mr Carrington seine berufliche Perspektive, und er hatte sich geschworen, seinen Mentor niemals zu enttäuschen. Davon würde ihn nichts abbringen, auch nicht Meryl.

Ihre Stimme drang durch die geschlossene Salontür. »Hast du dich über die Vögel gefreut, Mutter?«

Die Stimme von Olympia Carrington erwiderte: »Heute gibt es natürlich Truthahn, aber für den Rest der Woche haben wir nun dank der Männer mehr als genug Moorhühner.«

»Zwei davon habe ich geschossen«, korrigierte Meryl ihre Mutter schnippisch.

Launisch und verzogen wie eh und je, dachte Joe und musste schmunzeln. Es hatte ihm schon immer Spaß gemacht, sie zu foppen. Sie hatte in Kindertagen wie eine Klette an ihm gehangen. Und sie hatte ihn, als er unübersehbar für ihre hinreißende ältere Schwester Lily schwärmte, hemmungslos in Verlegenheit gebracht. Er war ein 16-jähriger Schuljunge gewesen, völlig vernarrt in eine erwachsene Frau, die jedem Mann in New York den Kopf verdrehte. Wer hätte ihm daraus einen Vorwurf machen wollen?

Aber Jungen in dem Alter konnten richtige Flegel sein, und Joe war keine Ausnahme. Also zahlte er Meryl ihre Indiskretion tüchtig heim, indem er sie wegen ihrer körperlichen und geistigen Unzulänglichkeiten hänselte.

Dabei war Meryl in Wahrheit gar nicht hässlich gewesen. Zwar hatte die wilde goldblonde Mähne ihre ohnehin zarte Gestalt dünn wie eine Bohnenstange wirken lassen, zierten zahllose Sommersprossen ihre Nase und waren ihre blauen Augen viel zu groß für das schmale Gesicht – trotzdem war sie unbestreitbar niedlich gewesen.

Aber welche Reize sie auch immer besessen haben mochte, leider wurden sie völlig von ihrem frechen Mundwerk und ihrer forschen Art überdeckt. Und solange er zurückdenken konnte, hatte sie es hauptsächlich auf ihn abgesehen. Anfangs war sie ihm ständig hinterhergelaufen wie eine lästige kleine Schwester, später hatte sie ihn bei jeder Gelegenheit herausgefordert.

Eine Tradition, die sie an diesem Morgen unvermindert fortgesetzt hatte. Er seufzte. Vielleicht urteilte er zu streng. Vielleicht war Meryl doch erwachsen geworden, und er konnte dies bloß nicht erkennen.

Joe holte tief Luft, straffte die Schultern und öffnete die Tür zum Salon.

Sein Blick wurde sofort magisch angezogen von einer wunderschönen Frau, die er im ersten Moment gar nicht erkannte. Sie stand neben Mr Carrington vor dem Kamin. Joe schlug das Herz bis zum Hals. Er hatte Meryl einmal damit aufgezogen, dass sie nie an die Schönheit ihrer Schwester heranreichen würde – aber jetzt konnte er sich nicht einmal mehr an das Gesicht ihrer Schwester erinnern.

Wo war nur das kleine Mädchen geblieben? Eine nie zuvor gespürte Wärme durchströmte ihn. Joe hatte Meryl nie als Frau wahrgenommen – bis jetzt.

Er war so lange von lateinamerikanischen Frauen umgeben gewesen, dass er ganz vergessen hatte, dass ein Teint so hell sein und zugleich von innen heraus leuchten konnte. Dass goldblondes Haar derart faszinierend schimmern konnte. Meryls üppige Lockenpracht zierte eine blaue Feder, die bei jeder Bewegung ihres Kopfes neckisch wippte.

Mit den zartrosa Lippen, die Mr Carrington zulächelten, der schmalen Nase und den großen, kornblumenblauen Augen wirkte Meryls Gesicht geradezu engelsgleich.

Joes Augen wanderten tiefer und stellten fest, dass sie außerdem weibliche Rundungen bekommen hatte. Sie war noch immer schlank, aber das wie angegossen sitzende taubenblaue Kleid umschmeichelte eine umwerfende Figur. Zarte Spitzeneinsätze entlang des Dekolletees verhüllten zwar ihre Brüste, betonten jedoch gleichzeitig deren Form.

Völlig hingerissen vergaß Joe für einen Moment, wen er da eigentlich bewunderte. Wie jeder Mann beim Anblick einer schönen Frau ertappte auch er sich bei der Frage, wie sich wohl ihre zarte Haut anfühlte, wie ihr Haar duftete, wie ihre Lippen schmecken mochten ...

Bis sich diese rosig-zarten Lippen öffneten und Meryl ihn begrüßte.

»Schau mal an, Joe, du hast dich ja rasiert! Wie erfreulich, dass du in der Wildnis von Mexiko nicht jegliche Zivilisiertheit verloren hast.«

Joe fasste sich an die glatt rasierte Wange, doch als ihm das bewusst wurde, senkte er die Hand sofort wieder. Er spürte Ärger aufsteigen und war froh darüber. Ungeachtet ihrer äußeren Erscheinung war Meryl immer noch derselbe kleine Plagegeist. Und sie würde zweifellos keine Gelegenheit auslassen, ihm dies ins Gedächtnis zu rufen.

Er bedauerte das nicht. Meryl als begehrenswerte Frau zu betrachten war so gefährlich, wie während eines Sturms am Rande eines Abgrunds zu tanzen.

Joe riss sich von ihrem Anblick los und wandte sich ihrem Vater zu. Während er im Ausland gewesen war, hatte er befürchtet, dass Mr Carrington ihn vergessen würde und seine Karriere in der Firma gefährdet sein könnte. Aber diese Befürchtungen hatten sich im Laufe des Tages in Luft aufgelöst. Mr Carrington behandelte ihn nach wie vor wie den Sohn, den er nie gehabt hatte.

Richard Carrington machte Joe mit den Gattinnen der Männer bekannt, die ebenfalls bei der Jagd gewesen waren. Außer Joe, den McDougalls und den Whitneys waren noch Meryls Schwester Clara, deren Ehemann Stone und ihre neugeborene Tochter Amelia über den Feiertag zu Besuch.

Die Gesellschaft war nun vollständig versammelt und begab sich in das Speisezimmer, wo ein opulentes Mahl angerichtet war, das aus Truthahnbraten mit Preiselbeersauce, Geflügelsalat, Süßkartoffeln, Wein und Apfelmost bestand. Hinter einem Funkenschutzgitter knisterte das Kaminfeuer und verlieh dem Raum trotz seiner Größe und der hohen Decke eine behagliche Atmosphäre.

Ein perfektes Thanksgiving – wenn die junge Dame ihm gegenüber geschwiegen hätte.

Meryl stocherte mit der Gabel in ihren Süßkartoffeln herum.

»Und, Mr Hammond, hast du deinen Aufenthalt in Mexiko genossen?«, fragte sie ihn. Ihre Stimme klang völlig unschuldig, aber er wusste, dass er sich davon nicht irreführen lassen durfte.

»Er war überaus faszinierend«, erwiderte Joe und wandte sich dabei an die gesamte Tischgesellschaft. »Aber ich gestehe, dass ich froh bin, wieder zu Hause zu sein. Was nicht heißen soll, dass ich nicht mit Freude überall dorthin gehe, wohin Sie mich vielleicht noch schicken möchten, Mr. Carrington«, fügte er mit einem kurzen Nicken in Richtung seines Arbeitgebers hinzu.

»Vater, bauen wir nicht gerade eine neue Linie an der Grenze zu Alaska?«, fragte Meryl zuckersüß. »Ich bin sicher, Joe würde es dort gefallen. Wie ich höre, sollen die Mädchen in den kanadischen Tanzlokalen ganz entzückend sein.«

»Du meinst wohl die Mädchen, die keinen Holzfäller zum Heiraten gefunden haben«, konterte Joe.

»Arnold Bigsby wickelt das Yukon-Bauprojekt ab«, warf Mr Carrington ein. »Reich mir doch bitte den Wein, Meryl. Ich bin es gar nicht mehr gewohnt, mich selbst zu bedienen, wie ich leider zugeben muss.«

»Wie wahr«, stimmte Mrs McDougall zu. »Thanksgiving ohne Dienstboten ist wirklich strapaziös.« Einige der Bediensteten waren zwar im Haus geblieben, hatten an diesem Tag jedoch frei. Sie saßen jetzt in der Küche ebenfalls beim Thanksgivingsschmaus.

Joe war daran gewöhnt, sich selbst zu bedienen, und einfach nur froh, dass Meryl das Gespräch aus der Hand genommen worden war.

Als Meryls Schwester Clara zum Nachtisch den Kuchen servierte, schnitt Joe das Thema an, das ihn am meisten beschäftigte. »Eine Expansion in die westlichen Staaten würde uns die Kontrolle über die gesamte Bahnstrecke von Mexiko City bis nach Kanada verschaffen. Sind Sie in Sachen Westgate Railroad schon weitergekommen?«, wandte er sich an seinen Arbeitgeber. Diese in San Francisco ansässige Gesellschaft war knapp bei Kasse und hatte Interesse angemeldet, von der Atlantic-Southern Railroad – oder einem ihrer Konkurrenten – aufgekauft zu werden.

»Wir überlegen noch, wie sich die Übernahme am besten durchführen lässt«, erklärte Mr Carrington. »Sobald wir einen Vertrag ausgearbeitet haben, brauche ich jemanden, der nach San Francisco reist und die Verhandlungen führt.«

»Das dachte ich mir«, nickte Joe.

»Woher weißt du von der Westgate-Übernahme?«, fragte Meryl und sah ihn stirnrunzelnd an, während sie mit der Gabel ein Stück Kuchen zum Mund führte.

Joe versuchte zu ignorieren, wie sinnlich sich ihre Lippen bewegten. »Ich stehe durchaus mit der Firma in Kontakt und halte mich auf dem Laufenden.«

»Über Westgate musst du dir keine Gedanken machen«, erklärte Meryl kühl. »Vater hat bereits entschieden, wie er in dieser Angelegenheit verfahren wird.«

»Noch habe ich nicht ja gesagt.« Mr Carrington schien weitaus mehr an seinem Stück Kuchen als an Gesprächen über Geschäfte interessiert zu sein.

Joe schaute von ihm zu Meryl, die auf einmal leicht beunruhigt wirkte. »Zugestimmt? Jetzt sagen Sie bitte nicht, Sie übertragen derartig wichtige Verhandlungen ...« Joe konnte sich gerade noch bremsen. Es stand ihm nicht zu, seinen Chef zu kritisieren.

»Aber nicht doch«, ermunterte ihn Meryl, und ihre wütend funkelnden Augen straften ihren gelassenen Tonfall Lügen. »Fahr bitte fort. Wir möchten alle gern hören, was du zu sagen hast.«

»Ich wollte nur anmerken, dass Vertragsverhandlungen äußerst kompliziert sein können. Sie erfordern Geduld, einen kühlen Kopf und Erfahrung – aber all dessen ist sich Mr Carrington gewiss bewusst.«

Meryl ließ nicht locker. »Und das soll heißen?«

»Das soll heißen, Mr Carrington benötigt jemanden wie mich.« So, nun hatte er seinen Hut in den Ring geworfen.

»Oh, natürlich«, erwiderte Meryl trocken. »Vater beabsichtigt, dass derjenige, der das Geschäft aushandelt, diesen Standort auch leiten wird. Bist du dir darüber im Klaren?«

»Ja, ich habe davon gehört. Und ich könnte mir durchaus vorstellen, in San Francisco zu leben.«

»Zweifelsohne«, höhnte sie. »Im Westen gibt es ja auch jede Menge Tanzlokale.«

»Meryl, es reicht. Joe ist unser Gast«, schaltete sich Mrs Carrington ein. Ihre entschiedene Stimme machte deutlich, dass sie keinen Widerspruch duldete. »Abgesehen davon finde ich diese Gespräche über Geschäfte äußerst ermüdend, insbesondere an Thanksgiving. Lasst uns über angenehmere Dinge reden. Mr und Mrs Whitney, wie ich höre, wollen Sie sich ein Haus in South Carolina zulegen. Wimmelt es dort nicht von Mücken?«

»Nur im Sommer. Und wir wollen ausschließlich die Wintermonate dort verbringen«, erklärte Mrs Whitney. Die Unterhaltung drehte sich nun um Häuser, Architekten, Grundstücke und Dienstboten – Themen, die den nicht sehr vermögenden Joe wenig interessierten. Also aß er seinen Kuchen, trank Kaffee und ließ während der ganzen Zeit die junge Dame ihm gegenüber nicht aus den Augen. Wenn Meryl ihn ansah, schaute er sofort weg, um schon im nächsten Moment wieder hinzugucken – bis sie ihn mit ihren blauen Augen streifte, die hart wie Stahl wirkten. Sie hasst mich, dachte er und fühlte sich nicht gut bei der Vorstellung.

Aber sie ist selbst schuld, sagte er sich. Sie eignet sich nicht für diese Aufgabe. Es war richtig, darauf hinzuweisen. Selbst ihr Vater sucht doch nach einem Grund, warum er sie die Verhandlungen mit Westgate nicht führen lassen kann.

Als Mrs Carrington sich erhob und verkündete, es sei Zeit für die Damen, sich in den Salon zurückzuziehen und die Herren ihren Zigarren und dem Brandy zu überlassen, atmete Joe erleichtert auf. Wenn er mit Mr Carrington allein war, konnte er sein Anliegen ohne Meryls Einmischung vorantreiben.

Sie verließ den Raum als Letzte und warf ihrem Vater noch einen eindringlichen Blick zu.

»Verzeihen Sie, dass ich für Missstimmung gesorgt habe«, entschuldigte sich Joe, während er von seinem Gastgeber eine Zigarre entgegennahm.

»Du kannst nichts dafür. Seitdem Meryl weiß, dass ich überlege, wer diesen Vertrag aushandeln könnte, liegt sie mir in den Ohren, ihr das Projekt zu übertragen.«

Joe lachte trocken. »Sie ist doch völlig ungeeignet!«

»Nicht völlig.« Mr Carrington lehnte sich zurück und spielte nachdenklich mit seiner Zigarre. »Seit sie von der Akademie zurück ist, erweist sie sich als zäher Verhandlungspartner. Und ihren Abschluss hat sie als Jahrgangsbeste gemacht.«

»Trotzdem, eine Akademieausbildung ersetzt noch lange keine Berufserfahrung.«

Mr Carrington seufzte. »Sie ist meine Tochter, Joe. Mein Fleisch und Blut. Andere Männer in meiner Position geben ihren Sprösslingen eine Chance, sich zu bewähren.«

»Ihren männlichen Sprösslingen.«

»Wie dem auch sei, sie ist das einzige meiner Kinder, das sich für die Firma interessiert, die mein Großvater, mein Vater und ich aufgebaut haben. Sie ist meine letzte Chance, den Stab innerhalb der Familie weiterzugeben.« Sein Blick ging ins Leere, während der Rauch seiner Zigarre langsam nach oben stieg.

Joe rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her. »Das kann ich gut verstehen. Aber gerade die Westgate-Übernahme – für Atlantic-Southern ist es von entscheidender Bedeutung, westlich vom Mississippi Fuß zu fassen.«

»Das brauchst du mir nicht zu sagen. Und ich werde deshalb auch schon bald eine Entscheidung fällen.« Mr Carrington drückte seine Zigarre im Aschenbecher aus und begann dann mit Mr Whitney und Mr McDougall über Präsident McKinleys Kubapolitik zu diskutieren.

Eine halbe Stunde später erhob sich Richard Carrington und verkündete: »Gentlemen, die Damen warten auf uns.« Die Männer beendeten ihre Gespräche über Geschäfte und Politik und gingen hinüber in den Salon.

Meryl lauerte Joe im Flur auf. Sie packte ihn am Arm und zog ihn von der offenen Salontür weg. Nach gut fünf Metern blieb sie stehen und baute sich vor ihm auf. »Du willst meine Position, stimmt’s?«

Er lachte. »Sei nicht albern. Ich interessiere mich nicht für das Einsortieren von Akten.«

»Hör auf, dich darüber lustig zu machen.« Bei ihrem ernsten Gesichtsausdruck verging ihm das Lachen.

»Also gut. Ich wusste nicht, dass du ein Auge auf Westgate geworfen hast. Obwohl das keinen Unterschied macht, denn nur, weil du die Tochter deines Vaters bist, kannst du noch lange keine Übernahmeverhandlungen führen. Was wird der Präsident von Westgate denken, wenn du mit Federn im Haar ins Konferenzzimmer gerauscht kommst?« Joe stupste gegen die Feder in ihrer Frisur. »Glaubst du wirklich, man wird dich ernst nehmen?«

»Ich werde schon dafür sorgen, dass sie mich ernst nehmen, und natürlich trage ich dann keine Feder im Haar!«

»Deine Kleidung ist nicht der Punkt. Du bist eine Frau, und das werden sie wohl kaum ignorieren können.« Obwohl er es nicht wollte, ließ er den Blick über ihren Körper gleiten. Er jedenfalls fand es sehr schwer, diesen Umstand zu ignorieren.

»Aber das ist meine Chance, Joe. Verstehst du das nicht? Die Chance, Vater endlich dazu zu bringen, mich ernst zu nehmen. Wenn ich auch nur einen weiteren Tag lang Akten einsortieren muss, bin ich reif für die Irrenanstalt.«

»Manch einer würde sagen, das bist du bereits.«

»Dafür hättest du eine Ohrfeige verdient.« Meryl hob die Hand, als wollte sie ihn tatsächlich ohrfeigen.

Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest, erstaunt, wie zart sich die schlanken Finger anfühlten. »Hör mir zu, Meryl. Bei diesem Geschäft geht es um Millionen von Dollar. Hältst du dich wirklich für fähig, es allein abzuwickeln? Was ist, wenn du versagst? Hast du schon einmal darüber nachgedacht? Die Gewinne, die das Unternehmen – deine Familie – dadurch verlieren würde ...«

Für den Bruchteil einer Sekunde flackerten Zweifel in ihren Augen auf. Unwillkürlich schämte sich Joe ein wenig für seine Direktheit. Doch hier handelte es sich nicht um gepflegte Konversation zwischen einem Gentleman und einer Dame. Er wollte dieses verrückte Ding zu ihrem eigenen Besten zur Vernunft bringen. Und zu seinem Besten, wie er sich reumütig eingestehen musste.

Der Augenblick der Unsicherheit war schon wieder vorbei. Meryl entriss ihm ihre Hand. »Ich kann dieses Geschäft genauso gut abschließen wie du, Joseph Hammond. Besser sogar.«

»Du hast doch keinen blassen Schimmer, wie du das anfangen sollst!«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Bist du bereit, darauf zu wetten?«

»Mir dir? Jederzeit, Plagegeist. Sag einfach, um was. Du weißt doch ganz genau, dass ich gewinnen werde, genau wie bei dem albernen Schießwettbewerb heute Morgen.«

»Dann schlag ein.« Sie trat einen Schritt näher an ihn heran, und ein zarter Rosenduft umschmeichelte ihn. »Wenn es einem von uns beiden gelingt, die Westgate-Übernahme unter Dach und Fach zu bringen, zieht sich der andere sofort zurück. Sollte ich Erfolg haben, übernehme ich die Leitung des neuen Standortes. Wenn du es schaffst, gilt das Gleiche.«

Ihr verwegener Vorschlag überraschte ihn. »Meinst du das ernst?«

»Ernster, als du dir vorstellen kannst.«

Eine Wette ... Joe spielte im Kopf rasch die Möglichkeiten durch. »Was ist mit deinem Vater?«

»Wir sagen ihm, dass du und ich das Geschäft gemeinsam abwickeln wollen. Er wird froh sein, sich nicht zwischen uns entscheiden zu müssen.«

Joe nickte zustimmend. Diese Wette würde Mr Carrington die Entscheidung gewissermaßen abnehmen. Außerdem musste Atlantic-Southern endlich aktiv werden, sonst würde ein anderer Käufer zuschnappen.

»Dir ist aber bewusst, dass ich wesentlich mehr Erfahrung mit solchen Geschäften habe als du?«, fragte er vorsichtig. »Was hast du schon vorzuweisen? Ein paar Kurse in Geschichte, vielleicht auch in Mathematik und Naturwissenschaften. Ach ja, und nicht zu vergessen hast du einige Monate lang die Akten in Mr Smithsons Büro abgeheftet. Aber das bereitet dich wohl kaum auf Verhandlungen mit den führenden Köpfen der Geschäftswelt vor.«

»Lassen wir es doch darauf ankommen.«

Joe betrachtete sie eingehend. Der entschiedene Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht entsprach so gar nicht ihrem damenhaften Äußeren. Aber Meryl hatte den Konventionen ja schon immer getrotzt. »Wenn ich gewinnen sollte, wirst du deinen Vater also nicht piesacken, bis er dich zur Leiterin der neuen Abteilung macht? Habe ich das richtig verstanden?«

»Ja, ganz recht.«

Joe gefiel die Vorstellung, Meryl auf diese Weise ihre Grenzen aufzuzeigen, doch dann dämmerte ihm, dass sich daraus ein weiteres Problem ergab. »Moment mal. Wenn wir tatsächlich gemeinsam nach San Francisco reisen, wird dein Vater von mir erwarten, dass ich mich um dich kümmere.«

Meryl blitzte ihn warnend an. »Das solltest du lieber lassen. Ich bin durchaus in der Lage, selbst auf mich aufzupassen. Schließlich gehöre ich schon beinahe in die Riege der alten Jungfern.«

»Alte Jungfer? Du?!« Er konnte sich keine Frau vorstellen, die weniger von einer alten Jungfer hatte als Meryl.

»Du musst dich nicht darum sorgen, dass mein Vater schlechter von dir denken könnte, weil du nicht die ganze Zeit meinen Beschützer spielst. Wenn die Sache vorbei ist, werde ich ihm alles erklären. Darauf gebe ich dir mein Wort, und ich erwarte das Gleiche von dir.«

Für Joe war diese Wette ein leichtes Spiel – er konnte nur gewinnen. Doch was er davon hielt, stand auf einem anderen Blatt. Aber dann warf er seine letzten Bedenken über Bord und streckte Meryl seine Hand entgegen. »Also gut. Du hast mein Wort. Wer die Verhandlungen mit Westgate erfolgreich zum Abschluss bringt, wird Leiter der neuen Abteilung.«

Meryl ergriff seine Hand und schüttelte sie. »So einfach ist das.«

Joe nickte und blickte ihr ins Gesicht. »Plagegeist. Dir ist doch hoffentlich klar, dass ich als Mann im Vorteil bin?«

Sie entzog ihm ihre Hand und stieß ihn leicht vor die Brust. »Ganz ehrlich, Joe, ich betrachte dich nicht als Mann.«

Dann drehte sie sich mit raschelnden Röcken in Richtung Salon um. »Lass uns meinen Vater informieren.«

Verdammt, sie konnte ihn wirklich zur Weißglut treiben. Na schön, er betrachtete sie schließlich genauso wenig als Frau. Sie war bloß ein verrücktes Mädchen mit verrückten Ideen und würde schon bald die Quittung dafür bekommen.

Küsse unterm Weihnachtsbaum

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