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IM WARTEZIMMER

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Schon beim Betreten des Raumes spüre ich die kritischen Blicke der lieben Mitwartenden. Sie durchbohren mich förmlich. Auf meinen halblauten Gruß hin erhebt sich allgemeines Gemurmel. Ich kann es sowohl als „Guten Tag“ aber auch als „Geh zum Teufel“ interpretieren.

Ich angele nach einer gut gebrauchten Illustrierten vom Tisch, um mich möglichst unauffällig über deren Rand hinweg zu vergewissern, wie viele Leidensgenossen ich noch durchzulassen habe, ehe ich den Quell des Heils – das Sprechzimmer des Arztes – erreiche. Vorläufig haben nämlich die Götter das Warten vor das Ziel gesetzt. Und trotz Termin kommen seltsamerweise immer andere vor einem dran. Zwei Klassen-Medizin: Ich bin Zweitklässler.

In der ergatterten Zeitung strahlen mir trotz eisiger Außentemperaturen süße Bikinimädchen entgegen. Ich forsche leicht irritiert nach dem Datum des Blättchens: Na klar! Vom letzten Sommer. Jaja, der Onkel Doktor kann sich auch nicht ständig neue Zeitungen leisten.

Zwischenzeitlich zähle ich diskret die Vorzulassenden. Elf. Für jeden eine Viertelstunde sind hochgerechnet 11 Viertel, also rund drei Stunden plus/minus etwas. Bis dahin kann ich das Blättchen auswendig.

Ich schaue mir die Mitwartenden genauer an. Da ist zunächst die Dame undefinierbaren Alters. Kluge Augen hinter getönter Brille. Lehrerin? Sie hat sich ihren eigenen Lesestoff mitgebracht. Intellektuellen, versteht sich. Recht hat sie.

Daneben ein Herr, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Ephraim Kishon hat. Ständig dreht er an seinem Ehering. Erklärlich, seine bessere Hälfte, die auf den nächsten anderthalb Plätzen thront, erdrückt den Ärmsten fast. Sie versucht, ihn über Diät-Rezepte aufzuklären, die sie gerade in einem der anderen zerfledderten Blättchen fand. Aber Männe mag keine Rezepte hören. Er starrt lieber auf seine Hände und dreht und dreht. Vielleicht ist er Dreher von Beruf?

Als nächster ist wohl der Dürre mit den Spinnenfingern an der Reihe. Mutti hat ihn richtig herausgeputzt für den Onkel Doktor. Sie ist auch lieber gleich selbst mitgekommen. Irgendetwas scheint sie aber an seiner Garderobe übersehen zu haben: Auf seiner Hose befindet sich offensichtlich ein Staubkörnchen oder ein unsichtbares Fädchen. Es erregt den Unwillen des Trägers. Ständig ist er bemüht, etwas abzuklopfen oder abzuzupfen. Mutti versucht inzwischen nach Art der Weitsichtigen, Zeitung zu lesen, so weit ihre Arme reichen.

Dann ist da noch der junge Fußball-Fan. Sein T-Shirt dokumentiert, zu welchem Club er sich hingezogen fühlt. Hin und wieder unternimmt er den Versuch, gewaltsam seine Finger zu verkürzen, indem er an den Nägeln nagt. Als das nichts fruchtet, beginnt er unhörbare Etüden auf seine Jeans zu hämmern.

Auf einem anderen Stuhl hockt ein junger Mann mit Pop-Socken und erklecklich langen Beinen. Zum xten Mal liest er jetzt seinen mitgebrachten Flyer. So viel kann doch unmöglich dadrin stehen?

Die junge Dame neben dem Gummibaum versucht, gegen eine Bronchitis anzukämpfen. Diese behält jedoch die Oberhand und elegant flötet die Frau ihre Bazillen durch die sorgsam manikürte Hand hin zur Allgemeinheit. Sie teilt offenbar gern …

Und dann ist da noch ein betagtes Ehepaar und eine etwas griesgrämig dreinblickende Dame, die versucht, mit Hilfe eines Tüchleins die Bazillen der jungen Frau zu erlegen. Waidmannsheil!

Inzwischen ist noch ein älteres Frauchen mit dem üblichen Rhabarber-Gemurmel empfangen worden. Sie hört kaum hin, packt ihr Strickzeug aus und versinkt in eins links-eins rechts-Apathie …

Dieser anheimelnde Raum wird weiterhin noch von einem lädierten Schirmständer, einem poppigen Papierkorb und einem steril sauberen Waschbecken bevölkert. Der Doc sollte allerdings mal den Wasserhahn zur Kur schicken. Allerdings beim Klempner. Er tropft und tropft und nervt und nervt … Und noch immer vierzig Minuten bis zur Sprechstunde …

„Ephraim Kishon“ ist von seiner Dreherei abgekommen. Er hat etwas Neues: Er hält seine Finger gelenkig, indem er an jedem kurz reißt. Das ergibt in jedem Fall ein apartes Knackgeräusch. Seine Gattin blickt indigniert. Junge lass das! Gleich gibt’s was auf die Finger!

Der Spindeldürre hat sein Staubkörnchen immer noch nicht erwischt. Stattdessen hat Mutti ein Rezept in einer Zeitung entdeckt, was wert ist, abgeschrieben zu werden. Sie kramt in ihrer Tasche und fördert nacheinander Hustenbonbons, Knirps, eine leere Ausweishülle und ein penetrant nach Leberwurst riechendes Butterbrot zutage. Alles wird hübsch sauber auf die ausgelegten Zeitungen auf dem Tisch drapiert. Nach dem Hausschlüssel und einem leeren Brillenetui erblickt dann noch ein Briefumschlag das Licht des Wartezimmers. Der müsste eigentlich als Notizzettel reichen. Nur Mutti kann immer noch nicht schreiben. Sie vermisst ihre Brille. Der Dürre leiht seine her, nur die rutscht Mutti ständig von der Nase. Das Unternehmen „Rezeptabschreiben“ wird abgeblasen. Sämtliche Utensilien verschwinden wieder im Dunkel der Handtasche.

Inzwischen hat der junge Mann aus seinem Flyer eine Fliegenklatsche gefaltet. Aber nun gibt es keine Fliegen und die Klatsche passt nicht in seine knallengen Jeans. Pech für ihn.

Die junge Dame schnüffelt und der Bubi vom 1. FC Wadenbrecher spielt seine Chopin-Etüde auf seiner Hose zum fünften Mal.

Und der Wasserhahn tropft … Immer noch 20 Minuten bis zur Sprechstunde.

Jemand rumort’s im leeren Magen. Alle Blicke wenden sich ihm zu. Einige lächeln verständnisinnig. Beschämt betrachtet der Knurrer seine Schuhspitzen. Ach ja, nüchtern kommen und dann so lange warten müssen ist eine Tortur.

Vielleicht sollte man mal laut einen zünftigen Witz erzählen, damit alle mal herzhaft lachen. Oder man könnte einen Sirtaki tanzen, weil einem sonst die Beine vom langen Warten einschlafen. Nicht nötig! In diesem Moment kommt ein Neuer. Er humpelt auf den Dürren zu: Arbeitskollegen. Endlich kommt Schwung in den Wartezimmer-Mief. Der Neue ist nämlich Experte. Bandscheibe. Nicht bei sich, nein, bei der Freundin von der Cousine seiner Schwägerin. Entsetzlich, was die Frau mitgemacht hat! Unverblümt und lautstark lässt er alle Umsitzenden an dem Martyrium teilhaben. Während er bis ins Kleinste von Krankengeschichten, Kliniken, Ärzten mit Fehlurteilen, Streckbetten und so weiter erzählt, hören alle ergriffen zu und lassen sich einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagen. Fürchterlich! Grausam! Da kann man mal wieder sehen … Es geht doch nichts über die eigene Gesundheit! Ach, diese Ärzte …

Tropf – tropf – tropf

Jetzt sind’s nur noch fünf Minuten bis zur Sprechstunde …

Der Boulevard-Blättchen-Mann ist es leid, nach Unterbringungsmöglichkeiten für seine Zeitung zu suchen. Er nimmt all seinen Mut zusammen, durchmisst gelassenen Schrittes unter den prüfenden Augen der übrigen Wartenden das Zimmer und schon endet das Presse-Erzeugnis mit einem lauten „blöbb“ im Papierkorb.

Die junge Dame hustet geräuschvoll und lutscht ihr zwölftes Hustenbonbon. Der Bubi scheint sein Pensum für die Klavierstunde zu beherrschen. Sein Getrommel hat aufgehört.

Plötzlich tut sich was im Nebenzimmer. Gespräche, Schritte. Alle halten den Atem an. Ist’s soweit? Da quäkt schon der Lautsprecher: „Der Nächste bitte!“ Der Glückliche erhebt sich steifbeinig und verschwindet. Er hat’s geschafft!

Und plötzlich ist der Bann gebrochen. Alle reden miteinander, nicht mehr halblaut und verklemmt, sondern ganz normal. Dagegen kommt die Bandscheibe nicht mehr an.

Wem diese Story bekannt vorkommt, der ist garantiert Kassenpatient. Alle Privatversicherten bitte weghören!

Rette mich wer kann!

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