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Gesellschaftlicher Wandel

Der Grund für das Zusammenleben ist uns Menschen in die Wiege gelegt. Durch die Fähigkeit des Menschen, sich in alles Mögliche spezialisieren zu können, gibt es nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, der Kreativität in dieser Welt Ausdruck zu verleihen. Kreativität kann allerdings nur gelebt werden, wenn der Mensch sich aus seiner Zwangsrolle löst, die er in der Gesellschaft angenommen hat. Der Zwang, einzig dem Leistungsdruck in der Gruppe gerecht zu werden und sonst keiner höheren Aufgabe verpflichtet zu sein, schafft eine Abwärtsspirale der Unterdrückung und Ausbeutung, aus der sich besonders Arbeiter nahe der Armut nicht befreien können. Dafür ist die Angst vor der Einsamkeit und der Verbannung aus der Gruppe zu groß. Die Ausbeutung der Arbeitskraft (heute spricht man bereits vom Begriff des Humankapitals) innerhalb bestehender Gesellschaften schafft eine äußere Illusion der Verbundenheit. Im Inneren herrscht jedoch die Einsamkeit, denn die Isolation und Loslösung von spirituellen Wurzeln begrenzt auch die Freundschaft und den liebevollen Umgang mit Mitmenschen auf materielle Weise.

Dieses Problem wurde bereits von Denkern wie Ken Wilber beleuchtet und im Quadranten-Modell eingehender dargestellt. Kurzum: Die Wirklichkeit lässt sich aus der Perspektive von innen oder außen betrachten und vom Standpunkt des Individuums oder des Kollektivs. Daraus entstehen vier Quadranten, der intentionale (innerlich, individuell), der kulturelle (innerlich, kollektiv), der verhaltensbezogene (äußerlich, individuell) und der soziale (äußerlich, kollektiv). Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte offenbart nach Wilber eine Verwesung der gesamten Inneren Sphäre, insbesondere jedoch der individuell-inneren Sphäre. Die Gesellschaft in der Postmoderne scheint sich mehr für die kollektiven Fragen zu interessieren und blendet demnach das Individuum und seine Bedürfnisse fast vollständig aus. Ein Beispiel: Nicht selten erleben Menschen, dass ihre Meinung als „subjektiv“ abgestempelt wird und damit nichts wert ist, weil es im Gegensatz zur allgemeingültigen Wissenschaft steht. Ein weiteres Beispiel: Insbesondere in Deutschland ist kaum noch Kultur vorhanden, dies hat der Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özoguz deutlich gemacht: „Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.“13

Demgegenüber blüht die Politik der Sozialsysteme, der deutsche Bürger, so scheint es, kommt kaum ohne seine Rentenversicherung, Krankenversicherung, Kfz-Haftpflichtversicherung oder sein Arbeitslosengeld aus. Aber nicht nur die obligatorischen Sozialsysteme haben Hochkonjunktur, insbesondere auch die freiwilligen Sozialversicherungen sind gefragter denn je. Hier schlägt der „äußere Quadrant“ ganz eindeutig den „inneren Quadranten“. Zur Veranschaulichung füge ich eine einfache Darstellung des Quadranten-Modells ein:


Abbildung: Das Quadranten-Modell in der Integralen Theorie nach Ken Wilber. Jeder Quadrant stellt dabei eine Perspektive der Wirklichkeit dar. Wie bereits erwähnt, ist über die letzten Jahrhunderte (vielleicht sogar Jahrtausende) die intentionale Ebene gegenüber der sozialen Ebene verkümmert. Natürlich gibt es auch in dieser Theorie Schwachstellen, aber insgesamt erschließt sich dieser Gedanke recht schnell und eindeutig. Lass uns nun einmal näher auf die intentionale Ebene eingehen, sodass wir die Bedürfnisse des Menschen besser verstehen können.

Die Natur macht es uns vor: Jedes Tier, so auch der Mensch, übernimmt automatisch bestimmte Werte, Normen und Verhaltensmuster durch das im Körper angelegte Netzwerk an Spiegelneuronen. Spiegelneuronen sind der Wissenschaft gut bekannt und werden für das Lernverhalten als grundlegend anerkannt, da sie jedem Lebewesen auf einfachste Art das Überleben ermöglichen. Jedes Kind wird sich bei den Eltern abgucken, wie es mit der Umwelt umgeht, dazu ist kein „erwachtes“ Bewusstsein nötig. Im späteren Verlauf des Lebens verschiebt sich die Wahrnehmung auf die äußeren sozialen Kontakte außerhalb der Familie, sodass die Verhaltensweisen der Gruppe ebenfalls (vorerst) kopiert werden. Erst durch die Bewusstwerdung; der Identifizierung mit dem rationalen Verstand und der Möglichkeit zur kritischen Reflexion; durch die Enttäuschung der geglaubten Sicherheit und Konfrontation mit dem Tod beginnt das bewusste Hinterfragen dieser unbewusst erlernten Glaubenssätze.14

Richard Dawkins beschreibt Glaubenssätze als Gene des Geistes, die versuchen, sich zu replizieren und um ihr Überleben zu kämpfen - daher auch der passende Name Mem (engl. mimetics: Nachahmung, anlehnend an das Gen, Erbgut des Menschen). Dabei dient jedes Mem in erster Linie der Anpassungsfähigkeit des Organismus zum eigenen Überleben in der Gruppe. Kommt der Lernende mit den eigenen Unzulänglichkeiten und Fehlern in Kontakt, die ihm seine Unvollständigkeit aufzeigen, so wird er, getrieben von seinem Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe, versuchen, diese Fehler zu verstecken, zu ignorieren oder wenn gewusst wie auszubessern.

Ein Kind, das noch vollständig in der Unbewusstheit über das eigene Selbst lebt, hat kein Interesse daran, sich das eigene Unvermögen zu beweisen. Vielmehr wird es das tun, was zum Wohle aller, aber vorrangig dem eigenen Überleben dient. Das Überleben kann am effizientesten gesichert werden, wenn selbstsändig eine Gruppenharmonie geschaffen wird. Hierzu wurden in den letzten Jahrzehnten immer mehr wissenschaftliche Arbeiten angefertigt, die beweisen, dass eine Gruppe von Menschen immer sinnvollere Entscheidungen trifft als der einzelne Mensch.15 So, wie auch die Ameise, die Biene und jedes andere Tier im Stamm kommuniziert, um die Bedürfnisse optimal zu befriedigen, kann auch der Mensch als Organ eines arbeitsteiligen und sich selbst befruchtenden Organismus funktionieren. Sinnbildlich richtet sich der Mensch damit nach seinem eigenen Abbild, seinem Körper, der ebenfalls hoch spezialisierte Organe und Zellen aufweist, die in ihrer Funktion zum optimalen Überleben zusammenarbeiten. Dieses sich gegenseitige Befruchten und Bereichern ist ein notwendiger Schritt der Natur und ein natürlicher Vorgang, um die Fortsetzung von Leben zu ermöglichen. „Nur das Leben kann dem Leben geben.“ Auf die langfristige Rebellion gegenüber dem Leben kann nur der Tod folgen (wie bei Krebszellen).

Dem Kind fehlt noch die Kontrolle über die eigenen Emotionen, sodass es keinerlei Identifizierung mit dem Verstand, so auch nicht mit dem Ego besitzt, denn Scham und Schuld kennt das Kind nicht. Durch das Bewusstwerden innerhalb der Gruppe mit den verschiedensten Glaubenssätzen und Dynamiken erfährt das erwachende Bewusstsein mit seinem Liebesbedürfnis dann einen Drang, etwas dafür tun zu müssen, um zurück in die ursprüngliche Leichtigkeit und Vollkommenheit zu finden, die außerhalb des Verstandes und im Leben selbst liegt. Erst die Realisierung, wann auch immer sie im Leben geschehen mag, dass die äußere Welt niemals eine dauerhafte Befriedigung für die eigenen Wünsche und Sehnsüchte bieten kann, führt zum Anstoß der spirituellen Entwicklung und ganzheitlichen Individualität. Auf dieser Reise von der Vollständigkeit (kindliches, emotionales) in die Unvollständigkeit (erwachsenes, rationales), um anschließend wieder in die Vollständigkeit (reifes, spirituelles) zu gelangen, muss das Kind (1) sein anerzogenes Ego (2) vollständig überwinden, um zurück zu seinem Wesen (3) zu finden. Besonders deutlich findet sich diese Deutung auch in der Zahlenmystik durch die Rückführung der 1 über die 2 zur 3. Auch in der Natur findet sich die Zahl 3 als Verkörperung der Harmonie zwischen zwei Extrema. Alle Probleme der Gesellschaft sind auf das Problem mangelnder Liebe und Fürsorge im Leben zurückzuführen, die dann in der eigenen Überzeugung enden, der Mangel könne nur durch einen Ausgleich äußerlicher Faktoren wie etwa dem Leistungsdruck, ausgeglichen werden können. Der äußere Quadrant bietet somit die Möglichkeit, sich von dem Glauben an die eigene Unzulänglichkeit zu befreien. Die reine Leistung ist aber nur auf den eigenen Vorteil bedacht, nicht auf die Harmonie, der natürlich effizientesten Lebensform. Jede Religion zeigt genau dieses Problem in unterschiedlichen Metaphern auf, wie etwa das Christentum durch den Sündenfall, der Hinduismus durch die Geschichte des Versteckenspielens Brahmans vor Maya, die griechische Mythologie durch den Kampf der Götter gegen die Titanen, die ägyptische Mythologie durch den Osiris-Mythos oder den Verlust des Horus Auge.

Somit haben wir auch den Grund dafür gefunden, wieso das aktuelle politische System des 21. Jahrhunderts unzulänglich ist. Die Möglichkeit (und Verwirklichung!) krimineller Ausbeutung und Unterdrückung von Personen (griech. Persona: Maske, Schauspieler) ist nur deshalb möglich, weil es keine ausreichende spirituelle Entwicklung und Führung gibt. Damit einher geht die fehlende Individualität und Kreativität bei Kindern zur Erlangung von Zufriedenheit und Gesundheit durch das Gefühl spiritueller Selbstliebe und darauffolgender Nächstenliebe. Wir sind inzwischen sogar schon in einer solch perversen Situation, dass wir jegliche spirituelle Führung durch unsere Geschichte abwehren; im Sinne der modernen Naturwissenschaft, die vehement versucht, Gott zu widerlegen; oder missbrauchen, wie im Fall der katholischen Kirche, mit ihren Methoden des Ablasshandels, der Hexenverbrennung oder der Kinderschändung. Ein weiteres modernes Beispiel, wie etwa das Massaker von Jonesstown (1978) zeigt die Kraft, die eine Ideologie auf uns ausüben kann.

Der innere Quadrant muss unbedingt gefördert werden! Der Mensch muss selbstsändig denken und handeln können, er muss in gewisser Weise autonom werden. Erst ein System, welches den Menschen so sein lässt, wie er in seinem Urzustand zu sein vermag, in der er also einer Arbeit nachgehen kann, für die er Leidenschaft, Talent und Interesse besitzt, in der er sich individuell einbringen kann und will, führt zu einer langfristigen Aufrechterhaltung einer spirituellen und arbeitsteiligen Gruppe, ohne diese zu schädigen. Diese Ausgangssituation, die die Notwendigkeit einer Entwicklung in Richtung der Liebe und Fürsorge als Mutter aller Religionen darlegt, dient nun zur Konzeption einer neuen und doch altbewährten Gesellschaftsstruktur, die jedoch mit den bisherigen bekannten Modellen vollständig unterschiedlich ist.


Abbildung: Die Bedeutung des Lotus liegt in seiner Vielfältigkeit. Den Lotus gibt es in verschiedenen Farben (weiß, lila, blau, rosa, rot), welche kulturell bedingt unterschiedlich gedeutet werden. Darum ist der Lotus auch ein perfektes Sinnbild für die Kommune. Jede Kommune ist anders und legt ihre Werte selbst fest. Allen Kommunen ist jedoch gleich, dass sie den Menschen in seiner spirituellen Entwicklung fördern sollen. Und dazu zählen insbesondere die oben aufgeführten Werte Individualität, Freiheit, Autonomie, Gesundheit, Gemeinschaft und Selbstverwirklichung. Eine weitere passende Analogie zur Kommune bietet der Lotuseffekt. Dieser beschreibt, dass Oberflächen sich selbst durch die geringe Benetzbarkeit von Schmutz befreien können. So sollte es sich auch mit der Kommune verhalten: Der äußere Druck und die äußeren Belastungen sollten durch die innere Harmonie und Dynamik einfach von der Kommune abperlen können. Der Lotus ist somit auch Sinnbild für die Resilienz der Kommune.

Ich bin mir dessen bewusst, dass die Kommune keine Utopie bieten wird, die dem Menschen ewige Glückseligkeit bieten kann. Aber ich glaube daran, dass dieses Gesellschaftsmodell anders als die meisten anderen Formen des Zusammenlebens nicht zum Scheitern verurteilt ist, sondern sich nachhaltig etablieren kann.

Im nächsten Kapitel wollen wir uns näher mit dem Bezug der Philosophie zur Gesellschaft und zur Kommune befassen.

Leben in Kommunen

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