Читать книгу Reiner Kunze. Dichter sein - Udo Scheer - Страница 8
Erster und kostbarster Literaturpreis
ОглавлениеWieder zurück an der Fakultät folgen weitere Parteiaussprachen. Anfang Juni 1959 finden die Gegner ihre lang gesuchte Gelegenheit. Der Berliner Rundfunk hatte eine Sendung mit Liebesgedichten von Reiner Kunze gebracht.
Darunter sind Gedichte wie „DAS MÄRCHEN VOM FLIEDERMÄDCHEN 1954“. Gebaut wie ein Volkslied erzählt es in sieben Strophen von Liebe, Trennung im Krieg und Tod:
Unterm Mond, unterm Mond,
hei! Da bläht sich der Mantel
von einem, der lebengeblieben,
der lebengeblieben.
Doch fällt da, doch fällt da der Mantel zusammen?
Der Hastende stieß nur, ach
An einen Stein, der liegengeblieben,
der liegengeblieben.
(…)
Als ich siebzehn war,
warst du achtzehn Jahr
und schenktest mir Flieder.
Gingen hin zehn Jahr,
was dazwischen war,
ruht unterm Flieder.
Unter den Steinen kam ich um.
Zehn Jahre machen stumm.
Du schenkst einer anderen Flieder.
Sieh auf die Trümmer rings. Weißt du,
warum ich unter ihnen ruh? –
Wir dachten immer nur an Flieder.26
Dieses intime, tragisch-traurige Lied passt nicht in die verlangte sozialistische Lyrik des „Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend bau auf! Für eine bessre Zukunft richten wir die Heimat auf“ oder zu Fürnbergs Agitationssound im Marschrhythmus: „Du hast ja ein Ziel vor den Augen.“
Bislang hatte Reiner Kunze politische Gedichte veröffentlicht, wie man sie von einem Genossen an dieser Fakultät erwartet. Auch er dichtete im Sog des gefeierten Monuments Wladimir Majakowski, der in seinem revolutionären Duktus schmetterte:
(…)
In unserer Zeit
ist nur der
ein Dichter,
ein Mann der Feder
nur der
– der nützt.
Hinweg
mit dieser Sorte
von Torte!
(…)27
Majakowski lässt die Verse tanzen auf der Tribüne des Kommunismus und begeistert Generationen junger Sozialisten. Er wird aufgebaut zur sowjetischen Dichterikone. Doch er hält sich in der Wirklichkeit selbst nicht aus. 1930 begeht er Suizid.
Verfangen in jenem Weltbild, in dem die Feder als schärfste Waffe gilt, dichtet auch Kunze:
AM RANDE BEMERKT
Ich Arbeiterjunge
Nahm Platz.
Am Wirtshaustisch saßen,
Seelisch leidend,
Eine Dame
(Korpulent,
Mit schwarzen Börstchen auf den Lippen),
Schnitzelschneidend
Ein Herr.
Ihm quollen über Kragenklippen
Das Genick und Backenfleisch:
„Ich war früher auch nicht reich,
Das heißt … direkt
War ich es nicht.
(…)
Doch das Proletarische …
Ist nicht unsre Gegenwart.“
– Die Dame kaute. –
(…)
Und sie schaute,
Daß keiner höre,
Als sie fragte,
Ob wohl die Vergangenheit
Nochmals wiederkehre.
(…)
Ach, mir taten diese Menschen leid,
Hatten nicht die Gegenwart,
Nicht die Vergangenheit,
Und auch die Zukunft
War nicht mehr die ihre,
Weil sie lächelnd schon
Am Tische saß.28
Sein Kommentar heute:
Da haben Sie die ganze Arroganz eines grünen jungen Mannes, der dazu erzogen wurde, Menschen nicht nach ihren Qualitäten zu beurteilen, sondern danach, welcher Klasse sie angehören.
Sein Lyrikdebüt gibt Reiner Kunze 1955 in einem schmalen Gedichtband gemeinsam mit Egon Günther, dem späteren DEFA-Filmregisseur. Schon wenig später wünscht der Dichter, er hätte die Texte besser nicht veröffentlicht.
Aber das Bändchen unter dem Titel DIE ZUKUNFT SITZT AM TISCHE ist in der Welt. Im hohen Ton des Parteipathos schwelgen nicht alle, doch die meisten der versammelten Versuche. Nur einige wenige Liebesgedichte entziehen sich. Das besondere Lob der Genossen findet eins, in dem Parteilichkeit und Liebe Hand in Hand gehen. Und so steht man bei dem frühen Kunze auch vor diesem Gedicht:
„MOHR“
(Die Karl Marx am meisten liebten, nannten ihn „Mohr“)
„Mohr … mein Mohr“ –
So nannte ihn Jenny.
Das Wort war so warm wie ihr Herz
Und so zart wie ihr Leib,
Und ihr Mohr war verliebt
In das Wort, in das Herz, in sein Weib,
Und hat uns die Liebe gegeben,
Liebe –
Jahre vom Leben.
„Mohr … Vater Mohr“ –
So riefen ihn zärtlich die Kinder.
Er hat sie geküsst und hat sie geherzt;
Denn so war seine Art.
Er sang ihnen Lieder
Und hatte ein prächtiges Lachen im Bart –
Und das Glück, er hat’s uns gegeben,
Glück –
Das sind Jahre vom Leben.
„Mohr … Freund Mohr“
So sagte sein treuer Genosse zu ihm.
Ihre Freundschaft, die schönste,
Die jemals gewachsen,
Die gab ihm die Kraft,
Und so hat er unbändigen Willens geschafft –
Und hat uns die Siege gegeben,
Siege –
Sein ganzes Leben.
„Mohr … unser Mohr“ –
Für sich
Nahm er nur seine Sorgen –
Und dachte die Sonne
In unseren Morgen.29
Reiner Kunze sagt mit Blick auf dieses Gedicht:
Ich lese den Text, geschrieben Anfang der fünfziger Jahre, heute mit Scham und Entsetzen. Er ist an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Unter Hitler haben wir Gedichte auswendig lernen müssen wie dieses:
Mein Führer, sieh, wir wissen um die Stunden,
in denen du hart an der Bürde trägst –
in denen du auf unsere tiefen Wunden
die liebevollen Vaterhände legst
und noch nicht weißt: wie wirst du uns gesunden.
(…)
Darum ist unsere Liebe auch so groß,
darum bist du der Anfang und das Ende –
Wir glauben dir, treu und bedingungslos,
und unser Werk des Geistes und der Hände
ist die Gestaltung unseres Dankes bloß.
Anfang der Fünfziger Jahre wurden uns in den Vorlesungen Gedichte gepriesen wie Johannes R. Bechers „Danksagung“ an Stalin:
In seinen Werken reicht er uns die Hand.
Band reiht an Band sich in den Bibliotheken,
Und nieder blickt sein Bildnis von der Wand.
Auch in dem fernsten Dorf ist er zugegen.
(…)
In Dresden sucht er auf die Galerie,
Und alle Bilder sich vor ihm verneigen.
Die Farbtöne leuchten schön wie nie
Und tanzen einen bunten Lebensreigen.
(…)
Dort wirst du, Stalin; stehn in voller Blüte
Der Apfelbäume an dem Bodensee,
Und durch den Schwarzwald wandert seine Güte,
Und winkt zu sich ein scheues Reh.
(…)
Und kein Gebirge setzt ihm eine Schranke,
Kein Feind ist stark genug, zu widerstehn
Dem Mann, der Stalin heißt, denn sein Gedanke
Wird Tat, und Stalins Wille wird geschehn.
Da stand der Bergarbeitersohn, dem in der Oberschule Namen wie Franz Kafka nie zu Ohren gekommen waren, mitten im politischen Kitsch.
Das Gedicht der „Mohr“ ist ein Spiegel seiner Zeit und des manipulierten Denkens. Karl Marx’ Theorie ging im doppelten Wortsinn um als Gespenst in Europa. Dabei war vor den zu erwartenden Folgen – der Zerstörung selbst liberalkapitalistischer Strukturen – durch linke Intellektuelle wie Georges Sorẹl bereits Ende des 19. Jahrhunderts unüberhörbar gewarnt worden. Spätestens jedoch mit Wolfgang Leonhards Die Revolution entlässt ihre Kinder und kurz darauf mit Nikita Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU konnte man auch in der DDR das zerstörerische Potenzial dieser Lehre ahnen.
Bei Reiner Kunze setzt 1956 ein Umdenken ein. Doch noch Jahre später, schon in Greiz, wird ein Genosse der SED-Kreisleitung ihn auf sein Gedicht „MOHR“ ansprechen und fragen, warum er nicht mehr Gedichte dieser Art schreibe. Er antwortet, dieses Gedicht sei eines seiner schlechtesten.30 Und aus heutiger Distanz sagt er:
Von mir gibt es frühe Texte, die zu meiner Biografie, aber nicht zur Literatur gehören. Damals war ich gewiss ein politischer Autor, denn ich hatte geglaubt zu wissen, wie man die Welt verändern kann. 31
Und plötzlich sendet der Rundfunk Gedichte, mit denen er die Erwartungen an ihn als politischen Dichter unterläuft. Schlimmer noch, er unterläuft den gerade zwei Monate zuvor beschlossenen Bitterfelder Weg, den Konsens der Staatskünstler, in ihren Werken primär die Arbeitswelt und die Erfolge des Sozialismus darzustellen und zu preisen. Stattdessen veröffentlicht er Gedichte, die der Liebe und Erotik huldigen.
Kommt er, dann werben
Lippen und Arme,
bis er gegangen,
und aus den Brüsten
drängen die derben
Hände
das Blut in die Wangen.
(…)
Die Liebe
ist eine wilde Rose in uns,
unerforschbar vom Verstand
und ihm nicht untertan.
Aber der Verstand
ist ein Messer in uns.
Der Verstand
ist ein Messer in uns,
zu schneiden der Rose
durch tausend Zweige
einen Himmel.32
Für spätere Veröffentlichungen streicht er die ersten sieben Verse und das Gedicht wird unter dem Titel „Die Liebe“ eines seiner dauerhaft gültigen. Seinen Gegnern sind die gesendeten Gedichte eine Ungeheuerlichkeit. Die Parteiorganisation der Fakultät schaltet den Parteisekretär des Staatlichen Rundfunkkomitees ein und verlangt, die Kultredakteure zu maßregeln. Gegen Reiner Kunze wird am 9. Juni 1959 ein Parteiverfahren eröffnet. Der Vorwurf: Beteiligung an konterrevolutionären Aktivitäten und parteischädigendes Verhalten. Als er zu seiner Entlastung zwei Zeugen befragen lassen will, soll es Klaus Höpcke gewesen sein, der vom Präsidium aus dazwischenfährt: „Wir sind hier nicht in einer bürgerlichen Gerichtsversammlung, wo man Zeugen aufrufen kann.“
Es gab eine große Versammlung, die dauerte sieben Stunden, bis Mitternacht. Mir wurde vorgehalten: „Wer solche Gedichte schreibt, kann keine sozialistischen Studenten erziehen.“ – „Mit solchen Gedichten lenkt Kunze von den wesentlichen Aufgaben des Sozialismus ab.“ Das war der Hauptvorwurf. Ich solle mich an Gedichten von Mao Tsetung orientieren: „Das sind auch Liebesgedichte, aber die haben einen Klassenstandpunkt.“ Mir wurde gesagt, entweder ich nehme selbstkritisch Stellung und bekenne, was mir vorgeworfen wird, dann werde die Partei beraten und es wäre nicht unbedingt die Trennung, oder … Daraufhin habe ich gesagt: „Ich distanziere mich nicht von meinen Gedichten.“ Das hat genügt. Das Ergebnis dieses Tribunals ist eine einstimmige Parteirüge wegen „parteifeindlichen Verhaltens, das zu schädlichen Auswirkungen in Lehre und Erziehung der Studenten führte“.33 Eine Rüge ist die zweithöchste Strafe vor dem Parteiausschluss. Dieses Mal geht der Dekan auf Kunzes Kündigung ein. Gleichzeitig hält er noch einmal seine Hand über ihn. Er unterschreibt nicht die Kündigung, sondern einen Aufhebungsvertrag.
In der Vergangenheit hatte der Dekan sich auch gegenüber der Staatssicherheit schützend vor seinen Assistenten gestellt. Jetzt verdichten die Mitarbeiter des MfS das gesammelte Material und eröffnen im Januar 1960 einen „Vorlauf Operativ“, eine Überwachung unter dem Decknamen „Reporter“34 Zwei Inoffizielle Mitarbeiter und eine „Quelle“ im Schriftstellerverband werden auf ihn angesetzt, verstärkte Überwachung erfolgt zur Leipziger Messe. Geklärt werden soll, ob er über Kontakte in die Bundesrepublik verfügt, dort veröffentlicht und ob er weiter „revisionistische Theorien“ verbreitet. Als die operative Bearbeitung in Leipzig anlaufen soll, ist er schon nicht mehr dort, sondern in Berlin. Im März 1961 wird die Akte geschlossen, die Begründung: Eine „direkte Feindtätigkeit“ wurde nicht festgestellt.
Seine Universitätslaufbahn ist im Juni 1959 beendet. Das Credo dieser Jahre fasst er in Epigramme wie dieses:
Dialektik
Unwissende damit ihr
unwissend bleibt
werden wir euch
schulen35
Die nächsten Monate montiert er als Hilfsschlosser Achsen für Schreitbagger im VEB Schwermaschinenbau Leipzig. Nachts schreibt er, bis er gesundheitlich dazu nicht mehr in der Lage ist. Er hält weiter Kontakt mit Schriftstellerkollegen. Erwin Strittmatters Fürsprache ermöglicht es ihm, Nachwuchsschriftsteller in Berlin auszubilden. Das verschafft ihm eine Grundsicherung.
Jetzt kann er, was er wirklich will, Dichter sein, und er erkennt, als Dichter bestehen kann er nur, wenn er zu seiner ureigensten Sprache findet. Doch die wiederum findet er nur, wenn er seine Themen selbst setzt. Er entdeckt, Gültiges gelingt ihm nur aus eigenem Erleben heraus. Nur dann stellen sich Assoziationen ein, die die Dinge tiefer durchdringen. Nur dann ist es möglich, Dinge und Geschehnisse auf ihr Wesen zu reduzieren – und im Leser Bilder und Empfindungen zu wecken. Damit stellt er sich außerhalb des „Hochwaldes“, der seine Bäume zum Gleichmaß erzieht.
DER HOCHWALD ERZIEHT SEINE BÄUME
Der hochwald erzieht seine bäume
Sie des lichtes entwöhnend, zwingt er sie,
all ihr grün in die kronen zu schicken
Die fähigkeit,
mit allen zweigen zu atmen,
das talent,
äste zu haben nur so aus freude,
verkümmern
Den regen siebt er, vorbeugend
der leidenschaft des durstes
Er lässt die bäume größer werden
wipfel an wipfel:
Keiner sieht mehr als der andere,
dem wind sagen alle das gleiche36
Ihm wird bewusst, was er in seinen lyrischen Anfängen verfasst hat, war selten mehr als die Illustration vorgegebener Ideen. Noch dazu im hohen Ton des Pathos konnte dabei nur Plattheit herauskommen: „Die fähigkeit … das talent … verkümmern.“
Für Reiner Kunze völlig unerwartet verändert die Lyriksendung im Berliner Rundfunk im Juni 1959 ein zweites Mal sein Leben. Wieder sind seine Gedichte der Grund. Fast ein halbes Jahr nach der Sendung erreicht ihn eine Karte aus Aussig an der Elbe (Ústí nad Labem). Eine Hörerin bittet darauf in perfektem Deutsch um eines der Gedichte. Nach der Handschrift vermutet er eine pensionierte Germanistin. Er schickt dieser Elisabeth Littnerová seinen Gedichtband Vögel über dem Tau und es entspinnt sich ein Briefwechsel, der nach anderthalb Jahren vierhundert Briefe umfasst. Elisabeth Kunze erzählt darüber: Ich hatte Spätdienst in der Poliklinik und kam etwa um zehn Uhr nach Hause. Ich hab mir mein Abendessen gemacht, Kartoffeln geschält und das Radio eingeschaltet. Sie brachten Gedichte. Bei einem musste ich aufhören zu schälen. Es war „Das Märchen vom Fliedermädchen“. Ich war so berührt, dass ich das Gedicht haben wollte. Aber ich wusste nicht, welcher Sender es war.
Am nächsten von Aussig lag Dresden. Also hab ich einfach geschrieben: „Radio Dresden, Dresden, DDR.“ Ich hatte nur den Namen „Kunz“ gehört. Und ich dachte, vielleicht hat er im vergangenen Jahrhundert gelebt. Radio Dresden hatte die Sendung nicht gemacht und schickte meine Karte nach Leipzig. Leipzig hatte die Sendung auch nicht gemacht, aber derjenige, der das bearbeitete, war so nett und hat die Karte nicht in den Papierkorb geworfen, sondern nach Ostberlin geschickt. Ich hatte schon nicht mehr mit einer Antwort gerechnet. Plötzlich kam das ganze Sendemanuskript und die Redakteurin, Frau Fiebig, den Namen werden wir nie vergessen, schrieb, sie hätte die Karte an den Autor weitergeleitet.
Im Januar, das weiß ich noch ganz genau, kam ein Brief, darin das Buch mit Widmung. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, dass der Autor mir sein Buch schickt. Ich setzte mich spontan hin und schrieb ihm, wie ich vom Nachtdienst spät heimkam, müde war und plötzlich sein Buch hier fand. Das war der Anfang eines langen Briefwechsels.
Elisabeth Littnerovás Vater stammt aus Iglau (Jihlava), einer deutschen Sprachinsel in Mähren, südwestlich von Brünn (Brno). Dorthin hatte einst der böhmische König deutsche Bergleute für den Silberbergbau angeworben. Ihre Mutter ist eine Tschechin aus Wien.
Das Mädchen Elisabeth wird in Znaim (Znojmo), Südmähren, geboren. Ab 1937 wird auch Südmähren von Hitler annektiert, und Elisabeth besucht deutsche Schulen. Ihr Vater kommt als Wehrmachtssoldat nach Russland und gilt schließlich als vermisst. Als 1945 die wilden Vertreibungen beginnen, beschützt die Familie ein tschechischer Onkel, ein katholischer Priester in der Nähe von Znaim. Ende 1946 kehrt der Vater aus Russland zurück und will mit seiner Familie nach Österreich auswandern. Doch die Behörden eröffnen ihm, als Deutscher solle er sich scheiden lassen, dann könne er gehen, seine tschechische Frau und die Kinder müssen bleiben. Es ist die Zeit der Bẹneš-Dekrete. Gemischtehen sind der Führung ein Dorn im Auge. Der Vater entscheidet sich, bei seiner Familie zu bleiben, leidet in der ČSSR aber zeitlebens unter seiner Ausgrenzung als Deutscher.
Elisabeth darf Medizin studieren und wird als Fachärztin für Kieferorthopädie an die Poliklinik von Aussig delegiert. In ihrem Inneren, sagt sie, fühlte sie sich immer der deutschen Kultur verbunden, sie habe deutsche Bücher gelesen und auf ihrem uralten Radio deutsche Sender gehört.
In ihren Briefen erzählen Elisabeth Littnerová und Reiner Kunze sich ihre Leben. Besuchen dürfen sie einander nicht. Die Grenze ist für Privatpersonen geschlossen. Mit Elisabeths Hilfe entdeckt Reiner Kunze die tschechische Literatur.
Einem ihrer ersten Briefe hatte die junge Ärztin Gedichte des von ihr sehr geschätzten Vít Obrtel beigelegt. Reiner Kunze fragt nach weiteren Dichtern. Sie übersetzt ihm interlinear Jan Skácel, Miroslav Holub und Vladimír Holan, Ludvík und Milan Kundera. Diese Übertragungen vermitteln ihm eine völlig neue Perspektive. Auch das sind Gedichte aus einem sozialistischen Land, aber aus ihnen sprechen Sichtweisen, auch in der politischen Selbstverortung, wie er es aus der DDR nicht kennt. Reiner Kunze beginnt nachzudichten:
Milan Kundera (geb. 1929)
DICHTER SEIN HEISST
bis ans ende gehen
Ans ende der zweifel
ans ende des hoffens
ans ende der leidenschaft
ans ende des verzweifelns
Dann erst zusammenzählen
Eher nicht Eher nicht
Sonst kann’s geschehen
die summe des lebens
kommt dir lächerlich klein heraus
Und du taumelst wie ein kind
ewig nur im kleinen einmaleins
Dichter sein heißt
immer bis ans ende gehen37
Dieser Kundera spricht Kunze aus der Seele. Durch Elisabeths Übertragungen entdeckt er in der Entlegenheit Böhmens und Mährens sein ureigenstes lyrisches Naturell. Das Nachdichten gewinnt für ihn einen ganz eigenen Reiz. „Es gibt Dichter“, wird er später Karl Dedecius zitieren, „die selbst Hervorragendes geschaffen haben, aber niemals imstande waren, nicht einmal für einen Augenblick, aus der eigenen Haut, aus dem eigenen Stil, aus der eigenen Vorstellung zu schlüpfen. Solchen Dichtern gelingen in der Regel Übersetzungen nicht.“38
So ein Dichter ist er nicht. Sein Ehrgeiz ist geweckt. Er hat keine Schwierigkeiten, sich vom eigenen Stil zu lösen, ganz in das fremde Gedicht hineinzulauschen, es abzuklopfen auf Harmonien und Brüche, auf Wortspiele, korrespondierende Bilder, auf Doppelbödigkeiten. Wo immer möglich, sucht er den Dichter in seiner eigenen Welt auf, um ihm zuzuhören, um ein Gefühl für ihn zu bekommen. Zugute kommt ihm, er ist ein Arbeiter am genauen Wort bis zu dessen Perfektion, dazu versehen mit einem sicheren Sprachgefühl.
So entdeckt er auch sehr bald, welche sinnliche Vielfalt in der tschechischen Sprache und in ihrer Poesie liegt. Zugleich erkennt er ihre Grenzen in der Abstraktion. Eine Symbiose aus der Sinnlichkeit der tschechischen Sprache und dem Bedeutungsreichtum der deutschen Sprache erscheint ihm verführerisch genug, um sich in die tschechische Sprache zu vertiefen. Er will nichts Geringeres, als die Vorzüge beider Sprachen in Nachdichtungen und in der eigenen Dichtung zusammenführen.
Nachdichten heißt für Reiner Kunze, im anderen das Eigene schaffen, und das Andere zugleich bewahren. In einer seiner Münchener Poetik-Vorlesungen 1988/89 formuliert er es so: „Nachdichten heißt, dasselbe zu schaffen, das ein anderes ist, ein Eigenes, das ein Fremdes bleiben muß.“39 Und mit der ihm eigenen Bescheidenheit fügt er hinzu: „Nachdichten und einander den eigenen Vers hinschenken – das ist der Internationalismus der Dichter.“40
Ein Jahr lang kennen sich Reiner Kunze und Elisabeth Littnerová aus Briefen und von je einem Foto her. An einem Nachmittag meldet Reiner Kunze vom Apparat eines befreundeten Ehepaares aus ein Telefongespräch an. Nachts um halb drei kommt die Verbindung zustande und er fragt Elisabeth, ob sie seine Frau werden wolle. Ihre Antwort: „Ja.“ Da sind sie sich noch nicht ein einziges Mal begegnet. Als Medizinerin, sagt Elisabeth Kunze, habe man das Glück, viele Menschen zu kennen. Einer ihrer Patienten leitet ein „Theater der Poesie“. Es ist eine der Stätten, an denen Lyriker und begabte Laien Gedichte vortragen. Sie fragt ihn, ob es nicht möglich sei, einen ostdeutschen Autor einzuladen. Über diesen Weg kommt Reiner Kunze schließlich für drei Tage nach Aussig, in eine Industriestadt mit ungeheurer Luftbelastung. Die Atmosphäre, den allgemeinen Zustand in dieser vom Verfall gezeichneten Stadt und sein Empfinden fasst er in ein Gedicht:
SPÄTSOMMER
Die menschen ducken sich,
wie die vögel sich ducken in den bäumen
unter einer sonnenfinsternis:
(…)
Und der berg Milešovka, zu dem wir aufbrachen wird sinnlos
Er senkt sich zwischen das wort ich und das wort
liebe und das wort dich,
die ich endlich sage, ohne von der haut zu
sprechen,
und die nun keinen satz ergeben
(…)41
Für das Jahr 1961 vereinbart Reiner Kunze mit dem Verlag „Volk und Welt“ einen Sammelband tschechoslowakischer Lyrikübersetzungen. Das ermöglicht ihm mehrere Arbeitsaufenthalte und das Zusammensein mit Elisabeth. Sie besuchen Ludvík Kundera und fahren zusammen zu dessen Cousin Milan. Sie kommen in Kontakt mit Vladimír Holan, Miroslav Holub, František Hrubín, Jaroslav Seifert, Jan Skácel. Die Zahl seiner Nachdichtungen in den nächsten Jahren beeindruckt. Allein die Titelliste spricht für sich.42
Besonders verbunden fühlt er sich dem Dichter und Erzähler Jan Skácel. Beide spüren die Seelenverwandtschaft in ihrer Dichtung, in ihrem Schweigen, in ihren Leben. Skácel formt Verse, die auch von Reiner Kunze sein könnten, – und die es in der Nachdichtung werden: „Mit einemmal entsann ich mich / wo wir zu hause das salz haben.“43 Skácel dichtet und Kunze überträgt:
KLEINE BAHNHÖFE
Gegenden gibt’s, da winken die kinder den zügen noch.
Immer ist in uns ein hauch von traurigkeit
auf kleinen bahnhöfen,
wo niemand wartet.
Plötzlich ist in uns die weiße seele des holunderbaums,
plötzlich ist in uns zu viel vom menschen.44
Ihre Begegnung ist ein fruchtbringender Glücksfall. Peter Handke schwärmt in seiner Laudatio für den Petrarca-Preisträger Jan Skácel 1989 von der „märchenhaft glücklichen Übersetzung“ durch Reiner Kunze.
Wie Kunze wächst der elf Jahre ältere Skácel in ärmlichen Verhältnissen auf - in einem Dorf in Mähren. Wie Kunze besitzt auch Skácel eine ausgeprägte Sensibilität für die Natur. Während des Zweiten Weltkrieges wird er als Zwangsarbeiter zum Tunnelbau nach Österreich deportiert. Nach dem Krieg studiert Skácel in Brünn, er wird Literaturredakteur beim Rundfunk und von 1963 bis zu ihrem Verbot 1968 bestimmt er als Chefredakteur das Profil der renommierten Literaturzeitschrift Host do domu (Der Gast ins Haus).
Ähnlich wie Reiner Kunze überträgt auch Jan Skácel das Erlebte assoziativ und bildintensiv ins Gedicht. Viele seine Metaphern spielen mit der Naivität und reichen zugleich in das Elementare hinein, in Zeit und Sein, Sprachlosigkeit und Vergängnis.
KINDHEIT
Goldne goldne brücke
Wer hat sie denn zerbrochen
Gegen abend wuschen die mütter uns die füße
heute würde ich dieses wasser trinken
Und wie heftig wir schliefen
(…)45
In seinen Versen verwandeln die Dinge der Natur sich auf überraschende Weise. Da wird die „distel, das königszepter voller blattläuse“ und „im quaken der frösche / grünte die nacht“, oder nach einem lange versprochenen Aufbruch werden die „wolken, naßkalt wie gesprenkelte forellen, / schnellen über unsere köpfe. // Und wir geben diesem wind den namen Jaromír …“. Besorgnis um das Dasein, die Menschen eingeschlossen, macht die Aura der Verse dieses Dichters aus, egal ob sie von Heiterkeit oder von Melancholie getragen sind.
Jan Skácel und Reiner Kunze verbindet lebenslang eine herzliche Freundschaft. In einem seiner langen Briefe schreibt der Brünner Freund: „Wirst Du wieder einmal zu uns kommen? Briefe sind ein zu dünnes eis, sie tragen nicht alles, womit man einen fluss überqueren möchte.“46
Nach 1968 kann Jan Skácel seine Gedichte nur noch im Ausland oder im Samisdat veröffentlichen. Die tschechischen Kulturverhinderer erreichen ihr Ziel. Als er 1989 stirbt, ist er den jüngeren tschechoslowakischen Lesern nahezu unbekannt.
1961 veröffentlicht Reiner Kunze im DDR-Verlag „Volk und Welt“ seinen ersten Band tschechischer und slowakischer Nachdichtungen unter dem Titel Der Wind mit Namen Jaromír nach einer Gedichtzeile Skácels. Dieser kleine Band verschafft ihm Hochachtung unter tschechoslowakischen Kollegen. Ihr Land ist ihm da längst zur Wahlheimat geworden. Durch Elisabeth und die Schriftstellerfreunde findet er nach dem Tiefpunkt Leipzig für sich einen neuen Sinn.
Und er ist herzlich willkommen. Milan Kundera schreibt 1964 in den Literární noviny, Kunze sei der slawischste Deutsche, den er kenne. Welch ein Kompliment! Wann immer er die Möglichkeit erhält, fährt er auf Besuch:
(…)
In den nächten, da das visum abläuft
mit dem ticken meiner uhr,
brechen die alten wunden auf in mir, kreisen die
gedanken, sich formierend
für die rückkehr in die unbewältigte
vergangenheit …
(…)47
Einmal bekommt er einen schweren Asthmaanfall in der schwerst belasteten Luft von Aussig. Er muss ins Krankenhaus, und die Ärzte verlängern den Aufenthalt mit einer mehrwöchigen Krankschreibung über das abgelaufene Visum hinaus. Er dankt ihnen auf seine Weise:
ENTSCHULDIGUNG
(den waschfrauen des bezirkskrankenhauses Aussig
an der Elbe)
Seit mir das chemische konglomerat über der stadt,
physikalisch durchsetzt mit flugasche und
lokomotivenruß
und unlängst vom wochenblatt SEVER gereinigt
geboten
in dem begriff „luft“,
schwarz in der lunge verblieb
(nebst einem schock nebel über der Elbe),
werde ich reichlich beschenkt
mit der weisheit der ärzte, den mühen der
schwestern,
(…)
Das bettuch mit den schlimmen tintenflecken im
haufen der abgezogenen wäsche
ist meines.48
Reiner Kunze nutzt die Aufenthalte für Gespräche, für die Arbeit an Nachdichtungen und als freier Mitarbeiter für tschechoslowakische Literaturzeitschriften:
Wir haben nie geschwätzt. Es ging immer um Literatur, um Übersetzungen, um die einzelnen Texte und um die Frage: Was machen wir? Wie können wir helfen? Es war eine solidarische Gemeinschaft. Und dann erschien „Iwan Denissowitsch“. Die ČSSR war das einzige Ostblockland, in dem dieses Buch von Solschenizyn veröffentlicht wurde. So habe ich es kennengelernt. Inzwischen ging es auch um das Politische. Was wir da alles besprochen haben, Nächte haben wir so verbracht. Manchmal haben wir auch einen Ausflug gemacht, mit Ludvík Kundera, oder wir haben bei ihm lange Abende in seinem Riesengarten gesessen, haben „Špekáčky“, das sind fette, dicke Würstchen, ins Feuer gehalten. Und immer ging es um Literatur oder um die politische Situation.
Was wesentlich ist, und was oft nicht unterschieden wird: In der Opposition der Intellektuellen gab es eine große Gruppe und eine ganz winzige Gruppe. Die große Gruppe begehrte auf gegen den Parteikurs und gegen das Stalinistische, forderte Lockerungen. Da waren sicher auch viele darunter, die westliche Demokratie wollten, aber sie artikulierten es nicht. Wer wirklich ein demokratisches System mit Gewaltenteilung, Mehrparteiensystem, freie Wahlen, soziale Marktwirtschaft forderte, war die winzige Gruppe um Václav Havel und Rio Preisner.
In der DDR habe ich nie differenziert zwischen dieser kleinen Gruppe und den anderen intellektuellen Empörern. Es hätte sie gefährden können.
Eine große Ehre wird Reiner Kunze 1968 zuteil. Der Einmarsch der sowjetischen Besatzungstruppen steht direkt bevor, doch er wird in Prag mit dem Übersetzerpreis des tschechischen Schriftstellerverbandes ausgezeichnet: „Es war allein schon eine unwahrscheinliche Geschichte, dort hinzufahren. In dieser Situation den Preis zu bekommen, war eine beglückende Auszeichnung.“
Kurz darauf wird der Verband aufgelöst, kritische Autoren und Intellektuelle emigrieren oder erhalten Berufsverbot und werden zum Teil als Hilfsarbeiter im Straßenbau oder in der Forstwirtschaft zwangsverpflichtet.
Begonnen hatte alles in Aussig durch jene junge Frau namens Elisabeth. Doch das Hochzeitsversprechen, das das Paar sich gab, ist weit schwerer einzulösen, als sie dachten. Tschechoslowakische Staatsbürger, die einen Ausländer heiraten wollen, benötigen die Einwilligung des Innenministers. Und die scheint auch in ihrem Fall aussichtslos. Elisabeth Kunze erzählt:
Wie oft bin ich nach Prag gefahren. Am Eingang des Ministeriums befand sich eine kleine Telefonzelle. Weiter durfte man nicht hinein. Von dort aus musste man anrufen und seinen Namen nennen. Dann kam die Antwort: „Nein, ist nicht erledigt.“
Geholfen hat uns, dass mein Mann Nachdichtungen machte, die er in der DDR als kleines Bändchen herausbrachte. Dieses Büchlein hat er an den tschechischen Schriftstellerverband geschickt und gebeten, ob sie sich nicht dafür einsetzen könnten, dass wir heiraten dürfen.
Zuvor hatte Reiner Kunze sich an die zuständigen Stellen der DDR, selbst an Ministerpräsident Otto Grotewohl gewandt. Erfolglos. Den glücklichen Ausgang ergänzt er so:
Im tschechischen Schriftstellerverband witterte man einen Nachdichter tschechischer Poesie. Das Büchlein in der Hand intervenierten sie beim tschechischen Kulturminister und erklärten, dass unsere Heirat im nationalen Interesse liege. Eines Tages kam mit unscheinbarer Post die Heiratserlaubnis. So wurde meine Frau mein erster und kostbarster Literaturpreis. 49
Im Sommer 1961 können Elisabeth und Reiner Kunze endlich in Aussig ihre Hochzeit feiern. Wie viel sie einander bedeuten, erzählen
DIE GROSSEN SPAZIERGÄNGE:
Die großen Spaziergänge, auf denen wir
nicht ins leere greifen
Immer geht die hand des anderen mit50
Hier, spricht die Gewissheit, finden und verbinden zwei sich auf ein Leben. Dennoch müssen sie noch fast ein Jahr warten, bis Elisabeth Kunze die Ausreisegenehmigung in die DDR erhält.
Bisher ist Elisabeths Tochter Marcela die meiste Zeit bei den Großeltern in Znaim aufgewachsen. Der Schichtdienst im Krankenhaus lässt keine andere Möglichkeit für ihr kleines Kind. Als Marcela auf die Welt kommt, ist ihre Mutter noch Studentin. Der Vater trennt sich vor der Geburt.
Beim ersten Besuch beugt Reiner Kunze sich zu ihr hinab und sagt: „Du bist aber groß geworden!“ Sie ist dreieinhalb und stolz: Das ist ihr Vater. Sie lassen sie in dem Glauben, bis sie zwölf ist. Da entdeckt Marcela in Vögel über dem Tau eine Widmung „Für Elisabeth Littnerová“. Als die Mutter von der Arbeit kommt, ist das Mädchen verstört. Beide setzen sich auf den Boden mit dem Rücken an den Kachelofen und Elisabeth erzählt ihr Leben. Danach ist alles gut.