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S ieht immer noch genauso aus wie damals.

Als Michelle das Lokal betrat, war es wie ein Déjà-vu, das keine guten Gefühle in ihr auslöste. Doch es war kein Déjà-vu, denn sie war ja tatsächlich schon einmal hiergewesen. Ein einziges Mal. Und das hatte sie verdrängt, soweit sie konnte.

Den Flügel und die Bühne im Hintergrund hatte sie damals gar nicht so richtig wahrgenommen. Sie war auf etwas anderes konzentriert gewesen. Auf Cait. Automatisch pressten ihre Kiefer sich aufeinander.

»Guten Abend.« Eine junge Frau, die zur Begrüßung der Gäste am Eingang stand, lächelte sie freundlich an. »Eine Person?«

Michelle nickte, während ihr Blick noch immer durch den langgestreckten Raum schweifte. Die Tische im Vordergrund waren schon recht gut besetzt. Ein paar Personen aßen bereits, die meisten unterhielten sich jedoch nur, lachten und erwarteten offensichtlich einen schönen Abend. Oder hatten ihn schon. Mit der Frau, die ihnen gegenübersaß.

»Haben Sie eine Reservierung?«, fragte die junge Frau jetzt.

»Nein.« Michelle schüttelte den Kopf. »Ich habe mich spontan entschieden herzukommen.«

Wie merkwürdig das klang. Normalerweise war sie überhaupt nicht spontan. Sie liebte Überraschungen nicht, egal, ob man sie ihr bereitete oder sie sie anderen bereiten sollte. Planung war ihre Devise. Nur so erreichte man die Ergebnisse, die man erreichen wollte.

»Die Tische an der Bühne sind alle reserviert.« Das Gesicht, das von halblangen dunklen Haaren eingerahmt wurde, schaute sie bedauernd an. »Wir haben heute Open Mic Night. Da sind die immer sehr begehrt.«

Open Mic Night. Das hieß also, Cindy war heute Abend nicht die einzige, die auf dieser Bühne auftreten würde. Michelle hatte sich schon gefragt, wie es zu diesem Auftritt gekommen war. Schließlich war Cindy keine professionelle Entertainerin. Noch nicht einmal eine Hobby-Entertainerin. Sie war gar keine Entertainerin. Warum sie sich plötzlich dazu entschlossen hatte, daran etwas zu ändern, konnte Michelle sich nicht erklären.

Es sei denn, Candice hatte etwas damit zu tun und sie dazu überredet. Candice stand immer im Rampenlicht. Das war für sie nichts Besonderes, sondern ihr normales Leben. Vielleicht hatte sie Cindy davon überzeugt, dass es auch ihr normales Leben werden sollte. Oder zumindest ein Teil davon. Weil Michelle sich nicht genug um sie kümmerte?

»Würden Sie mir bitte folgen?« Die junge Frau nahm eine Menükarte und ging Michelle voran ein paar Schritte in den Raum hinein.

Mechanisch folgte Michelle ihr, auch wenn sie einmal fast stolperte, weil ihr Blick immer noch auf die Bühne gerichtet war, die leer auf den Auftritt der ersten Person, die sich an diesem Abend dem offenen Mikrofon stellen wollte, wartete. Würde das Cindy sein?

»Bitte.« Mit einem einladenden Lächeln wies die sehr junge Frau – sie war höchstens Anfang zwanzig, vielleicht eine Studentin, für die das hier ihr Nebenjob war – auf einen kleinen Tisch, der in einer Ecke stand. »Mein Name ist Taylor, und ich bin heute ihre Kellnerin.« Sie machte eine kleine Pause, damit Michelle sich setzen konnte, bevor sie fragte: »Wissen Sie schon, was Sie trinken möchten?«

»Bourbon«, sagte Michelle automatisch. »On the rocks. Und seien Sie vorsichtig mit dem Soda.«

Taylor nickte, legte die Menükarte vor Michelle hin und drehte sich um.

Obwohl Michelle ihr hinterherschaute, als sie sich nun zur Theke begab, sah sie sie nicht wirklich. Sie war nur ein Teil dieses Raumes, der vor ihrem Blick verschwamm. Sie erinnerte sich. Sie wollte es nicht tun, aber sie konnte es nicht verhindern.

Als sie damals hier hereingekommen waren, Cait und sie, hatte sie sich nicht sehr intensiv umgeschaut. Es war Caits Aufgabe gewesen, sich um sie zu kümmern, so wie es ihre, Michelles Aufgabe gewesen war, sich in Orlando um Cait zu kümmern. Hier in Miami hatte sie nicht die Verantwortung.

Im Nachhinein war dieses Lokal ihr wie ein dunkler Vorhof zur Hölle erschienen, aber jetzt stellte sie fest, dass es gar nicht so dunkel war. Es war keine Schmusekneipe, die mit schummrigem Licht dazu einlud, hier das Vorspiel für spätere Sexgelage abzuziehen. Es war in erster Linie ein Restaurant, in dem Frauen allein unter Frauen sein konnten, für einen schönen Abend zu zweit.

»Haben Sie sich schon entschieden?« Taylor kehrte zurück, stellte den Bourbon vor Michelle hin und blickte sie fragend an.

Michelle schüttelte den Kopf »Ich glaube, ich will nichts essen. Ich habe keinen Hunger.« Das war eindeutig die Wahrheit, denn jeglicher Appetit, den sie eventuell hätte haben können, war ihr schon längst vergangen. »Später vielleicht.« Sie lächelte kurz, aber das Lächeln verschwand sofort wieder von ihren Lippen.

Taylor nickte berufsmäßig lächelnd, wie sie es auch getan hätte, wenn Michelle etwas bestellt hätte, und verschwand an die Tür zurück, um weitere Gäste zu begrüßen. Sie würde in kurzen Abständen wiederkommen, um entweder Michelles Glas aufzufüllen oder ihre Bestellung fürs Essen aufzunehmen, sobald Michelle Lust dazu hatte.

Anscheinend sollte die Open Mic Night nun beginnen, denn das Bühnenlicht strahlte auf, und der Raum wurde leicht verdunkelt. Eine etwas ältere Frau – möglicherweise die Besitzerin dieses Lokals – betrat die Bühne, nahm das Mikrofon und begrüßte die Gäste mit einem Scherz, der das Publikum zum Lachen brachte.

Michelle nicht, aber sie hatte auch gar nicht richtig zugehört. Aufregung machte sich in ihr breit. Sie spürte die Anspannung, die ihre Finger sich fester um ihr Bourbonglas legen ließen.

Wie üblich waren die meisten, die sich für dieses Event angemeldet hatten, Stand-up Comedians. Eine ältere Frau begann den Reigen, und offenbar war sie vielen der Anwesenden schon bekannt, denn begeisterter Applaus begrüßte sie, als sie die Bühne betrat. So, wie die Besitzerin, die gleichzeitig die Bühne verließ, kurz ihre Hand liebevoll über die Hüfte der Künstlerin gleiten ließ, konnte man vermuten, dass sie wahrscheinlich ein Paar waren.

Nach diesem ersten Auftritt, der das Publikum richtig angeheizt hatte, erschien eine junge Frau mit einer Gitarre auf der Bühne, die ziemlich schüchtern wirkte. Durch das bereits freundlich gestimmte Publikum nahm ihre Schüchternheit jedoch schnell ab, nachdem sie die ersten Akkorde angeschlagen hatte und die ersten Liedzeilen des Countrysongs, den sie sang, von ihren Lippen geflossen waren.

Danach übernahmen die Stand-up Comedians wieder das Ruder, nur unterbrochen von einer Frau, die selbstgeschriebene Gedichte vortrug, bis Michelle bei ihrem dritten Bourbon angekommen war.

»Und jetzt kommt etwas ganz Besonderes«, kündigte nach dem Abgang einer Komikerin, die nicht mehr als freundlichen Applaus aus dem Publikum hatte herausholen können, die Besitzerin, die offensichtlich auch die Moderatorin des Abends war, mit einem Augenzwinkern an. »Eine Künstlerin, die neu auf dieser Bühne ist. Mit etwas, das man an Christmas Eve vielleicht nicht so erwartet.«

Das Publikum war mit jedem ihrer Worte leiser geworden, weil sie schon allein mit ihrer Stimme eine Atmosphäre erzeugt hatte, als wollte sie ein Geheimnis verraten. Wenn alle ganz genau zuhörten.

Michelle saß kerzengerade auf ihrem Stuhl. Sie hielt sich kaum noch darauf. Wenn das jetzt Cindy war . . .

Und tatsächlich, sie war es, denn die Conférencière lüftete das Geheimnis schon. »Lockt sie bitte mit einem Applaus heraus.« Sie begann leise in die Hände zu klatschen. »Ich präsentiere euch . . . Cindy Claybourne!«

Atemlose Stille wurde von erwartungsvoll klatschenden Händen abgelöst, verwandelte sich aber sofort wieder in atemlose Stille, als Cindy die Bühne betrat. Gleich darauf ertönte von einem Tisch eine Art Johlen und dann sogar ein Pfeifen. Das von einigen anderen aufgenommen wurde.

Michelle hätte gar nicht mehr die Luft gehabt zu pfeifen – wenn sie das überhaupt hätte tun wollen –, denn Cindys Outfit raubte ihr das letzte bisschen Atem, das sie noch zur Verfügung gehabt hatte. Sie hatte es ja gewusst, Candice hatte es ausführlich genug angekündigt, aber etwas zu wissen und etwas zu sehen waren immer noch zwei verschiedene Dinge.

Das schulterfreie weiße Kleid, das wirklich wie eine zweite Haut saß, ging fast bis zum Boden, aber als Cindy einen Schritt auf den Flügel zumachte, öffnete es sich mit einem langen Schlitz, der Cindys Bein wie eine lockende Versuchung herausblitzen ließ. So einen Schlitz hatte Michelle selbst bei Frauen wie Candice selten gesehen. Es schien, als wäre das Kleid noch einmal extra nach oben geöffnet worden.

Sie hörte, wie einige im Publikum nach Luft schnappten, als Cindy nun weiterging. Hatte sie immer schon so schwingende Hüften beim Gehen gehabt? Mittlerweile hatte sich eine Frau im Smoking an den Flügel gesetzt und blickte Cindy entgegen.

Cindy ging lächelnd auf sie zu, nickte und lehnte sich dann ziemlich lasziv an den Flügel, das Bein vorgestellt, das der Schlitz frei sehen ließ. Das Mikrofon stand direkt vor ihr, und mit ihrer melodischen Stimme kündigte sie an: »Ihr kennt dieses Lied alle. Es ist das einzige Weihnachtslied, das keinen eigenen Titel braucht. Es heißt einfach nur . . .«, sie machte eine Kunstpause, »The Christmas Song

Die Frauen im Saal klatschten begeistert, und Cindy und ihre Begleiterin am Klavier warteten ab, bis sie sich wieder beruhigt hatten, dann schlug die Pianistin die ersten Akkorde an, entwickelte die Melodie ins Intro, und auf einmal erklang Cindys Stimme. »Chestnuts roasting on an open fire . . .«

Tat sie das extra? Michelle lief es abwechselnd heiß und kalt den Rücken herunter. Sie hatte immer schon gewusst, dass Cindy eine sehr melodische Sprechstimme hatte, aber ihre Singstimme war . . . mehr als melodisch. Sie war verführerisch, hauchte manche Noten nur, sang andere, als wäre sie in einer Kirche, und dann wieder, als wollte sie sämtliche hier anwesenden Frauen gleich vernaschen. Wenn ihr Outfit schon sexy war, aber wie sie dieses Lied sang, das war fast schon . . . mehr als erotisch.

»Na, gefällt es dir?« Das war eine andere Stimme da fast direkt an ihrem Ohr.

Nachdem sie zusammengezuckt war, drehte Michelle sich zu Candice um, die hinter ihr stand und ihr ins Ohr geflüstert hatte. Sie musste sich von der Küchentür herangeschlichen haben, denn sonst hätte Michelle sie gesehen.

»Hast du schon jemals solche heißen Kastanien aus dem Feuer holen müssen?«, fuhr Candice sie aufziehend fort und wies mit ihrem Kinn auf Cindy auf der Bühne.

»Du bist dafür verantwortlich, oder?«, fragte Michelle endlich, nachdem sie sich halbwegs wieder gefasst hatte, und drehte ihr Gesicht zur Bühne zurück, wo Cindy sich zwischenzeitlich ein wenig auf den Flügel gelegt hatte und sich dort räkelte. Zudem streichelte sie ihn bei jeder Silbe, die sie sang, mit sanften Fingern, als wäre es kein Flügel, sondern etwas anderes. Jemand anderes.

»Nein, du«, sagte Candice und ließ sich neben ihr am Tisch nieder. »Wenn du dich nicht so blöd angestellt hättest mit Weihnachten, wäre das nicht nötig gewesen.«

Das konnte Michelle so nicht akzeptieren, aber sie konnte auch nicht antworten, weil sie ihre Augen nicht von Cindy nehmen konnte und das eine Kurzatmigkeit bei ihr verursachte, die sich fast so anhörte, als hätte sie ihr Leben lang geraucht.

»Nun geh schon nach vorn«, forderte Candice sie ungeduldig auf. »Für mich macht sie das nicht, was sie da oben veranstaltet.«

Normalerweise ließ Michelle sich keine Befehle erteilen, aber jetzt stand sie fast wie in Trance auf und durchquerte das Lokal, ging an den Tischen vorbei, als wäre sie durch ein unsichtbares Band mit der Bühne verbunden und würde mit aller Kraft herangezogen.

So dunkel war es im Raum nicht, dass Cindy sie nicht sehen konnte, als sie bei den vorderen Tischen angekommen war, und es schien fast, als würde sie kurz stutzen, aber sie unterbrach ihren Vortrag nicht. Auch nicht die lasziven Bewegungen auf dem Flügel, bei denen man annehmen musste, dass sich seine Farbe gleich von Schwarz in Rot verwandeln würde.

Cindys Augen ließen Michelle nicht los, als sie nun zum Ende des Liedes kam. Scheinbar war sie davon so abgelenkt, dass sie, als sie gerade »Merry Christmas to . . .« hauchte, als ob das eine Aufforderung zum Sex wäre, auf einmal das Gleichgewicht verlor, von der glatten Oberfläche des Flügels nicht gehalten werden konnte und herunterfiel. Sie fiel nicht nur auf die Bühne, sondern rutschte wie auf einer Eisbahn bis an den Rand – und dann darüber.

Auch wenn Michelle noch nie so etwas getan hatte, öffnete sie sofort ihre Arme, griff nach Cindy und fing sie auf.

». . . youuu!«, hauchte Cindy mit dem letzten Ton des Liedes, lag in Michelles Armen, als ob sie da nie wieder aufstehen wollte, zog ihren Kopf zu sich herunter und versank in einen tiefen Kuss mit ihr.

Das Publikum johlte, schrie, pfiff, stand auf und klatschte. Es war eine Bombenstimmung.

Aber davon bekam Michelle nichts mit. Sie hielt Cindy im Arm und wusste auf einmal, dass sie nichts anderes tun wollte. Alles, was sie sich vorgestellt hatte, hatte nur in ihrer Fantasie existiert.

Das hier war Weihnachten, wie es sein musste.

»Ich bin so froh, dass du da bist«, flüsterte Cindy ihr mit strahlenden Augen zu, als der Kuss endete. »Frohe Weihnachten.«

Und auf Michelles Gesicht breitete sich genau das Lächeln aus, das man normalerweise nur beim Weihnachtsmann sah, wenn er Geschenke verteilte. Oder bei den Kindern, die sie erhielten.

»Frohe Weihnachten«, flüsterte sie auch, während sie in Cindys zärtliche Augen sah und fühlte, dass ihre eigenen genauso viel Zärtlichkeit auf Cindy zurückstrahlen ließen. »Diesmal und ab jetzt in jedem Jahr.«

ENDE

Ende gut, alles gut

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