Читать книгу Reiner Kunze. Dichter sein - Udo Scheer - Страница 5
ОглавлениеKeiner kann die Mutfrage beantworten, bevor die Zumutung an ihn herantritt. Erich Kästner
Impressionen vorab
Folgt man der Uferstraße von Passau nach Erlau, beeindruckt die kraftvolle Gelassenheit, die Majestät der Donau wenige Meter nebenan. Nur eine kleine Böschung trennt das Straßenband vom mächtigen Strom. Welch ein Vertrauen, denkt der Reisende. Oder ist es Naivität?
Im Jahr 2013, genauer im März, nahm die Idee der Journalistin und Autorin Christiane Baumann Gestalt an, einen Interviewfilm mit Reiner Kunze zu drehen. Im Mittelpunkt sollten seine Erfahrungen in Westdeutschland seit seiner erzwungenen Ausreise 1977 stehen. Der Verfasser dieser Zeilen wurde gefragt, ob er daneben eine Annäherung an Reiner Kunzes Lebensweg und Werk schreiben könnte? Das bedurfte Bedenkzeit – nicht nur mit Blick auf die Kürze der verfügbaren Zeit. Immerhin vermerkt der Kalender unbestechlich den 16. August als 80. Geburtstag. Vor allem die Achtung vor diesem Dichter der leisen Töne, die Hochachtung vor seinem Anspruch an Wahrhaftigkeit musste jede Zusage vermessen erscheinen lassen.
Es war Reiner Kunze, der im Telefonat in seiner unwiederbringlichen Art befand: „Da müssen wir wohl durch in diesem Jahr. Wenn Sie das auf sich nehmen wollen …“
„Am Sonnenhang“, treffender hätte der Name für die kleine, gediegene Randsiedlung in Erlaus Südlage nicht gewählt sein können. Das Anwesen von Elisabeth und Reiner Kunze überrascht. Dort, wo die Donau unten einen malerischen Bogen zieht, liegt ihr Grundstück im ureigensten Wortsinn an einem Sonnenhang und geht direkt in den hohen Wald eines Naturschutzgebietes über. Das Haus kündet vom Angekommensein der beiden.
ENTWURF UNSERES HAUSES
FREI NACH ALFRED KUBIN
Das fenster deines zimmers soll wimpern haben
Die schwelle ins haus
eine züngelnde schlange (keines menschen
tod noch wunde, nur
erinnerung an eines jeden
einziges leben)1
Dieses Haus über der Donau hat Charakter. So in die Hangschräge gebaut, wirkt es von außen größer als es tatsächlich ist. Seine Fassade ist von schlichtem Weiß, und Weiß dominiert im Inneren. Auch dreißig Jahre nach seiner Fertigstellung erscheint es in seiner Architektur und Einrichtung modern. Die sparsame, zugleich gediegene Zweckmäßigkeit überzeugt. Nichts lenkt ab von den wichtigen Dingen, von den Gemälden Alfred Kubins, von den Holzschnitten HAP Grieshabers, von den beeindruckenden Tierplastiken und Tierzeichnungen Heinz Teuerjahrs aus dem Bayerischen Wald. Nichts lenkt ab vom guten Gespräch in der großen lichtdurchfluteten Bibliothek, die zugleich das Wohnzimmer ersetzt, und nichts stört den schweifenden Blick durch das Panoramafenster über dem Donaubogen. Neben der Bibliothek, in der Mitte der oberen Etage, liegt die helle Essküche mit direktem Durchgang zum Balkon. Die andere Frontseite des Obergeschosses nimmt das große Arbeitszimmer ein. In der Mitte ein Schreibtisch, der Bände füllende Geschichten erzählen könnte. So aufgeräumt, wie er ist, erzählt er erst einmal etwas über die Arbeitsweise des Dichters. In einem Telefonat am zeitigen Nachmittag einige Tage zuvor war ich besorgt, möglicherweise in die Mittagsruhe hinein zu stören. Reiner Kunze hatte aufgelacht: „Mittagsruhe?! Ich sitze seit Stunden am Computer.“ Der Computerarbeitsplatz direkt neben dem schweren Schreibtisch ist sein Tribut an die Zeit. Wie zum Ausgleich wird die Stirnseite des Raumes beherrscht von einem mannshohen Glasschrank mit Klassik-CDs. Man ahnt die von ihnen ausgehende Inspiration. An der Wand im Rücken hängt ein riesiges Ölbild mit einem bedrückend düsteren Vorwinterhimmel. Nur an einer winzigen Stelle reißen die schweren Wolken auf und lassen ein Blau ahnen. Er mag dieses Bild sehr, sagt Reiner Kunze.
Auf einem Stativ am Fenster verblüfft der Fotoapparat mit jenem mächtigen 400-Milimeterobjektiv, das vor Jahren die namibischen Fotoimpressionen in Steine und Lieder2 möglich gemacht hat. Vierzig großformatige Motive vom Donaubogen, beantwortet er den fragenden Blick des Besuchers, seien sein Geschenk an Obernzell für eine Ausstellung im Schloss zum 750-jährigen Gemeindejubiläum im Sommer. Man darf sie sich vorstellen, die steigenden Morgennebel über dem Strom und der Landzunge, die leuchtenden Farben des Herbstes am baumbewachsenen Steilhang gegenüber, das abendliche Felsenglühen über dem Donauknie …
Es ist die Hommage eines Angekommenen an diesen Heimat gewordenen Ort. Noch ahnt niemand, die Ausstellung in Schloß Obernzell wird eine Mut machende Gegenausstellung zum größten Hochwasser, das Passau und die Flussregion seit dem 15. Jahrhundert trifft.
Reiner Kunze deutet auf die Burg Krämpelstein im Felshang direkt gegenüber. Dort auf der anderen Donauseite liegt schon Österreich. Mit Winden und Ketten hätten Raubritter einst an der Flussenge Handelschiffe aufgebracht. Nur dieser eine Satz dazu. Es soll keine Zeit verloren werden: „Ich zeige Ihnen das Archiv.“
Das Archiv ist ein kleiner Raum im Erdgeschoss, direkt neben Elisabeth Kunzes Arbeitszimmer, von dem aus sie ihrem Mann den Rücken frei hält, einen Teil der Post und Anfragen beantwortet. Die beiden sind ein perfektes Team. Nein, an Urlaub denken sie beide nicht, sagt Elisabeth Kunze, und: Die Wochentage reichen für die Arbeit längst nicht aus. Seit sieben Jahren bauen sie das Archiv auf, in den vergangenen vier Monaten haben sie es inventarisiert.
Dieses Archiv ist ein Herzstück der Reiner und Elisabeth Kunze Stiftung. In einem Wandschrank, bescheiden hinter Holztüren, stehen die Ausgaben seiner Bücher in über dreißig Sprachen. Vor allem aber enthält dieses Archiv mehr als fünftausend Schrift-, Bild- und Tondokumente für das künftige Ausstellungshaus. Es sind einmalige Dokumente, die die Hintergründe des Werkes und Wirkens von Reiner Kunze im Spannungsfeld der Zeit belegen. Er zieht Schubladen auf, eine nach der anderen, darin nummeriert zahllose gelbe Einlegemappen, und er sagt, warum ihnen die Stiftung so wichtig ist: „Vergangenheit nicht zu kennen, kann die Zukunft kosten.“ Damit ist ein Ton angeschlagen. Dann folgt die Aufforderung: „Fragen Sie.“