Читать книгу Vom Wind Verwehte: Aussteiger unter Segeln - Udo Hinnerkopf - Страница 10

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05. Fallhöhe

Die Biskaya ist eine holprige Chaussee. Wer je versucht hat, mit einer kleinen Yacht, egal zu welcher Jahreszeit, den stürmischen Golf zu überqueren, kann ein Lied davon singen. Nur wenigen wird es ergehen wie jenem Segler, der ums Kap Horn herum motoren musste. Ich kenne niemanden, der die Biskaya bei Flaute allein mit tuckerndem Motor hinter sich gebracht hat.

Zum Wachwechsel trafen wir uns im Cockpit. Freund Claus, der mich auf meiner ersten Etappe in das Abenteuer Freiheit unter Segeln begleitete und der Erfahrenere von uns beiden war. Und ich, der Autor dieser Geschichten, die sich im Lauf von 40 Jahren in meinem Logbuch angesammelt haben.

Es gab heißen Tee, manchmal Schokolade und eine Zigarette. Dazu erzählte Claus seine Beobachtungen aus der Nacht und las auch mal Zeilen vor, die er beim Schein einer Taschenlampe aufgeschrieben hatte. Danach verschwand er unter Deck und ich übernahm die Wache – warm in Helly Hansen eingepackt, mit dickem Pullover und Ölzeug oben drüber. Die Nächte waren kalt, die Sterne funkelten abweisend, die See kam schwarz daher, hob und senkte das Boot, lief schlürfend darunter durch und verschwand gurgelnd im Kielwasser. Ab und an schimmerte das Licht eines Frachters oder Containerschiffes auf Gegenkurs durch die Nacht.

Am frühen Morgen legte der Wind zu, aber anders als vorausgesagt aus SW mit 4–5 von vorne. Wir kamen vom Kurs ab und steuerten hoch am Wind in den Atlantik hinaus. Das Boot stampfte sich mühsam durch das Berg- und Tallabyrinth. Beide fühlten wir uns blümerant. Kurz und bündig trug Claus ins Logbuch ein: »Heut’ schreib ich lieber nix, es dümpelt mir zu sehr – zifix!«

»Wind auf West drehend«, röhrte es Stunden später aus dem Radio. Das war schon besser. Gegen 18 Uhr Wachübergabe, diesmal mit Linsensuppe und einem starken Kaffee. Nach dem langen Schlag in den Atlantik hinaus und der Wende zurück in die Biskaya, segelten wir innerhalb des Dampfertrecks. Wo genau wir uns befanden, sagte uns der unzuverlässig gekoppelte Ort. Der verdammte Funkpeiler machte keinen Mucks; so weit draußen gab es keine Signale. Der Peilrahmen im Masttop war eigentlich überflüssig. GPS war noch nicht erfunden, wir kannten nicht einmal das Wort dafür.

Endlich raumer Wind aus NW – jetzt lief es richtig. Kurz darauf Erregung an Deck: »Wal, er bläst!« Als wir näher kamen, tauchte er ab. Lange majestätische Atlantikdünung blieb zurück, der Wal war verschwunden. Während seiner Wache schrieb Claus ins Logbuch:

»In der Biskaya im Mai / schwamm ein gigantischer Wal vorbei. / Riesig. Wetter war diesig. / So um vier Glasen, / sahen wir ihn blasen. / Früher hätten wir ihn harpunieren gekonnt … / doch er schwamm über den Horizont. / Und das Meer war wieder grau und leer.«


Freund Claus, Dichter und Planer*

Am Nachmittag tauchte Pandarea weich ein, kam achtern hoch, schüttelte sich leicht und setzte sanft in die unter ihr durchlaufende Welle. Es rauschte und gurgelte achteraus. Kein einziges Mal wurde es nass an Deck. Dazu strahlender Sonnenschein, es wurde wärmer. Der Kurs lag an, La Coruña voraus. Südwärts ho!

Plötzlich ein hässliches Knacken von oben, erschrockene Blicke zum Masttop hinauf. Der Peilrahmen auf der Spitze des Großmastes wippte im Rhythmus der Bootsbewegung hin und her. Verdammt! Wenn der sich los schaukelt und runter kommt …!

»Du bist leichter, los hinauf!« Claus griff den Bootsmannstuhl aus der Backskiste und sprintete zum Mast, rollte Groß und Genua ein – ich startete den Motor und ließ den Autopiloten langsam gegen Wind und Wellen anfahren. Das bremste das Rollen und verminderte das Schlingern. Etwas.

Den Lifebelt mit dem Reservefall gesichert und den Bootsmannstuhl mit dem zweiten Fall verknüpft … wie gut, dass wir zwei Reservefallen hatten! Claus kurbelte, die Winsch ächzte, schon schwebte ich drei Meter über dem unter mir schwankenden Deck, pendelte vom Mast weg frei über die Wellen und wieder zurück, stemmte mich mit beiden Füßen dagegen und versuchte, mich am klammen Mastholz festzuhalten.

Oben knirschte der Peilrahmen bedenklich. Hoffentlich kam der nicht gerade jetzt herunter! Schon stand ich auf der ersten Saling, dann auf der zweiten, war kurz darauf oben und krallte mich krampfhaft fest. Claus fuchtelte mir Zeichen von unten zu, die ich nicht verstand.

Im schwankenden Masttop pendelte ich mit der Schiffsbewegung hin und zurück – und jedesmal schwang das weiße Deck des zum Spielzeug geschrumpften Bootsrumpfs weit unter meinen Füßen im Rhythmus der Wellen und übertrug die rollende Bewegung zu mir herauf. Um das Schwingen zu stoppen, umklammerte ich den Mast mit beiden Beinen und zurrte mit den Händen den starren, aus zwei gekreuzten Rohren von gut einem halben Meter Durchmesser bestehenden Kreuzpeilrahmen, mit einem Tampen auf dem Masttop fest. Das Ding war sperrig und einige Kilos schwer. Mehrfach schlang ich den Tampen unter den Stag- und Wantenbeschlägen durch und verknotete alles dreimal. Sicher ist sicher.

Danach ging der Blick über das grenzenlos leere Meer bis zum Horizont. Himmel und See verschmolzen im grauen Dunst – nur der kleine, schaukelnde Bootsrumpf unter mir war gesichertes Terrain. Wie hoch hing ich über dem schmalen Deck und dem Freund, der mit dem Fernglas zu mir heraufschaute? Masthöhe 14 Meter, Fallhöhe … Wahnsinn! Würde ich an Deck landen oder im Meer? Waren die Knoten an Bootsmannstuhl und Lifebelt sicher, die Fallen stabil? Mir schwindelte.

Endlich war das Monster gesichert. »Runter!«, rief ich. »Erst Toplicht-Kontrolle!«, echote es herauf. Mir war zum Kotzen zumute, die Schaukelei im schwankenden Mast und das Festklammern mit Beinen und Händen tat meinem sonst seefesten Magen nicht sonderlich gut.

»Ok?«, kam es kaum hörbar aus dem Niedergang. Nur nicht kotzen, dachte ich und grinste säuerlich, der arme Mensch dort unten … Ich schluckte und nickte: »Brennt!«

Langsam rutschte ich abwärts. Unten angekommen, fielen wir uns in die Arme und wischten heimlich ein paar Tränen ab. Später erzählte Claus, er habe ernsthaft darüber nachgedacht, was er gemacht hätte, wenn ich von oben herunter gerauscht wäre. Egal ob ich das überlebt hätte oder nicht: wo und wie sollte er in der Weite der Biskaya Hilfe finden … wohin steuern? Zurück nach Dartmouth? In den Golf hinein nach La Rochelle? Oder weiter aufs Ziel zu, nach La Coruña?

Poseidon sei Dank war alles gut gegangen, so dass wir drei Tage später unbeschadet in La Coruña einlaufen konnten.

Doch sie sind nicht ganz verschwunden, / jene, die Kap Horn umrunden, / die noch heut auf kleinen Schiffen, / Stürmen trotzen, Klippen, Riffen, / die den Träumen hinterher – / fahren, fahren übers Meer.

Sie, die wieder leben lernen, / fern von Stress und Mietskasernen, / die Besitz, Erfolg, Karriere, / tauschen gegen Wind und Meere. / Auf der Fahrt nach nirgendwo / einfach rufen: Westward! Ho!

Aus dem Logbuch von Claus

* Wer erfahren will, was Claus, alias Capitano Claudio, nach unserem Abenteuer in der Biskaya bei Windstärke 12 vor Kap Horn erlebte, lese hier weiter: www.vallebote.de/band4-capitano-claudio/

Vom Wind Verwehte: Aussteiger unter Segeln

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