Читать книгу Reiner Kunze. Dichter sein - Udo Scheer - Страница 7
Wie die Dinge aus Ton
ОглавлениеDer Junge fügt sich in die Gegebenheiten: Gut, wenn Abitur nicht möglich ist, dann mache ich eben die Schusterlehre. In dieser Situation bekommen die Eltern im Sommer 1947 unerwartet einen Brief, ihr Sohn sei an der Oberschule in Stollberg angenommen. Er ist glücklich, strahlt. Was auch immer den Ausschlag gegeben hat, er darf sich zu den Auserwählten zählen. In die Schule geht er mit einem Gefühl der Dankbarkeit.
Der nächste Winter, erinnert Reiner Kunze sich, wird außerordentlich streng. In dem Schulgebäude, einem riesigen gelben Klinkerbau, ist es kalt, es gibt keine Kohlen zum Heizen. Sie sitzen in Mäntel gehüllt und schreiben in Handschuhen. Ein Kanonenofen wird aufgestellt und die Bergmannskinder müssen reihum je zwei Briketts mitbringen:
Um es wärmer zu bekommen, haben wir im Klassenzimmer an Holz abgebaut, was sich abbauen ließ, auch die Leisten um den streng geheimen, immer verschlossenen Aktenschrank. Eines Tages brach der Schrank zusammen und alles, die Bücher, unsere Zensurenhefte, das Klassenbuch, fiel heraus. Wir hatten nichts anderes zu tun, als das geheime Klassenbuch zu lesen. So habe ich erfahren, weshalb ich an der Oberschule aufgenommen worden war. Wegen eines überdurchschnittlichen Prüfungsaufsatzes, Thema: „Die Mühle im Tal“. So begann die „Literatur“ meinen Weg zu bestimmen – und sie sollte es das ganze Leben über tun.
Während der Oberschulzeit versucht Reiner Kunze sich auf verschiedenen künstlerischen Gebieten, zeigt Talent fürs Malen und lernt Geige aus Liebe zur Musik, meint aber irgendwann, dass es ihm an musikalischer Begabung fehle. Zudem hat er einen Musiklehrer, der ihn auf seine Weise motiviert. Für einen falschen Ton setzt es einen Hieb mit dem Geigenbogen in den Nacken. Schließlich gibt der Schüler auf.
Die Woche über wohnt Reiner Kunze im Schulinternat. Heute sagt er, die Zeit an dieser Oberschule habe er mit als seine bedrückendste Zeit erlebt. Er sei ohne jedes skeptische Rüstzeug und ohne intellektuelle Vorbildung dorthin gekommen. Wer Reiner Kunze kennt, weiß, dieser Mann retuschiert seine Biografie, auch die politische Naivität in seiner Jugend, nachträglich nicht. 1970 schreibt er, Bezug nehmend auf eine Briefzeile seines mährischen Dichterfreundes Jan Skácel, dieses Gedicht:
WIE DIE DINGE AUS TON
Aber ich klebe meine hälften zusammen
wie ein zerschlagener topf
aus ton.
(Jan Skácel, brief vom februar 1970)
1
Wir wollten sein wie die dinge aus ton
Dasein für jene,
die morgens um fünf ihren kaffee trinken
in der küche
Zu den einfachen tischen gehören
Wir wollten sein wie die dinge aus ton, gemacht
aus erde vom acker
Auch, daß niemand mit uns töten kann
Wir wollten sein wie die dinge aus ton
Inmitten
soviel
rollenden
stahls
2
Wir werden sein wie die scherben
der dinge aus ton: nie mehr
ein ganzes, vielleicht
ein aufleuchten
im wind8
Dieses Gedicht erzählt davon, wie der Glaube und das Vertrauen einer ganzen Generation missbraucht und zerbrochen wurden. Nur eine ganz, ganz kleine Hoffnung bleibt.
Man muss sich hineinversetzen in die Zeit. Es sind die Hunger- und Aufbaujahre nach dem Krieg. Die Jugendlichen erfahren von den Gräueltaten der Nazis, sehen Bilder aus Konzentrationslagern. Die neue Gesellschaft steht dafür, dass das nie wieder passieren darf. Die Hoffnungsworte heißen Zukunft, Fortschritt, Sozialismus. Alles soll besser werden. Das will auch er.
Der Bericht über eine Schulkonferenz im Jahr 1958 zeugt von der Atmosphäre an der Stollberger Oberschule. Obwohl sieben Jahre dazwischen liegen, braucht es wenig Fantasie, sich diese Konferenz 1951 vorzustellen, als Kunze dort Schüler war.
In die Aula eingeladen sind „218 Eltern unserer Arbeiter- und Bauernkinder und die Genossen der Sozialistischen Einheitspartei.“ Die Inhalte der Referate und die Diskussionsredner werden im Vorfeld festgelegt. Nichts wird dem Zufall überlassen. Ein Drittel der Eltern folgt der Einladung der Schulleitung, dazu Funktionäre des regionalen Parteiapparates und des „Pädagogischen Rates“.
Die erste Kritik wird am mangelnden Interesse in den Elternhäusern laut. Es zeige, hier müsse weit mehr Überzeugungsarbeit geleistet werden. In dieser Konferenz geht es nicht um eine Analyse von Bildung und Wissen. Aufgabe ist es, „den Stand der sozialistischen Erziehung an unserer Schule zu überprüfen und Maßnahmen zu ihrer Verbesserung einzuleiten“.
Als Bilanz bisheriger Erziehungserfolge wird verkündet: „… 47 Meldungen zum Dienst in der Nationalen Volksarmee, Arbeitseinsätze im Nationalen Aufbauwerk, bei der Ernte …, beim Bau eines Schießstandes …“ Anschließend werden die Anwesenden konfrontiert mit „Misserfolgen und offensichtlichen Mängeln in der gemeinsamen Erziehungsarbeit“: Acht Schüler, die im letzten halben Jahr „unseren Arbeiter- und Bauernstaat verraten haben und republikflüchtig wurden“, werden mit Namen und Wohnort genannt.
Der stellvertretende Direktor fordert: Eltern republikflüchtiger Schüler haben die Ausbildungskosten zurückzuerstatten; Schüler, von denen Angehörige Republikflucht begangen haben, sind von der Schule auszuschließen; nur noch „solche Grundschulabgänger werden in die Oberschule aufgenommen, die … durch ihre Teilnahme an der Jugendweihe sich zu unserem Staat der Arbeiter und Bauern bekennen.“
Mehrere Diskussionsredner ergehen sich in scharfen Attacken gegen zwei Pfarrer, die das Recht auf Religionsfreiheit und Konfirmation verteidigt haben. Das seien „Machenschaften, die religiöse Gefühle für reaktionäre Zwecke mißbrauchen“. Alle Anwesenden stimmen einem vorbereiteten Schreiben an die Kirchenleitung zu, das ihre „Empörung“ angesichts der „starren und reaktionären Haltung“ der beiden Pfarrer ausdrückt. Der Brief kulminiert in dem Satz: „Ihre Stellung gegen die Jugendweihe ist nichts anderes als ein bewusstes Hemmen unseres sozialistischen Aufbaus.“9
Dieses Klima herrscht an dieser Schule, über deren Eingangsportal die Worte „Gott sei Gloria“ aus dem Sandstein herausgemeißelt sind. Kirchenkampf, Ausgrenzung junger Christen, Sippenhaft bei Republikflucht und Militarisierung sind Teile der „sozialistischen Erziehung“. Die tägliche Indoktrination zeigt Wirkung.
In Kurzbiografien über Reiner Kunze liest man das Wort „SED“. Auch dahinter steht eine Geschichte.
Die Lehrer schätzen die Freundlichkeit des Schülers, seinen Lerneifer und die Zuverlässigkeit bei der Erfüllung „gesellschaftlicher Aufträge“. Eines Tages klopfte der Direktor während des Unterrichts an die Tür. Er rief mich heraus und sagte: „Wir haben beschlossen, dich als Kandidat für die SED vorzuschlagen.“ Das war in der zehnten Klasse. Eine Ehre! Der Rektor war ein alter Sozialdemokrat, ein vernünftiger Mensch.
Am 1. Juni 1950 wird Reiner Kunze als Kandidat in die Reihen der SED aufgenommen. Das, sagt man ihm, sei eine hohe Auszeichnung und eine ebenso große Verpflichtung. Da ist er sechzehn. Aus seinem Lebenslauf für die Bewerbung zum Studium sprechen Stolz, Überzeugung und jugendlicher Überschwang des künftigen jungen Genossen:
Das Datum jedoch, das ich dem ersten gleichsetze [dem der Geburt, d. Verf.], ist das meiner Aufnahme als Kandidat für die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Was wäre ich für das Friedenslager, für die Arbeiterklasse, ja für mich selbst, wenn mich nicht die Partei schule und erziehe? Im Strom der Zeit triebe ich vielleicht mit dahin, aber selber lenken und andere Lenken lehren könnte ich … nicht.10
Doch bald stellen sich erste Irritationen ein. Bei den Volkskammer- und Regionalwahlen im Oktober 1950 werden die Schüler als „Wahlschlepper“ eingesetzt. Ihr Auftrag ist es, schon am Vormittag die Bewohner in ihren Häusern aufzusuchen, zu fragen, ob sie wählen waren. Wenn nicht, sollen sie sie zum Wahlbüro begleiten. Das ist dem Schüler Kunze überaus peinlich. Noch peinlicher wird es, als er und ein Klassenkamerad sich davon überzeugen müssen, dass der Ärger eines dieser Wähler berechtigt ist: Es liegt kein Stift in der Wahlkabine. Sie gehen in ein anderes Wahllokal. Auch dort kein Stift. Sie sind empört, laufen in die Schule und berichten dem Rektor, Herrn Bellmann, was sie erlebt haben:
Er bekam einen hochroten Kopf, die Adern schwollen ihm an: „Unmöglich!“ Wütend rief er in unserer Gegenwart die Kreisleitung an und protestierte. Die Folge war, dass er mangels Parteilichkeit gerügt und später in eine andere Schule versetzt wurde.
Eigentlich will Reiner Kunze an der Kunstakademie Dresden studieren. Er besteht die Vorauswahl. An der Oberschule gibt es jedoch zwei Lehrerinnen, die ihm ideologisch zusetzen und ihn dazu bringen, sich für ein Studium der Publizistik zu entscheiden. Sie handeln damit strikt im Interesse der Partei. Der Abiturient hat keine Vorstellung, was dieses Studium bedeutet.
Nach dem Abitur 1951 beginnt er an der Philosophischen Fakultät der Karl-Marx-Universität Leipzig unter anderem das Fach Publizistik zu studieren. Seinen Neigungen folgend belegt er Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte, weshalb er nach Gründung der Fakultät für Journalistik 1954 dem Fachbereich Kulturpolitik zugeordnet wird.
Mit ihrer Umgründung untersteht diese Fakultät nur noch pro forma der Universität, de facto wird sie ein Ausbildungsinstitut des Zentralkomitees der SED. Der Auftrag: Nach leninistischen Prinzipien sollen die angehenden Journalisten hier zur „schärfsten Waffe der Partei“ geformt werden. Wer im „Roten Kloster“ sein Diplom erwirbt, gehört fast schon zur Nomenklatur.
Aus heutiger Distanz, sagt Reiner Kunze, habe er das Studium in Erinnerung als Jahre hochgradiger Indoktrination. Er habe den Professoren geglaubt. Sie seien für ihn unbezweifelbare Autoritäten gewesen. Er ist ein guter Student, erhält Leistungsstipendium und Auszeichnungen.
Von den Spannungen in der Gesellschaft lebt er weitgehend abgeschottet. Die Ereignisse um den Volksaufstand des 17. Juni 1953 erreichen ihn kaum. In diesen Tagen liegt er frisch am Blinddarm operiert am Rande der Stadt im Krankenhaus Leipzig Dölitz. Er weiß nicht, dass allein in Leipzig vierzigtausend Arbeiter die Betriebe besetzen und mit anderen auf die Straße gehen. Erst durch eine Tante, die ihn besucht, erfährt er überhaupt etwas von den Protesten gegen Preissteigerungen und Normerhöhungen, von besetzten und verwüsteten Parteihäusern und Angriffen auf Funktionäre und Polizei, vom Einsatz russischer Panzer, vom Ausnahmezustand und Verhaftungen. Die Tante ist bei ihrem Besuch vollkommen aufgelöst und hat Angst zu erzählen.
Das wenige, dass er über den 17. Juni erfährt, gibt ihm zu denken. An der Universität hören die Studenten danach gebetsmühlenartig von „Unruhen“ als „Werk imperialistischer Provokateure und faschistischer Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer“. Schuldig seien allein der faschistische Adenauer-Staat, Eisenhower und sein Sender RIAS in West-Berlin. Die Feinde des Sozialismus hätten dafür gesorgt, dass Nazis aus Gefängnissen befreit worden seien. Sie hätten versucht, die Macht an sich zu reißen. Nach diesem „konterrevolutionären Putschversuch“ werden die Studenten auf noch unbedingtere revolutionäre Wachsamkeit eingeschworen. Reiner Kunze ist eingesponnen in diesen Kokon.
Seine Studienleistungen und die positive Beurteilung als Genosse eröffnen ihm 1955 eine Assistentenstelle mit Lehrauftrag. Zuvor hatte er 1954 ein Praktikum bei der „Magdeburger Volksstimme“ absolviert. Auch diese Beurteilung fällt sehr wohlwollend aus. Er habe „zur vollsten Zufriedenheit“ gearbeitet, sei „wiederholt durch besonders gute Reportagen über künstlerische und andere Ereignisse hervorgetreten“, und er „leitete zeitweilig selbständig die Kreisredaktion Haldesleben“.11
Reiner Kunze beginnt seine wissenschaftliche Laufbahn an der Uni, er wird aufgenommen in den Journalistenverband und in den Schriftstellerverband der DDR. Aber er vergisst auch nicht, woher er kommt.
ANTWORT
Mein Vater, sagt ihr,
mein Vater im Schacht
habe Risse im Rücken,
Narben,
grindige Spuren niedergegangenen Gesteins
ich aber, ich
sänge die Liebe.
Ich sage:
Eben, deshalb.12
Hier spricht die Ehrfurcht vor der Arbeit, zugleich das Glücksempfinden, auserwählt zu sein. Vier Jahre lang führt er Seminare und hält Vorlesungen über „Die literarischen Genres in der Zeitung“.
In seiner Anfangszeit als Assistent und Mitglied der Parteileitung gibt er die verinnerlichte Indoktrination weiter: „Ich habe daran geglaubt. Ich habe bestimmt anderen geschadet.“ Als Gruppenführer der Kampfgruppe läuft er links außen. Er ist es, der die Befehle gibt. Als Seminarleiter ist er streng. Es geht dabei weniger um politische Auseinandersetzungen, die hat er mit seinen Studenten selten. Ihm geht es um deren Eignung. Kompromisslos vertritt er die Position, Studenten mit schwachen Leistungen gehören nicht ins Journalistik-Studium, auch wenn sie Arbeiter- oder Bauernkinder oder privilegiert sind durch politische Empfehlungen oder Funktionärseltern. Wer bei Prüfungen durchfällt, müsse gehen, damit er einem besseren Studenten nicht den Platz wegnehme.
Reiner Kunze hat den Ruf eines strengen Idealisten. Es spricht für sich, dass er in seinem Tagebuch Am Sonnenhang diese Einlassungen Wolf Biermanns aus der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 24.08.1990 zitiert:
Noch heute, nach so vielen Jahren, geht Helga Novak, die große verkannte Dichterin dieses Landes, an die Decke, wenn ich die „sensiblen wege“ meines Freundes Kunze verteidige. (…) „Kunze? Der!!“ Und dann erzählt sie, wie es an der Journalistenhochschule in Leipzig war, wo Kunze zum Lehrkörper gehörte, ein junger ehrgeiziger Assistent. Kunze wurde als brutaler stalinistischer Einpeitscher von den besseren Studenten gefürchtet. 13
Darauf angesprochen, sagt Reiner Kunze:
Was Helga Novak betraf, und da war noch jemand, die Brigitte Klump, beide wussten nicht, was im Lehrkörper vorging, dass ich so aufgetreten bin, um überhaupt noch auftreten zu dürfen. Sie haben nicht gewusst, wie mein Verhältnis zu den Studenten war, deren Vertrauen ich besaß.
Beide, Helga M. Novak und Brigitte Klump kommen 1954 als Studentinnen an die Journalistische Fakultät. 1956 soll Brigitte Klump eine Arbeit über „Die Vulgarisierung der Literatur durch Bertolt Brecht“ schreiben. Brecht lädt sie und andere interessierte Studenten zu einer Aufführung ins Berliner Ensemble ein, damit sie sich selbst ein Bild über „das Destruktive“ seiner Arbeit machen können. Ein Sonderzug für 700 Studenten wird organisiert. Walter Ulbricht persönlich lässt die Anreise verhindern. Vorgeschoben werden Gleisbauarbeiten. Danach ist die anfänglich naive Brigitte Klump, die als Volontärin von ihrer Bauernzeitung zum Studium delegiert wurde, einer derartigen Stasi-Bearbeitung ausgesetzt, dass sie aus der DDR flieht. Einundzwanzig Jahre später veröffentlicht sie die aufsehenerregende Innenschau „Das Rote Kloster“ in der Bundesrepublik. Zuvor hatte das Kulturministerium der DDR dem Verlag Hoffmann und Campe eine Millionen D-Mark geboten, wenn er das Buch zurückzöge.
Brigitte Klump, sagt Reiner Kunze, hatte einen ähnlichen Eindruck von mir wie Helga Novak. Eines Tages brachte sie mir eine schriftliche Arbeit über die Erziehung zur Heuchelei. Ich habe sie beiseitegenommen und gesagt: „Diese Arbeit müsste ich der Stasi geben. Vernichte sie. Ich habe sie nicht gesehen.“ Das schreibt sie dann auch in ihrem Buch. In dem Augenblick hatte sie begriffen, was der Kunze manchmal öffentlich von sich gibt, ist vielleicht doch nicht der wahre Kunze.
Ein Beispiel. Wir hatten einen hochbegabten Studenten, der unterstützte mich als Hilfsassistent. Er konnte sehr gut schreiben. Als er mir Arbeiten von sich zeigte, habe ich gesagt: „Junge, das ist gefährlich.“ Dem habe ich geraten, wie er solche Sachen aufheben soll. Sie hatten einen großen Garten: „Nimm doch Einkochgläser. Schreib sehr klein, leg die Manuskripte rein und vergrabe sie.“
In die erste schwere Auseinandersetzung innerhalb der Fakultät gerät Reiner Kunze 1956. Er kennt zum Aufstand in Ungarn die Argumentation aus dem Neuen Deutschland und aus Parteigruppenversammlungen: Die ganze Schuld läge bei westlichen und ungarischen reaktionären Kräften. Der Hochverräter Imre Nagy und die Petöfi-Renegaten hätten versucht, die volksdemokratische Ordnung zu stürzen und eine Restauration des Kapitalismus herbeizuführen. Damit hätten sie den Weltfrieden gefährdet. Durch die brüderliche Hilfe sowjetischer Truppen und durch die revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung unter Janos Kádár sei Ungarn gerettet worden. Bewusst verschwiegen wird in der SED-Informationspolitik, dass es sich in Ungarn ähnlich wie in der DDR 1953 um eine Volksbefreiungsbewegung handelt, hier hervorgegangen aus Studentenprotesten, dass russische Panzer gegen ungarische Karabiner und den reformkommunistischen Hoffnungsträger Imre Nagy eingesetzt werden und ein Blutbad anrichten.
Eingeladen von Peter Nell, einem alten Kommunisten und Autor des autobiografischen Romans „Der Junge aus dem Hinterhaus“, fährt Reiner Kunze zum außerordentlichen Schriftstellertreffen nach Berlin. Er ist dabei, als die Präsidentin Anna Seghers Georg Lukács verteidigt, einen der intellektuellen Köpfe des Petöfi-Klubs und damit des Ungarn-Aufstandes. Und er fragt sich: Wie passt das zusammen? Seghers und Lukács verbindet ein langer Briefwechsel. Während der Niederschlagung des Aufstandes in Budapest bittet sie Walter Janka, den Leiter des Aufbau-Verlages, Lukács nach Berlin zu holen. Janka wird verhaftet und wegen konterrevolutionärer Gruppenbildung und Verschwörung – er habe Lukács in die DDR schmuggeln und so den Sturz der Regierung herbeiführen wollen – zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Prozess, bei dem Anna Seghers anwesend ist, schweigt sie.
Reiner Kunze:
Ich war befreundet mit Peter Nell, er arbeitete im Ministerium für Kultur, in der Hauptabteilung Literatur, wo die Manuskripte eingereicht und begutachtet wurden. Seine Frau Edith und er waren sehr vernünftige Leute, parteipolitisch fest gebunden, aber es gab keine Tabus in den Gesprächen. Im Gegenteil.
Als Peter Nell 1957 sterbenskrank lag, besuchte ich ihn. Er hat meine Hand ergriffen und gesagt: „Reiner, es stimmt alles nicht. Wir haben für einen Irrtum gelebt.“
Dieser Peter Nell lud mich offiziell ein zu einer während der Ereignisse in Ungarn sofort einberufenen Schriftstellerversammlung in Ostberlin. Dort waren Anna Seghers, Stephan Hermlin, alle, die in der DDR-Literatur eine Rolle spielten. Ich gehörte da überhaupt nicht hin. Anna Seghers war da einmal mutig. Sie hat sich für Georg Lukács eingesetzt: „Ich glaube nicht, dass er ein Feind der Arbeiterklasse ist, denn er hat mich zur Kommunistin gemacht.“ Sie hat sich hundertprozentig hinter ihn gestellt.
Früh morgens bin ich nach Leipzig zurückgefahren, weil ich Seminar hatte. Da stehen oben auf der Holztreppe des Hintereingangs Fritz Raddatz und Klaus Höpcke, zwei Assistenten und Kollegen von mir. Ich sehe sie noch heute und höre sie fragen, was denn in Berlin gewesen sei und ich sage naiv: „Die Anna Seghers hat gesagt …“ Mittags Riesenversammlung über die ideologischen Unklarheiten des Assistenten Kunze.
Die ideologischen Aufpasser dürfen sich auf die Schultern klopfen. Die Parteileitung verlangt eine schriftliche Stellungnahme und jeder weiß, alles andere als reuige Selbstkritik hat weitere Disziplinierungsgespräche zur Folge. Reiner Kunze schreibt:
(…) Nach den Informationen unserer Zeitungen während der vergangenen Jahre war es mir unmöglich, die Situation in Ungarn und in der ungarischen Arbeiterpartei so genau zu kennen, dass ich im Augenblick mit fester Überzeugung einen Mann [Georg Lukács, d. Verf.] schuldig sprechen konnte, der bisher in unserem Staat hoch geachtet war und in seinen Werken klug und leidenschaftlich gegen alle reaktionären Theorien und faschistische Ideologien auftrat (…) Ja, ich bin belogen worden, wir alle sind es. Man hat mir zum Beispiel in einem dicken Buch bis in alle Einzelheiten dargelegt, welche Verbrechen die heute rehabilitierten ungarischen Genossen begangen haben.14
Gemeint ist damit vor allem Janos Kádár, der 1951 als ungarischer Innenminister wegen angeblicher Kollaboration mit Tito verurteilt wird und nach anfänglicher Unterstützung der Revolution nach ihrer Niederschlagung kompromisslos die sowjetischen Machtinteressen durchsetzt.
Mit dieser Stellungnahme zieht Reiner Kunze Zorn auf sich. Von diesem Zeitpunkt an heißt es in innerparteilichen Einschätzungen zu seiner Person, „daß KUNZE politisch solche Anschauungen vertrat, die letzten Endes revisionistischen Charakter trugen“.15 Seine Feststellung: „Ja, ich bin belogen worden, wir alle sind es“, ist willkommener Anlass für die boshafte Stigmatisierung „Kunze äußerte, daß er von der Partei ‚belogen und betrogen wurde‘, wodurch sein Vertrauen in die Partei ins Wanken geriet“.16
Politische Auseinandersetzungen führen die Parteidogmatiker mit Reiner Kunze von Anfang an. Begonnen hatte es mit einem Buch, dass ihm eine Tante zum Abitur geschenkt hatte. Im Internat stellt er es auf sein Bücherbrett: Franz Kafka, Ein Landarzt, und ahnt mit keiner Silbe, welche Folgen das hat:
Mittags große Institutsversammlung. Angeklagt Reiner Kunze wegen Verbreitung bürgerlich dekadenter Literatur. Die Verbreitung sah man darin, dass wir zu viert auf dem Zimmer waren und jeder Zugang hatte. Ich wurde eine Woche lang von einer Leitung zur anderen geschleppt, Parteileitung, Institutsleitung, Universitätsleitung … Überall musste ich Stellung nehmen, warum ich das gemacht hatte. – Bis sie begriffen, dass ich einfach nur ein Idiot war: Der hat wirklich keine Ahnung, wer Kafka ist. Ich bekam die Auflage, sofort zur Parteileitung zu gehen, wenn ich ein Buch in Händen halte, dessen Autor ich nicht kenne.
Mehrere Vorfälle führen dazu, dass die Zweifel wachsen. Immer wieder werden den Studenten Häuser zugeteilt, in denen sie Stockwerk für Stockwerk Bewohner agitieren müssen:
Das war eine ähnliche Sache wie in der Oberschule, und ich habe ebenso darunter gelitten. Unter anderem war auch eine Studentin eingeteilt, die im achten Monat schwanger war. In einer Seminargruppenversammlung bat sie, man möge sie von diesen Agitationseinsätzen freistellen, sie könne die Treppen nicht mehr steigen, und es werde ihr furchtbar schlecht. Sie habe dabei schon einmal erbrochen. Eine Dozentin machte diese Studentin fertig: „Wenn die Genossen im KZ alle so …“ Es war furchtbar. Da habe ich eine Glosse in Gedichtform geschrieben, die begann:
Genossen, Freunde, folgendes:
die Sache die ist die,
daß sie gezeugt
und nicht mehr überzeugen will.
Das Gedicht habe ich dem Eulenspiegel geschickt, und soweit ich mich entsinnen kann, ist es erschienen. Jedenfalls ist es bekannt geworden. Wie schon bei Kafka war es wieder so weit, dass ich ein Jahr in die Produktion sollte, um mit der Arbeiterklasse Verbindung herzustellen. Dass es nicht soweit kam, verdanke ich einem ukrainischen Professor, er hieß Ruban. Er las an der Fakultät „Sowjetische Literatur“. Für ihn habe ich von Vorlesung zu Vorlesung die Gedichte übersetzt, die er uns vorstellen wollte. Als ich ihm dankte, sagte er abwinkend: „Ich musste Sie verteidigen, denn ich habe Sie gebraucht.“
Das war ein ganz wunderbarer Mensch. Nach dieser Geschichte verschwand er. Ich nehme an, jemand hat ihn denunziert. Nach ihm kam ein Ultraorthodoxer, der war hochgefährlich.
Ein Haarriss folgte dem anderen, bis das Gefäß zersprang. Wenn sie indoktriniert sind, versuchen sie immer wieder eine Entschuldigung zu finden, nicht für sich, sondern für die Sache: Das ist schlecht gemacht, oder das sind Menschen, die unfähig sind.
Ich musste mich erst durch die ganze Ideologie hindurchdenken und hindurchleiden, bis ich so weit war zu sagen: Das ist keine menschliche Ideologie. Das ist ein furchtbares System, das über den Menschen hinweggeht.
Noch ein Beispiel: Ein sorbischer Student ging zur Parteileitung und sagte, er wolle heiraten, er glaube nicht an Gott, gehe auch nicht in die Kirche, aber seine Frau sei katholisch. Ihre Eltern und Verwandte wünschten, dass sie katholisch heiraten. Die Partei solle bitte Verständnis dafür haben. Er wurde exmatrikuliert.
Wie jeder an der Fakultät wird auch Reiner Kunze von Genossen beobachtet, die Berichte schreiben, und die Parteileitung verdichtet deren Informationen:
Ein großer Teil von Studenten, die K. als Assistent zu betreuen hatte, sahen in ihm ein Vorbild. Ein guter Freund von K. ist der Student … parteilos. … wurde als noch nicht politisch reif genug angesehen, um als Journalist eingesetzt zu werden.
Die Studentin … wurde von K. ebenfalls gefördert. Sie ist parteilos und konnte ebenfalls auf Grund polit. Unreife noch nicht als Journalistin eingesetzt werden. K. hatte Leistungsstipendium für … befürwortet. Der Vater von … wurde vor Jahren republikflüchtig.
Aus gleichen Gründen der noch unpolit. Reife konnte auch der Student … noch nicht eingesetzt werden. Auch dieser Student gehört zu den sogenannten Kunzianern. (…) Auffallend ist …, daß K. sehr viele persönliche Aussprachen mit seinen Studenten führt, zum Teil auch in seiner Wohnung. 17
Kunzes Seminargruppe, die ursprünglich aus zwanzig Studenten besteht und nach zwei Jahren auf dreizehn dezimiert ist, wird eine „denkbar schlechte Zusammensetzung“ bescheinigt.
Eine Handhabe gegen den Störfaktor Kunze erhofft sich die Parteileitung 1958. Sie wird informiert, die Staatssicherheit habe ihn aufgrund seiner Verbindung zu dem „amerikanischen Agenten Ronald Lötzsch“ vernommen.
Eine außerordentliche Parteiversammlung wird einberufen. Er solle zugeben, dass er Verbindungen zu einer konterrevolutionären Gruppe unterhalte. Nach dem Muster politischer Prozesse soll er ein Geständnis ablegen. Der Druck ist enorm. Nicht weniger als die Wachsamkeit der Parteigenossen steht auf dem Spiel. Sie bluffen, fordern, er solle seine konterrevolutionären Verbindungen eingestehen. Woher soll er auch wissen, dass der Genosse von der Staatssicherheit nur empfohlen hatte, künftig ein Auge auf ihn zu haben.
Reiner Kunze weiß zu dem Zeitpunkt nichts von einer Gruppe um Wolfgang Harich und Walter Janka, nichts von ihrer Plattform für einen „besseren deutschen Weg zum Sozialismus“. Von dem Kreis um Erich Loest und Wolfgang Zwerenz und ihrer Kritik an der Kulturpolitik der SED hat er nur entfernt gehört. Er weigert sich, zu gestehen, was er nicht gestehen kann: „Etwas einzugestehen, dass ich nicht getan habe, dazu habe ich mich nie in meinem Leben hinreißen lassen.“
Seine Bekanntschaft mit dem der amerikanischen Agententätigkeit bezichtigten und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilten Ronald Lötzsch reicht zurück in die Stollberger Schulzeit. Dort unterrichtete Lötzsch nach dem eigenen Abitur in Kunzes Klasse Russisch. Nach einem Studium in Leningrad studiert er in Leipzig Slawistik. Gelegentlich besuchen sich die beiden. Lötzsch interessiert sich für die Situation in Polen. Die Wirtschaftskrise dort führt im Juni 1956 von Poznań aus zum Arbeiteraufstand, die stalinistische Führung wird entmachtet, Władysław Gomułka wird der neue Hoffnungsträger, wie Imre Nagy in Ungarn. Ronald Lötzsch liest polnische Zeitungen und sucht Kontakt zu polnischen Journalisten. In Polen findet der Aufbruch statt, den viele in der DDR vermissen. Nikita Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU wird in polnischen Zeitungen abgedruckt und Lötzsch übersetzt sie für Kunze. Etwas später bekommt Kunze auch von Paul Wiens eine im Westen gedruckte Fassung. Diese Rede ist eine Sensation. Erstmals ist von ideologischen Irrtümern Stalins, von seiner Verantwortung für Massenmorde an Kommunisten bei den Säuberungen in den dreißiger Jahren zu hören. Auch wenn der neue Generalsekretär die ganze Dimension kommunistischer Verbrechen, die Gulags, die Zwangskollektivierung mit Abermillionen Hungertoten, verschweigt, stellen sich Intellektuelle in allen Staaten des sowjetischen Lagers jetzt die Frage: Wenn es in der Sowjetunion Irrtümer und Verstöße gegen Demokratie gegeben hat, gibt es die nicht auch bei uns? Walter Ulbricht ist sich nach seiner Rückkehr aus Moskau durchaus der Brisanz bewusst. Er wiegelt ab, die SED habe keine Entstalinisierung nötig, weil es in ihr keine Stalinisten gebe. Doch die Fragen sind nicht mehr aufzuhalten.
Ronald Lötzsch besucht bei Erich Loest einige Male einen Kreis, der die Verhältnisse hinterfragt und kulturpolitische Reformen einfordert. Loest stellt aufgebracht die Frage: „Hat nicht Ulbricht höchstpersönlich das Studium der Stalin-Biografie befohlen? Der Mann muss weg!“
Lötzsch lädt Kunze in diesen Kreis ein. Doch Kunze lehnt ab. Loests Auftreten ist ihm zu vierschrötig. Das rettet ihn vor dem Zuchthaus, als Walter Ulbricht an Wolfgang Harich, Walter Janka, Gustav Just, Erich Loest, Ronald Lötzsch, Karl Schröter, Richard Wolf, Heinz Zöger ein Exempel statuieren lässt.
Reiner Kunze sagt zu seinen Gesprächen mit Ronald Lötzsch:
Wir haben gar nicht so viel diskutiert. Er hat mich vor allem informiert. Vor der Staatssicherheit hat er dann Dinge preisgegeben, die ich nie preisgegeben hätte. – Zum Beispiel, dass er bei uns am Radio ausländische Sender gehört hatte. Deshalb wollte man im Verhör von mir wissen, was das für Sender gewesen seien. Ich habe gesagt: „Keine Ahnung, der hat mal gedreht. Das war eine fremde Sprache. Ich habe nichts verstanden.“
In dieser vierstündigen Vernehmung am 29. März 1958 verhält Reiner Kunze sich überaus geschickt. Mit seinen Antworten versucht er, Lötzsch möglichst zu entlasten und sich nicht zu belasten. Im Vernehmungsprotokoll liest sich seine Aussage so:
Frage: Welche Einstellung hatte Ronald LÖTZSCH zur Deutschen Demokratischen Republik?
Antwort: Ich kenne Ronald LÖTZSCH als Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei und weiß, daß er stets eine gute politische Arbeit im Sinne dieser Partei geleistet hat. Mir ist nichts … aufgefallen, was sich gegen die von der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik verfolgte Politik gerichtet hätte. Etwas anderes kann ich hierzu nicht sagen. Frage: Wie schätzte Ronald LÖTZSCH die Ereignisse in der Volksrepublik Polen im Oktober 1956 ein?
Antwort: Ronald LÖTZSCH hatte für die Ereignisse in Polen im Oktober 1956 sehr großes Interesse. Er las ständig die Presse der Volksrepublik Polen und informierte mich wiederholte Male über den Inhalt verschiedener Artikel. Was er mir im einzelnen mitteilte, ist mir jedoch heute nicht mehr in Erinnerung.
Frage: Wie verhielt sich Ronald LÖTZSCH zu der in Presse und Funk der DDR gegebenen Einschätzung der polnischen Entwicklung im Herbst 1956?
Antwort: Was Ronald LÖTZSCH zur Einschätzung der Entwicklung in der Volksrepublik Polen im Herbst 1956 durch Presse und Funk der Deutschen Demokratischen Republik sagte, weiß ich nicht mehr.
(…)
Frage: Nach den Aussagen Ronald LÖTZSCHs hat er Sie über seine Verbindungen zu KUPIS [polnischer Journalist und Dozent an der Fakultät für Journalistik, zu dem Kunze den Kontakt vermittelt hat, d. Verf.] – unter anderem, daß er mit KUPIS zusammen den Schriftsteller Erich Loest aufsuchte – unterrichtet. Äußern Sie sich dazu!
Antwort: Vielleicht hat Ronald LÖTZSCH mit mir über das Vorgehaltene gesprochen, ich weiß jedoch nichts mehr darüber. Andere Aussagen kann ich hierzu nicht machen.
Frage: Sind bei Ihnen in der Wohnung Sendungen des Londoner Rundfunks, in denen der Renegat Wolfgang Leonhard sprach, abgehört worden?
Antwort: Wenn mich Ronald LÖTZSCH besuchte, so hat er ständig nach irgendwelchen ausländischen Sendern gesucht. Da in diesen Sendern Fremdsprachen gesprochen wurden, die ich nicht verstand, weiß ich nicht, welche Sender das im einzelnen waren. (…) 18
Reiner Kunze war als sozialistischer Idealist angetreten. Er selbst sagt dazu:
Mit Kindern kann man alles machen. Ich war so ein Kind. Ich habe nie geleugnet, dass ich wirklich indoktriniert war. Ich kam aus einem Elternhaus ohne die geringste politische Bildung, wenn man so will, ohne Bildung überhaupt. Ich hatte keine Bibliothek, durch die ich mich hindurchlesen konnte. Ich wurde gefördert als Arbeiterkind, ein Schuljahr vorversetzt, dass muss man sich vorstellen! Ich komme in die Oberschule und komme in ein – nicht Internat, sondern ein Indoktrinat.
In dem Augenblick, als mein Verstand mir sagte, was man mit uns gemacht hat, habe ich die Konsequenzen gezogen. Und ich habe den Kopf hingehalten.
Spätestens 1956 beginnt Reiner Kunze darüber nachzudenken: Will ich überhaupt, was ich vor meinen Studenten öffentlich vertrete? Er beginnt Nein zu sagen. Und er stellt Fragen. Dass er einer Lüge gedient hat, kann er nicht rückgängig machen. Aber er darf sich hoch anrechnen, er hat niemanden denunziert, im Gegenteil, er versucht, soweit ihm möglich, andere zu schützen.
Am 8. Februar 1959 spricht er auf einer FDJ-Versammlung vor 365 Studenten. Auch der Dekan ist anwesend. Diese Rede markiert die erste Zäsur in seinem Leben. Sie führt zum Ende seiner Universitätslaufbahn.
Er kann nicht anders, als öffentlich seinen Einspruch gegen die allgemeine Schönfärberei an der Fakultät zu erheben. Zu vieles hat sich angestaut. Er sagt:
Die Fakultät für Journalistik ist keine Fakultät von Schreibenden. Ich fragte sechs Studenten, die hier für viele andere stehen mögen, weshalb sie nicht ohne Auftrag schreiben und fand folgende Gründe:
1. Zeit fehlt. Das heißt, die Zeit zum Atmen fehlt!
2. Stoff fehlt. Stoff, das ist die ganze Welt, auch die, die nicht ins Schema passt!
3. Schöpferische Disziplin fehlt. Man muß aber die Disziplin besitzen, sich hinzusetzen, um zu beschreiben, was vor einem lebt!
4. Angst herrscht, sich zu offenbaren. Wer schreibt, schreibt aus sich selbst. Daraus resultieren die Hemmungen.
5. Angst vor ideologischen Fehlern und den daraus resultierenden Rückschlüssen.19
Diese Kritikpunkte rütteln an den Grundfesten des sozialistischen Journalismus. Allein Kunzes Forderung, seine Themen selbst zu setzen, die eigene Meinung zu artikulieren, steht diametral zum Auftrag jedes sozialistischen Journalisten. Der lautet: „Die allgemeine Absicht wird bestimmt von der Partei der Arbeiterklasse für den sozialistischen Journalismus, das sozialistische Bewusstsein des Volkes entwickeln zu helfen und Einflüsse der bürgerlichen Ideologie zu bekämpfen.“20 Das ist ihre Sprache. Dagegen wird der Anspruch „Wer schreibt, schreibt aus sich selbst“, zu einer Kampfansage. Zumal an diesem Ausbildungshort des Zentralkomitees.
Ein Artikel in der Westberliner Zeitung Berliner Morgenpost vom nächsten Tag verschärft den Eklat. Der Bericht beginnt mit der Feststellung: „Der Stil der Zonenzeitungen kommt nicht von ungefähr.“21 Im Mittelpunkt stehen Kunzes Kritik und die vehementen Reaktionen aus dem Lehrkörper darauf. Der Beitrag zieht das Fazit: „Kein Wunder also, dass Reiner Kunze, wissenschaftlicher Assistent und politischer Lyriker, beinahe in Ungnade fiel, weil er sagte, was gar nicht in die Gloriole dieser Fakultät passen wollte.“22 Die Staatssicherheit notiert in einem Persönlichkeitsbild: „K. geriet also spätestens mit diesem Artikel in das Blickfeld des Feindes.“23
1959 kommt Reiner Kunze an einen Tiefpunkt seines Lebens. Die Partei, in die er einmal mit Stolz eingetreten war, begreift er als dogmatisch und zutiefst ungerecht.
Auch privat befindet er sich in einer Krise. Nach dem Studium hatte er geheiratet. Ingeborg, die ebenfalls an der Fakultät studierte, und er bekommen einen Sohn, Ludwig. Nach außen scheint die Ehe harmonisch. Dennoch werden sie sich trennen. Ein Journalist schreibt später, es sei aus politischen Gründen geschehen. Dem widerspricht Reiner Kunze. In politischen Auseinandersetzungen habe seine Frau zu ihm gestanden, selbst wenn sie anderer Meinung waren, sie habe ihn verteidigt.
Als sie im April 1960 vor dem Scheidungsrichter stehen, geben beide an, Ingeborg könne für seine Arbeit als Dichter nicht die erforderliche Akzeptanz aufbringen, deshalb sei ihnen ein Zusammenleben nicht mehr möglich.
Vor Gericht mussten wir unser Einvernehmen bekunden. Wir haben miteinander abgesprochen, keinem sollte ein Schaden seines Ansehens widerfahren. Deshalb einigten wir uns, uns wegen meines Berufes nicht zu verstehen. Es war die lächerlichste Begründung, die wir geben konnten. Dem Gericht hat sie genügt.
Die tatsächlichen Gründe sind für Reiner Kunze etwas sehr Persönliches. Vieles habe zu ihrem Auseinandergehen beigetragen. Es sei so nicht mehr gegangen. Sohn Ludwig bleibt das Bindeglied.
In den Februartagen 1959 ist er psychisch am Ende. Eine Nacht lang läuft er durch Leipzig. Vieles geht ihm durch den Kopf. Auch der Gedanke an Suizid. Der Druck, der auf ihm lastet, schlägt sich aufs Herz. Er erleidet eine Herzattacke. Vom Krankenbett aus bittet er den Dekan der Fakultät um Entlassung als wissenschaftlicher Assistent. Er schreibt, „Unterstellungen, Verdrehungen und Verleumdungen … wird unbesehen Glauben geschenkt“. Versuche der Richtigstellung vor der Parteigruppe „wurden von einigen Genossen verhindert … In dieser Atmosphäre kann ich nicht mehr die hohe Verantwortung tragen, Journalisten auszubilden“. Und er schließt: „Ich bin tief davon überzeugt, daß das, was mir im Augenblick an der Fakultät für Journalistik widerfährt, bitterstes Unrecht ist.“
Doch noch wird er nicht entlassen. Dafür trifft es andere:
Drei Studenten, die während meiner mehrwöchigen Erkrankung mit einem Blumenstrauß angetroffen worden waren, den sie mir bringen wollten, wurden deswegen für ein Jahr vom Studium relegiert und zur Bewährung in die Landwirtschaft geschickt.
Doch er bekommt auch aufmunternde Zeichen, auch von den Kabarettisten der Leipziger Pfeffermühle:
Lieber Reiner,
kein Programm ohne Kunze-Text. Das war unsere Losung und wird sie hoffentlich auch bleiben. (…) Trotz Krankheit, Ärger und Verdruß hast Du immer zu uns gehalten. Weiter so! 24
Völlig überraschende Unterstützung erfährt er von seinem Dekan, Professor Hermann Budzislawski, einem Pressegeschichtler, der während der NS-Zeit in die USA emigriert war. Über dessen Reaktion nach der FDJ-Versammlung schreiben die Widersacher in einem Parteibericht verärgert:
… daß der Dekan … auch in der Folgezeit seine Hand schützend über K. gehalten (hat) und damit die ganze Lage komplizierte. Er [Kunze, d. Verf.] ist in seinen Augen ein Wissenschaftler, der außerordentliche Leistungen vollbringe und sich demzufolge auch etwas leisten könne.25
Als Reiner Kunze einigermaßen wiederhergestellt ist, bestellt der Dekan ihn zu sich in die Wohnung:
Die Tür ging auf, und er, sehr beleibt, drängte mich mit dem Bauch hinaus. Möglicherweise wusste er, dass er abgehört wurde. Wir gingen spazieren in der Nähe der Pferderennbahn. Erst mal hat er mich fertiggemacht, so wie ein Vater einen Sohn fertigmacht. Denn ich hatte gekündigt, also aufbegehrt gegen das Kollektiv. Das war ein Unding. Dann sagte er, jetzt machen Sie um Gottes willen nicht noch den Fehler und treten aus der Partei aus. Sie schaden allen, die sich für Sie eingesetzt haben. Sie schaden auch mir. Und es gäbe eine Reihe Leute, auch in Berlin, die sich wiederholt für mich eingesetzt hätten, denen würde ich schweren Schaden zufügen. Das war der Grund, weshalb ich erst 68 ausgetreten bin. Bei diesem Gespräch habe ich zu ahnen begonnen, was ich später in den Stasiakten bestätigt fand: Sein Eintreten für mich hatte ihn ins Visier der Staatssicherheit gebracht.