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Dienstag: Unruhe gleich Energie

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»Ja«, räuspert sich Bürgermeister Marther. »Ja, ich, äh, freue mich, dass Sie alle so kurzfristig erscheinen konnten. Noch dazu... Also, wie Sie ja mittlerweile sicher mitbekommen haben, ist es zu einem tragischen Unglücksfall gekommen und der geschätzte Kollege und verdiente Mitarbeiter Hans-Herrmann Klamm wurde von uns, also, aus unserer Mitte gerissen sozusagen.«

Er blinzelt durch den überfüllten Personalraum und blickt fahrig in die Runde von seinem Platz am Kopfende des winzigen Resopaltisches, eingeklemmt zwischen Tante Heidi zu seiner Rechten und einem schlanken und fabelhaft druckimprägniert wirkenden Managerprototypen im makellos anthrazitfarbenen Anzug zu seiner Linken. Der Unbekannte lächelt gekonnt offen herum, vor sich ein iPad auf dem Tisch. Sein schmales, hafrig helles Gesicht wird gekrönt von einem unwirklich dichten, kurz geschnittenen Lockenwuchs, der aussieht, als hätte ihm jemand einen ausgehöhlten gold-gelben Blumenkohl über die Schädeldecke gestülpt. Er sieht mir kurz in die Augen und sein Lächeln wächst.

Ich schiebe meine Stuhl am anderen Ende der bedeutungsvollen Tafelrunde ein Stück zurück, stoße jedoch gegen Saskias Knie, die Kaugummi schmatzend hinter mir auf der kleinen Küchenzeile sitzt, ihrerseits eingezwängt zwischen Caruso und Anita, die sich, wie sie sagt, schon den ganzen Morgen auf diese Versammlung gefreut hat. So kommt sie doch wenigstens mal von der verhassten Freibadkasse los, in der ich, durch das Fenster an der Längsseite des Raumes, Marlies sich die Nägel feilen sehe. Trotz des samtig milden Wetters hält sich der Andrang in Grenzen. Wahrscheinlich alle in Bomlitz. Da ist heute Wettrutschen oder irgendsoein Quatsch. Soll mir recht sein, so können wir die Halle zu lassen und Viktor kriegt das im Freibad alleine hin während wir hier die Zukunft gesundbeten.

Die Luft staut sich trotz gekippter Fenster unter den industriell hypnotischen Stanzmustern der Zweckbaudecke. Es stinkt nach verzweifelt parfümiertem Mensch, Kaffee, Walters knirschender Lederjacke und, natürlich, Schokolade. In Schweigen gehört Schlüters auf den Tisch, egal was kommt. Vor allem, wenn es fast nichts kostet. Keiner rührt die Schale mit ausgesuchter Ausschussware an. Zwei Kilo Eiskonfekt. Die hatte Klamm noch über seinen Schwager besorgt.

»Ja, also, um es kurz zu machen», fährt Bürgermeister Marther fort und zupft käfern an seiner Krawatte herum. Taubenblau heute. Verwegen. »Es ist so, dass wir diesen Verlust nicht nur, ich sage mal, wegstecken, also verarbeiten müssen. Nein, wir müssen auch darauf reagieren. Und unsere Personalabteilung hat nach reiflicher Überlegung, mit meiner bedingungslosen Unterstützung, möchte ich hinzufügen, einen Entschluss getroffen, mit dem Sie alle, also, alle, die es betrifft, meine ich, sehr gut werden leben können. Ist doch so, Frau Sarge-Albenbrecht?«

Tante Heidi erschrickt ein wenig, fängt sich nach mikroskopischem Backenzittern jedoch sofort wieder, nimmt die Brille ab und segnet milde die Runde mit deren Bügeln. In meinem Kopf wälzt sich ein sterbendes Schaumgummiungetüm von einer Seite auf die andere. Ich hasse Alkohol. Und schlafen konnte ich auch nicht richtig. Zuviel los, zu viele Möglichkeiten, zu alleine. Die halbe Nacht habe ich versucht, mich mit Lesen abzulenken. Der Fremde, wieder eins von Maikes Büchern. Hausaufgabe, Teil weiß nicht mehr, damit ich nicht nur immer Schundromane lese oder, wenn mir der Sinn nach sogenannter Kultur steht, diesen überschätzten depressiven Zyniker Tassilo Eisen, wie sie es ausdrückt. Ich bin da ja nicht so aber Camus hat bisher auch nicht wirklich was gebracht. Genau wie zuvor schon Milan Kundera oder Virginia Woolf oder dieser eine nihilistische Amerikaner da. Obwohl, der war eigentlich gar nicht so schlecht. Vor allem die Geschichte von dem Typen, der sich mit dem nackten Arsch auf den Bodenablauf des Swimming Pools setzt und durch den Sog ausgeweidet wird. Da kann man sich doch sozusagen berufsbedingt reinfühlen. Das kam meiner sonstigen Horrorquatschlektüre schon näher. Arme Maike. Was diese Frau nur immer alles aus mir rauszuholen versucht...

Ein vertrautes Bild schrillt durch mich hindurch. Lanzen von Sonnenlicht in denen der Staub taumelt durchbohren ein dämmrig plump lauerndes Zimmer. Bücher über Bücher, meterweise Regalwände voller Klassiker und Trash. In einer Ecke ein Schrein nur dem Werk des Schweigener Dorfheiligen Tassilo Eisen gewidmet, in sämtlichen Editionen. Die Obsession des Mannes. Seine unversnobte Liebe für Bücher, für Geschichten, egal welchen Genres oder kulturellen Ansehens ist eines der Dinge, die ich nicht an ihm hasse. Obwohl, Hass kann man das ja nun eigentlich auch nicht nennen. Wollen mal nicht übertreiben.

Ich kneife in meinen Augen herum, das Stechen dahinter jagend. Tante Heidis beschwörend heiterer Ruf fährt in mich, der ganze Raum strafft sich gespannt.

»Genau, Bürgermeister Marther, ganz genau so ist es«, psalmodiert sie und ihr Blick fängt mich, wie der einer stolzen, ernsten Mutter.

»Felix«, sagt sie zu mir und sieht von mir zum Rest der Gruppe und zurück. »Wir haben ja gestern bereits ausgiebig darüber gesprochen und ich möchte auch nochmal hier betonen, dass ich es ganz ganz toll von dir finde, wie spontan du bereit bist in dieser...«

Und sie schickt ihre Zuhörer durch einen ihrer gefürchteten, mäandernden verbalen Irrgärten. Augen werden glasig, Badelatschen schieben sich quietschend über den Fliesenboden, wie in Vorbereitung einer Massenflucht, Bürgermeister Marther dreht mit höchster Taktung an seinem Ehering, Saskia klickt grausam mit ihren künstlichen Nägeln und saugt dezent knacksend an ihrem Kaugummi, Walter, das Fenster im Rücken, verschränkt die Arme und fixiert mich grimmig, hinter ihm unterhalten sich lautstark ein paar Jugendliche in der spärlichen Besucherschlange an der Freibadkasse. Nur das Lächeln des regungslosen Unbekannten mit der Blumenkohlfrisur ist unverändert. Ich greife zu meiner Kaffeetasse, bemerke, dass sie leer ist und halte mich nutzlos daran fest. Viktors Stimme bratzt durch die Lautsprecheranlage: »Bitte nicht in der Rutsche anhalten!« und wird mit dankbarem Gelächter gefeiert. Tante Heidi faltet ihre Brille auf und zu, wackelt verwirrt mit dem Kopf und lacht ebenfalls.

»Ja, Frau Sarge-Albenbrecht, vielen Dank«, schnarrt Bürgemeister Marther, die Gelegenheit ergreifend. »Also, um es kurz zu machen, wir haben in Abstimmung mit Betriebsrat und allen zuständigen Gremien in der Verwaltung beschlossen, Herrn Freiwaldt die Leitung des Forstbades zu übertragen.«

Die Luft brütet stumm unter der Decke. Caruso schnippt mir von hinten triumphierend gegen den Ohrring.

»Den Posten des Stellvertreters«, fährt Bürgermeister Marther fort, »wird mit sofortiger Wirkung Herr Teller übernehmen.«

Mir wird ein bisschen eisig. Wieso, verdammt noch mal, können die einem nicht einfach mal alles erzählen, bevor sie einen in die Manege stoßen? Ich sehe zu Walter, der mich steinern mustert, den drahtig grauen Bart vorschiebt wie ein grüßendes Stachelgeflecht und mir langsam mit den Lidern zunickt. Von Walter kommend ist das fast schon eine brüderliche Umarmung. Vor Erleichterung sackt mir die leere Tasse herunter und klappert auf dem Untersetzer.

»Ja«, sagt Bürgermeister Marther. »Ja, Herr Freiwaldt, Herr Teller, vielen Dank nochmal für ihre Bereitschaft, diese Aufgaben zu übernehmen. Die Unterstützung der Verwaltung ist Ihnen selbstverständlich gewiss. Zögern sie bitte nicht, auf uns zuzukommen, Herr Freiwaldt, wenn es Probleme gibt. Ja? Ja, und das Team arbeitet ja seit Jahr und Tag Hand in Hand wie eine geölte... na, wie ein eingespieltes Team eben.«

Bürgermeister Marther faltet die Hände auf dem Tisch und lehnt sich zurück. Er mustert kurz die Runde, blickt zu Tante Heidi, zu mir, dann kämpft er seinen Stuhl so gut es geht ein Stück vom Tisch zurück und wendet sich halb dem unverändert lächelnden Unbekannten zu seiner Linken zu. Das muss doch wehtun, diese ständige Grinserei.

»Gut, dass wäre also erstmal geklärt. Allerdings ist das nicht die einzige Neuerung die dieser Tage ins Haus steht. Wobei ich betonen möchte, dass es reiner Zufall ist, dass sich diese beiden Ereignisse so abrupt überschneiden. Also, das mit Herrn Klamms Tod, das konnte ja nun wirklich keiner ahnen. Und es war von Seiten der Verwaltung schon länger geplant, eine, wie soll ich sagen, Situationsanalyse durchzuführen.«

Fragendes Atmen unter den Mitarbeitern. Tante Heidi nickt eifrig. Walter knurrt etwas hinter verpressten Lippen. Saskia hört auf, mit ihrem Kaugummi zu knacksen. Ich habe Durst und würde jetzt am liebsten auf meinem Rad sitzen. Wald, Feld, Landstraße, egal. Oder schwimmen. Immer schwimmen.

»Und zu diesem Zwecke«, sagt Bürgermeister Marther, »haben wir uns externe, professionelle Hilfe gesucht und zwar in Person von Herrn Andersen, den ich Ihnen allen hiermit vorstellen möchte.«

Der Blumenkohltyp erhöht die Wattzahl seines Lächelns, nickt von einem zum anderen und sagt mit geschult gewinnender Stimme knapp: »Hallo und guten Tag zusammen.«

Das ist also der geheimnisvolle Holm-Rüdiger Andersen. Was das wohl wird? Undifferenziertes Stimmengequirle schwappt ihm schlapp entgegen, perlt ab und versiegt. Bürgermeister Marther wackelt mit dem Mund und spielt am Henkel seiner Kaffeetasse herum.

»Ja«, krächzt er, fixiert mich und räuspert sich wie mit einem Schuss. »Ja, also, Herr Andersen ist Unternehmensberater im Dienste von Aqua Hanseatic Consulting aus Hamburg und wird in der kommenden Zeit zu Gast bei uns im Hause sein, also im Forstbad jetzt vor allem aber selbstverständlich auch in den entsprechenden Abteilungen der Gemeindeverwaltung, um sich ein Bild von, Herr Andersen, korrigieren Sie mich ruhig, ein Bild von den Arbeitsabläufen zu machen. Also kurz gesagt, wird er uns dabei helfen, zu entdecken, wie wir noch besser werden können. Nicht mehr aber auch ganz bestimmt nicht weniger. Nicht? Nicht?«

»Noch besser?« kichert Tante Heidi einsam in die Runde. Walter kaut stumm malmend seine Zunge.

»Genau, Herr Bürgermeister Marther«, perforiert Holm-Rüdiger Andersen die stille Wand lässig. »Im Wesentlichen trifft das meine Aufgabe ganz präzise.«

Er zählt an geschmeidig sich biegenden Fingern ab: »Prozessabläufe analysieren, auswerten, evaluieren, Potenziale freilegen, Möglichkeiten zur Steigerung der Effizienz aufzeigen und Ihnen allen und der Gemeinde Schweigen dabei zu helfen, den Arbeitsalltag hinsichtlich Ergebnis, Performance aber auch, ganz wichtig, Genuss zu optimieren.«

»Genuss?« murmele ich bevor ich mich bremsen kann.

»Jawohl, Herr Freiwaldt«, strahlt Holm-Rüdiger Andersen. »Der Genuss des Erfolges. Der Genuss, gemeinsam etwas zu erreichen, Grenzen zu überwinden und neue Horizonte aufzutun.«

»Ja, gut, vielleicht sollten wir da jetzt noch nicht zu sehr ins Detail gehen, Herr Andersen«, unterbricht Bürgermeister Marther. »Also, Herr Andersen wird, wie gesagt, in der nächsten Zeit unser Gast sein und, im Rahmen seiner Aufgabe, Zugang zu sämtlichen relevanten Bereichen und Daten erhalten, die er für seine Analyse braucht. Da braucht er natürlich unsere Unterstützung, also von uns allen, egal in welcher Position. Das muss flutschen, Herr Freiwaldt, Herr Teller, in unser aller Interesse.«

»Und wie genau wird das ablaufen?« frage ich. »Also, die Datensammlung, meine ich? Die Analyse von den... Prozessabläufen im Bad?«

Bürgermeister Marther weist auf Holm-Rüdiger Andersen, der dankbar nickt und mich fixiert, wie der freundlichste und engagierteste Klassensprecher der Welt.

»Meine Anamnese, um ganz kurz meine Arbeitsweise zu umreißen, Herr Freiwaldt, erfolgt, neben der Auswertung von Zahlen, sprich: Besucheraufkommen, Energieverbrauch, Kosten, Einnahmen und so weiter, grundsätzlich im Rahmen einer totalen Immersion.«

Er wartet höflich, bis sich meine fragend sich krümmende Braue gesenkt hat und fährt fort: »Das bedeutet nichts weiter, als dass ich in sämtlichen Bereichen des Bades mitarbeiten werde. Betrachten Sie mich am Besten als neuen Kollegen, Herr Freiwaldt. Sozusagen als Mitarbeiter auf Zeit.«

Die Stille sagt alles. Ach du Scheiße... Bürgermeister Marther versucht in der Enge, die Beine übereinanderzuschlagen, stößt mit dem Knie unter den Tisch und das Beben bringt die Tassen scheppernd zum Tanzen.

»Ähm, ja«, stöhnt er. »Ja, vielen Dank erstmal für die Einführung, Herr Andersen. Das würde ich gleich gerne noch mal ganz kurz im Büro besprechen, Herr Freiwaldt, Herr Teller...«

»Kann nicht«, rumpelt Walter. »Muss ins Bad. Bin sowieso schon zu spät dran. Wollen den Kleinen ja mal nicht zu lange alleine lassen da draußen. Als Lehrling.«

»Auszubildender!« belehrt ihn Tante Heidi. Saskia unterdrückt grunzend ein Kichern. Walter fuhrwerkt weise in seinem Bart herum. Bürgermeister Marther wischt ein paar Krümel auf dem Tisch hin und her und blickt auf seine Armbanduhr.

»Gut, dann wäre das also auch erledigt. Da kann Ihnen Herr Freiwaldt ja Bericht erstatten, damit sie im Bilde sind, wie das laufen wird mit Herrn Andersens Einsatz im Bad. Herr Teller. Ja? Ja. Dann wäre da noch der Punkt mit der Trauerfeier für Herrn Klamm. Frau Sarge-Albenbrecht?«

Tante Heidi lässt kurz den Kopf hängen, pustet kummervoll die stickige Luft hin und her und drückt sodann ihren Rücken hölzern aufrecht, pfahlhaft.

»Ich habe heute morgen mit Hans-Herrmanns Frau telefoniert. Also mit seiner Witwe meine ich natürlich. Na ja, es betrübt mich ein wenig, aber man muss es natürlich auch verstehen, in einer solchen Situation. Die Frau leidet ja schließlich und steht sicher noch unter Schock und überhaupt geht Familie ja immer vor in solchen Fällen! Ist doch so, oder nicht? Das muss man akzeptieren, auch wenn man, also einige hier, aber auch diejenigen, die Hans-Herrmann vielleicht nicht ganz so lange kannten, also wenn man so viele Jahre zusammengearbeitet hat. Im Bad. Aber auch in der Gemeinde und darüber hinaus.«

Sie blinzelt in katatonische ratlose Mienen. Bürgermeister Marther atmet vielsagend schwer und sieht sie fast flehend an, seine Lippen arbeiten feine Striche um sein Kinn.

»Jedenfalls«, fährt Tante Heidi fort. » Also, Ihr Lieben, glaubt mir, ich bin genauso verblüfft wie Ihr, wobei ich es, wie gesagt, der Frau kein bisschen übel nehme, schließlich kann eine solche Entscheidung nur von ihr selbst getroffen werden, aber, wie soll ich sagen?«

Sie reißt sich die Brille herunter, führt einen Bügel zum pawlowschen zuckenden Mund, besinnt sich jedoch eines besseren und steckt sich alles wieder ins Gesicht zurück.

»Hans-Herrmanns Frau hat mir gegenüber unmissverständlich zum Ausdruck gebracht... Klar! Und! Deutlich! Also, sie möchte niemanden von der Gemeinde Schweigen und auch nicht aus dem Forstbad auf der Beerdigung sehen.«

Erwartungsvoll sieht sie sich um. Traurig schlaff hängt ihr das Fleisch vom Gesicht. Niemand sagt etwas, nur Walter knirscht vorsichtig mit seiner Jacke. Entweder hat Klamms Frau (Witwe!) doch mehr über die unorthodoxe Auslegung ehelicher Traditionen wie etwa partnerschaftlicher Treue ihres Mannes gewusst und verdächtigte seine Kollegen als Mitwisser oder sie mochte Schwimmbäder und alles was damit zusammenhängt einfach nicht, ähnlich wie Maike. Vielleicht ist das ja ein Schwimmmeisterfluch. So wie bei Bestattern, Fernfahrern oder Drogendealern. Die haben es bestimmt auch nicht leicht wenn es um Akzeptanz und Partnerschaft geht, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die sogenannte.

»Und deswegen«, ruft Tante Heidi fanfarenhell, resolut erstarkt. »Deswegen möchte ich hiermit alle Anwesenden für den kommenden Samstagabend ins L'Afrique einladen, wo wir gemeinsam Abschied nehmen wollen von Hans-Herrmann und der guten alten Zeiten gedenken. Ich schicke noch heute eine Einladung an alle Kolleginnen und Kollegen in sämtlichen Gemeindeeinrichtungen. Außerdem an den Schwimmverein und natürlich Herrn Leyendieck. Bürgermeister Marther und ich werden gleich nach diesem Termin rüber gehen zu Frau Ampofo und eine geschlossene Gesellschaft für den Samstagabend anmelden. Die müsste doch jetzt schon geöffnet haben, oder Felix?«

Was muss ich denn noch alles wissen so von gestern auf heute? Bevor ich antworten kann knackst Saskia ein dreifaches Stakkato mit ihrem Kaugummi und schmatzt: »Ist vor 'ner Stunde gekommen, meine ich.«

»Sehr schön!« Fast sieht es aus als wolle Bürgermeister Marther in die Hände klatschen. Dann richtet er seinen makellosen Krawattenknoten, blickt erneut auf die Uhr und wendet sich von Tante Heidi zu Holm-Rüdiger Andersen zu mir und schiebt seine leere Kaffeetasse Richtung Tischmitte. »Ja, das wäre soweit das, vielen herzlichen Dank zusammen und trotz allem frohes Schaffen noch. Dann können wir ja eigentlich eben noch mal kurz ins Büro gehen, Herr Freiwaldt.«

»Hmmm«, bärt es hinter mir ins scharrende Stühlerücken und Caruso bläst einen warmen Wind durch den Raum, über meinen Nacken, mein Haar, verrührt den schwülen Geruchsorkus mit seinem Tabakatem und lässt alle innehalten und langsam wie an Schanieren in ihre Sitze zurücksacken.

»Ja, Herr Balthasar?« gibt sich Bürgermeister Marther nahezu überzeugend interessiert. Er mustert kurz Carusos Namensschild, auf dem natürlich, entgegen aller Vorschriften, sein Spitzname steht, hübsch ordentlich in Gemeinde Schweigen Typographie gesetzt, wie es sich gehört. Caruso – Saunameister. Keine Ahnung, wie viele Abmahnungen er schon deswegen kassiert hat aber jedes Mal, wenn er ein neues, korrektes Schild von der Verwaltung erhält, schmeißt er es in den Müll und ersetzt es durch seine ihm so wichtige Eigenkreation. Und was soll's denn auch? Alle nennen ihn schließlich nur Caruso. Die Badegäste, Tante Heidi, seine Mutter, ja, sogar Maike. Ich weiß noch, einmal hat Meredith ihn in einem strengen Moment bei seinem vollen Namen getadelt. »Carsten Balthasar, hör gefälligst auf, in der Sauna zu furzen!« oder so was in der Art. Der Ärmste taumelte tagelang durch die Gegend wie ein klaffend wund geschlagenes Nashorn.

Bürgermeister Marther zerklüftet die Stirn und hebt sein Kinn in Carusos Richtung, der sich von hinten über mich beugt, sich mit einer Hand malmend auf meine Schulter stützt, über den Tisch in die Schale langt und eine Familienportion Schlüters Eiskonfekt herausbaggert. Alle wenden sich ihm zu. Ich winde mich auf meinem Platz so gut es geht herum und hole mir fast ein blaues Auge an Saskias Knie, das in mein Gesicht winkelt. Caruso wickelt mit buddhistischer Gelassenheit ein Stück Konfekt aus, kaut es von links nach rechts und knüllt nachdenklich die Aluminiumpelle zusammen.

»Entschuldigen Sie bitte, Bürgermeister Marther«, sagt er höflich, mit einem Unterton, der mich ein wenig nervös macht. »Ist es in Ordnung, wenn man noch ein paar Fragen stellt? Bei so viel unverhofften Neuerungen?«

Hektisch stummes Kopfrucken zwischen Bürgermeister Marther und Tante Heidi. Holm-Rüdiger Andersen lächelt einladend.

»Äh, ja, aber ja, natürlich, Herr Balthasar!« Bürgermeister Marther kriegt etwas dezent donnriges um die Augen. »Was liegt Ihnen denn auf dem Herzen?«

»Na ja«, sagt Caruso und lutscht das nächste Stück Konfekt. »Erstmal finde ich es doch einigermaßen befremdlich, dass eine solche Maßnahme wie diese... Situationsanalyse?«

Bürgermeister Marther, Tante Heidi und Holm-Rüdiger Andersen nicken um die Wette.

»...diese Situationsanalyse so von heute auf morgen durchgeführt wird. Zumindest wirkt das auf mich so, da offensichtlich keiner hier im Bad vorher davon informiert wurde. Es sei denn natürlich Herr Klamm wusste Bescheid. Dann hat er allerdings sein Wissen nicht mit seinem Team geteilt, aber das nur am Rande.«

»Nein, nein, nein, Herr Balthasar! Ich kann Ihnen versichern, dass wir, wie ich ja bereits erwähnte, das Ganze selbstverständlich schon länger planen. So was schüttelt man ja nicht mal eben aus dem Ärmel, also, so was Komplexes.«

»Und Hans-Herrmann wusste auch noch nichts davon«, säbelt Tante Heidi brillenfaltend dazwischen.

Caruso nimmt diese unfreiwillige Anfeuerung nur zu gern auf. Bürgermeister Marther knetet seinen Nasenrücken, die Augen verkniffenen schwarze Spalten in seinem bleichen, runden Gesicht. Natürlich wusste der alte Klamm nichts davon. So läuft die Kommunikation in der Gemeindeverwaltung Schweigen nun mal. Tatsachenorientiert, irreversibel und im vollsten Vertrauen auf die telepathischen Fähigkeiten derer die es betrifft oder, im günstigsten Fall, deren Fügsamkeit. Alles normal.

»Gut, gut«, nickt Caruso mit Gönnermiene und wickelt ein weiteres Stück Konfekt aus. »Dann frage ich mich noch, unter welchen Vorzeichen diese Situationsanalyse überhaupt durchgeführt wird. Ich bin ja nur ein einfacher Knecht, aber ich stelle mir vor, dass so ein Projekt nicht nur unheimlich komplex und anspruchsvoll ist..«, Holm-Rüdiger Andersen legt geschmeichelt den Kopf schief. Caruso prostet ihm verspielt mit der Schokolade zu und kaut meditativ bevor er fortfährt: »...also nicht nur komplex ist, sondern auch noch einigermaßen kostspielig. Nichts für ungut, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr Andersen, beziehungsweise sein Arbeitgeber, ehrenamtlich für die Gemeinde Schweigen tätig wird.«

Das Team schnarcht ein kollektives verächtliches Grunzen. Bürgermeister Marther und Tante Heidi öffnen und schließen abwechselnd Münder und Augen sagen jedoch nichts. Holm-Rüdiger Andersen rückt ein wenig an den Tisch heran und sieht Caruso fasziniert forschend in Gesicht.

»Und da frage ich mich wiederum, ohne dass ich jetzt die betreffende Summe kenne, geht mich ja auch nichts an, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass eine Unternehmensberatung ganz schön stattliche Sätze aufruft. Ich hatte da mal flüchtigen Einblick, damals in Berlin. Da hatten wir für ein paar Wochen zu, glaub ich, ganz ähnlichen Zwecken einen Unternehmensberater im Haus und der hat sich laut meinem Chef, Entschuldigung, den Arsch vergolden lassen.«

Bürgermeister Marther fuchtelt ungeduldig durchs Gelächter.

»Herr Balthasar, ich weiß ehrlich gesagt im Moment nicht, worauf sie eigentlich hinauswollen und was das alles überhaupt zur Sache tut.«

»Och, ich frage mich einfach nur, wie die Gemeinde Schweigen die Kosten dieser... Beratung wieder einspielen will. Aber vor allem frage ich mich, inwiefern das Ergebnis, wie auch immer das aussehen mag, Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse hier im Forstbad haben wird. Oder vielmehr auf die Existenz des Bades an sich. Angesichts der Gerüchte, die in Schweigen so kursieren.«

Das Gemurmel wird zur Brandung die Bürgermeister Marther um Ruhe bittend mit biblisch weiten Handkantenschlägen zu teilen versucht, wie Moses einst das Rote Meer oder wie die Geschichte ging.

»Welche Gerüchte meinen Sie denn bitte, Herr Balthasar?« Der Kerbenrahmen um sein Kinn nimmt schärfere Konturen an.

Mein Herz wird zu warmem Sirup, läuft mir in den Bauch, kriecht meine Kehle hinauf, pulst und pocht durch meinen ganzen Körper, in meinen Ohren, reißender Schrecken. Caruso sieht von einem zum nächsten, saugt die Luft aus dem Raum, schnauft sie in einem heißen Hieb zurück unter die Decke, wendet sich dann mir zu und drückt mir todernst ein faustgeschmolzenes Stück Konfekt in die Hand. Ich fühle mich gesegnet und auf irrational erregende Art verdammt. Das Forstbad kreischt und rauscht durchs Fenster.

»Na ja, es ist so, dass ich aus, wie heißt das noch immer in der Presse? Aus gewöhnlich gut informierten Kreisen davon gehört habe, dass die Gemeinde vorhat, das Forstbad in naher Zukunft zu schließen. Wenn das stimmt, was soll dann eine solche Situationsanalyse? Oder sollte ich sagen, Insolvenzvorbereitung? Denn so sieht das Ganze für mich aus!«

Der daraufhin auftosende Stimmensturm wirft Bürgermeister Marther und Tante Heidi in ihren Plätzen zurück. Ein wildes Kochen erfasst den Raum und schließt alle ein, versiegelt die Versammlung in Raserei, entkoppelt sie vom Außen. Vor dem Fenster gerinnt die Sonne, die Zeit. Sommergestalten waten durch zähe Sekunden. Die Buchen und Kiefern hinter dem Sprungbecken verharren in ihrem gezeitenhaften Wogen und rahmen die Silhouette eines Springers, der träge vom Fünfmeterturm sickert. Was, wenn die Welt um uns niederstürzte und nur wir in unserem stickigen, zu kleinen Personalraum übrig blieben wie eine Insel in gleichgültiger Leere? Wer würde zuerst wahnsinnig werden? Wer würde wen verschlingen? Ich ducke mich unter der um mich tobenden Hysterie und versuche, zu atmen.

»Leute, liebe Leute, ich muss doch sehr bitten! Das ist doch lächerlich!« brüllt Bürgermeister Marther, springt von seinem Platz auf, wobei er fast Holm-Rüdiger Andersens iPad vom Tisch rührt und gestikuliert wie ein Jongleur unsichtbarer Motorsägen. Tante Heidi ist im Begriff, ihre Brille zu verschlingen. Diese Angewohnheit wird sie ganz sicher noch einmal ins Grab bringen. Caruso indes, dieser Raubritter im Dienste des Chaos, sieht mir tief in die Augen, tränkt mich erst mit Zweifeln, dann Zuversicht, dann elektrisch kribbelnder Stärke. Ich gönne mir den Luxus, mich ein bisschen zu verlieren, in ihm und dem, was er da gerade ausgelöst hat, suche nach einer Bedeutung und finde keine außer dem urplötzlichen Wissen, dass, egal wie gut wir einander zu kennen glauben, wir doch nur uns selbst im jeweils anderen suchen und so zwangsläufig enttäuscht werden müssen. Geliebt, ganz sicher, vor allem aber gemeinsam, gegenseitig verwundet und genesen, letztlich jedoch immer einander fremd, wie es der Fluch der Nähe ist, zwischen Menschen. Ganz zu schweigen von Bademeistern im selben Schwimmbad eingesetzt. Wie können wir je einander genügen wenn das, was wir als Ideal da draußen suchen lediglich als Vorstellung in uns selbst existiert und selbst das nur unvollkommen, verstümmelt, grotesk versehrt und irr? Was für ein Blödsinn!

Ich sehne mich nach Maike. Sie könnte mir alles erklären.

Walter schnürt vor Empörung den Brustkorb noch fester in die verschränkten Arme ein und bellt durch seinen Eisenbart, Anita zetert Zusammenhangloses über Gemeinderat und Eintrittspreise, Saskia knickt mir ihr Knie in die Schläfe, dass ich fast mein Stück Eiskonfekt fallen lasse. Furios wirft sie ihre bunt mit wuchernden Heckenrosen, Zigarre rauchenden Putten und flammenden Billardkugeln tätowierten Schenkel abwechselnd übereinander. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Marlies sich draußen im Kassenhäuschen fast den Hals verrenkt im Versuch, Details der Aufregung auszumachen. Irgendjemand in diesem Raum braucht dringend neue Badelatschen. Es stinkt mit einem Mal kreatürlich. Wahrscheinlich bin ich es selbst.

Caruso aber ist ein stiller, fester Monolith im peitschenden Gemenge.

Genauso Holm-Rüdiger Andersen. Nur schmaler, eleganter und merkantiler. Mehr beredte Stele als massiver Obelisk. Beide sehen sich an wie verlorene Brüder, Antipoden, voller skeptischen Respekts füreinander. Dann mich. Caruso wickelt ein Eiskonfekt aus und hält es vor sich her, als sei es ein Kleinod. Holm-Rüdiger Andersen macht sich lang und fischt ein Stück aus der Schale. Er betrachtet es gravitätisch. Ich bin nicht so für Schokolade, aber auch ich wickle mein Konfekt aus und wir alle drei, umwirbelt von Aufruhr, kauen schmelzend das süße, fette Lebensblut der Gemeinde Schweigen. Zucker tobt stochernd durch mein verkatertes Gehirn. Dann zerre ich meinen Schlüsselbund aus der Tasche und schlage damit einen so harsch rasselnden Rhythmus auf den Tisch, dass die Tassen klirren.

»Freunde, hallo Freunde«, versuche ich mich souverän dirigentenhaft zu geben und zu meiner Verblüffung wenden sich tatsächlich alle Gesichter mir zu. Münder, Augen, gerade noch an der Luft herumzerrende Hände verharren. Ich erinnere mich an Tante Heidis Sermon über das, wie sie es nannte, Buch des Lebens und verbeiße ein Grinsen. Warum nicht wirklich ein neues Kapitel aufschlagen? Oder, besser noch, selbst verfassen? Das ist doch mal was...

»Nun beruhigt Euch bitte mal wieder«, onkele ich in die schwitzende Stille. »Diese ganze Aufregung führt doch jetzt zu nichts.«

»Na hör mal, Flex, als wenn wir dazu nicht allen Grund hätten. Uns aufzuregen. Wenn die das Bad schließen wollen so Knall auf Fall!« Anita sieht sich beifallheischend um und erntet zustimmendes Gegrummel. Ich zupfe ein langes schwarzes Haar vom Ärmel meines T-Shirts und lasse es zu Boden gleiten. Muss wohl von Saskia sein.

»Anita«, sage ich beschwörend. »Leute. Jetzt hört doch mal zu! Ihr glaubt doch nicht allen Ernstes, dass die Gemeinde so mir nichts dir nichts ein Bad wie das Forstbad dichtmacht? Ehrlich jetzt, mal ganz abgesehen von unserer Bedeutung als Sport- und Freizeitstätte für die Gemeinde muss man sich doch nur mal vor Augen halten, welches Standing wir nach wie vor in der Bäderlandschaft in der näheren Umgebung haben, Investitionsstau hin oder her.«

Saskia lächelt kantig. Sie hat im Ronolulu in Rotenburg gelernt und danach für eine Saison in Bomlitz gearbeitet, bevor sie vor zwei Jahren im Forstbad landete. Saskia weiß, wie ein durch und durch ausgelastetes Schwimmbad aussieht. Sie beschäftigt sich mit ihren violetten Plastiknägeln anstatt auf meine Beschwichtigungen einzugehen. Ich danke ihr insgeheim. Fast liebe ich sie in diesem Moment. Fast macht mir diese Farce schon Spaß.

»Außerdem«, füge ich hinzu und tue mich mit erhobenem Finger kompetent, »wollen wir doch mal das Wichtigste nicht vergessen: wir sind im öffentlichen Dienst angestellt. Wenn Ihr Euch mal ein bisschen mit der arbeitsrechtlichen Situation befasst habt, müsste Euch klar sein, dass man Leute wie uns nicht mal eben so auf die Straße setzt. Ist doch so, oder?«

Ich blicke zu Tante Heidi, die wie in Epoxidharz gegossen da sitzt, regungslos, apathisch.

»Absolut, Herr Freiwaldt«, antwortet Bürgermeister Marther an ihrer statt. »Vollkommen richtig. Das wär ja... das wär ja regelrecht absurd!«

Er wartet ab, seine Mimik immer noch drohend aber um Nuancen kontrollierter als zuvor. Lauernd.

Ich spüre Carusos und Holm-Rüdiger Andersens starrendes, um Beute ringendes Begehren. Irgendetwas trägt mich plötzlich. Ein Schweben unter mir, in mir, leicht und treibend, mich davontragend wie ein warmer, sonniger Wind im Kopf. Ich nehme mir ein weiteres Stück Eiskonfekt aus der Schüssel, wickele es vorsichtig aus und lutsche darauf herum. Dann schnippse ich die Aluminiumfolie in den Papierkorb neben der Tür. Das kriegen wir hin. Ich tippe unhörbare konziliante, beruhigende Kaskaden auf der Tischplatte und schubse meinen Schlüsselbund sanft klimpernd gegen die Konfektschüssel.

»Und echt jetzt mal, angenommen, die Gemeinde hätte tatsächlich vor, hier den Sack zuzumachen, warum würde man sich dann die Mühe machen, einen Nachfolger für den Betriebsleiterposten zu ernennen und einzuarbeiten?«

Walter stützt sich in seine Faust und sucht mein Gesicht ab. Dann nickt er gewichtig.

»Flex hat recht«, rumpelt er. »Auch wenn wir einiges gewohnt sind in diesem Laden«, er wirft Bürgermeister Marther eine Art Lächeln zu, der seine Hände aneinander reibt, sie im Nichts waschend. »Das sind doch nichts als Scheißhausparolen. Dummes Gerede. So eine Nummer zieht kein Arbeitgeber ab. Nichtmal in Schweigen.«

Krachend schiebt Walter seinen Stuhl zurück so gut es geht, schält sich hinter dem Tisch hervor und drückt knarrend das Kreuz durch.

»Meine Meinung: Füße still halten und weitermachen. Ich zieh mich jetzt um, hab 'ne Spätschicht zu schmeißen. Komm, Caruso, lass uns den Viktor ablösen gehen.«

Er bedenkt das Trio am Kopfende mit einem halben Auge.

»Ist recht?«

Bürgermeister Marther nickt dankbar und schafft es irgendwie, gleichzeitig dabei den Kopf zu schütteln.

»Natürlich, Herr Teller, aber natürlich. Das wäre dann alles. Und noch einmal, Herr Balthasar, liebe Leute«, er breitet die Arme aus und neigt sein Kinn von rechts nach links und wieder zurück. »Bitte, machen Sie sich nicht verrückt und helfen Sie uns, also Herrn Andersen, obwohl es natürlich um uns alle geht, also, kurz gesagt, ich bitte Sie alle noch einmal ganz nachdrücklich um Ihre Unterstützung in diesem so zukunftsweisenden Projekt. Und, ich kann Herrn Freiwaldt nur beipflichten, machen Sie sich da um Himmels Willen keine Sorgen wegen solcher Gerüchte! Hier geht alles weiter seinen Gang, das kann ich Ihnen versprechen. Und nicht jede Neuerung ist etwas Schlechtes. Ganz im Gegenteil. Eine Chance! Ja? Ja.« Er sieht mich an, das Gesicht weich wie immer, sein Blick ein kalter Nebelwald.

»In diesem Sinne, einen angenehmen Arbeitstag noch Ihnen allen.«

Das Team presst sich aus dem Raum. Caruso drückt mir im Vorbeigehen sanft die Schulter und murmelt grinsend: »Chapeau.«

Ich sehe ihm nach, taumle ratlos in mir herum und bemerke Bürgermeister Marther und Holm-Rüdiger Andersen neben mir. Tante Heidi steht in der Tür, dreht sich zu uns um und haucht: »Evolution...«

»Herr Freiwaldt«, sagt Bürgermeister Marther dienstlich. »Auf ein Wort in Ihrem Büro, bitte?«

Ich kann mich nicht erinnern, Bürgermeister Marther jemals so richtig außer sich erlebt zu haben. Gut, als ich in der Ausbildung mal beim Chlorflaschenwechsel aus Versehen einen Chlorgasausbruch ausgelöst hatte und das vollbesetzte Hallenbad evakuiert werden musste, da ist er dann doch mal ein bisschen energisch geworden. Hauptsächlich allerdings, weil ich beim Wechsel entgegen jeder Sicherheitsvorschrift keine Atemschutzmaske getragen hatte und nur durch schieres Trottelglück nicht verletzt wurde. Und überhaupt war es eigentlich der alte Klamm, der den richtigen Anschiss kassierte, als mein Ausbilder und Chef. Aber was solche Dinge anging, teilte Klamm nur zu gerne mit seinen Unterlingen und ich hatte derbe zu büßen. Nie waren die Bodeneinläufe draußen im Sprungbecken so sauber, wie in den folgenden Wochen. Na ja, war ein gutes Training, in vier Meter Tiefe mit der Bürste herumzuschrubben. Ohne Pressluftflaschen natürlich. Sollte ich vielleicht mal wieder machen. Tauchen ist ja seit jeher mein Schwachpunkt. Da kriege ich immer Panik, wahrscheinlich wegen dem Krupphusten, den ich als Kind mal hatte oder was das war. Ja, der alte Klamm konnte ausrasten, dass einem der Kittel brannte. Bürgermeister Marther ist für derlei emotionale Ausbrüche zu kontrolliert.

Dachte ich.

Ich lehne an Klamms, nein, an meinem Schreibtisch, Holm-Rüdiger Andersen steht mit dem Rücken zur verschlossenen Tür, Tante Heidi sitzt zusammengesackt im einzigen Besucherstuhl und all drei schleudern wir die Köpfe hin und her, folgen Bürgermeister Marther, der wie von einem Moskitoschwarm verfolgt durchs Büro hetzt und schweißgebadet über Diskretion doziert, über Vertrauensbruch und die Sucht nach Tratsch und Gerüchten verflucht, die er für die Geißel Schweigens hält. Immer wieder sticht sein Finger vor meinem Gesicht herum, harpuniert meine halbherzigen Ausflüchte. Wenn er jemals rausfindet, dass Caruso das alles von mir weiß, schreit er, obwohl, womöglich war es doch einer aus dem Gemeinderat, der nicht dichthalten konnte, und überhaupt, was denn bloß in den Kerl gefahren ist?

Wenn ich das wüsste. Caruso. Manchmal kommt es über ihn. Dann packt ihn diese kindlich destruktive Lust am Aufruhr und es wird ihm ganz experimentell zumute, wie er es ausdrückt. Caruso, dieser Irre. Manchmal frage ich mich ernsthaft, was uns eigentlich verbindet? Auf welchem Fundament unsere Freundschaft ruht? Maike nannte es einmal eine Mischung aus irrationaler Zuneigung, Gewohnheit, Mitleid, Einsamkeit und entsprechender Verzweiflung. Eine Schicksalsgemeinschaft in Shorts und Flip-Flops. Ich weiß ja nicht, diese Psychologen...

»Ich glaube, es wäre ganz klug, einmal die positiven Seiten dieser, ich sag mal, Episode, zu betrachten«, nutzt Holm-Rüdiger Andersen eine Atempause Bürgermeister Marthers, der erst überrascht erlahmt, sich dann fleischig neben mir gegen den Schreibtisch lehnt und zwei- dreimal seufzt. Er sieht Holm-Rüdiger Andersen nach Erlösung dürstend an.

»Und welche positiven Seiten wären das wohl?« fragt Bürgermeister Marther. »Etwa, dass ich zum ersten Mal seit Jahren, ach, Jahrzehnten erleben durfte, dass Herrn Tellers Wortschatz mehr Begriffe umfasst als Ja, Nein und Moin?«

»Schönen Feierabend, nicht zu vergessen«, ergänze ich leise.

»Genau!« kollert Tante Heidi. »Und der Klassiker: Mir doch egal.«

Holm-Rüdiger Andersen stimmt nicht in die simulierte Heiterkeit ein. Er schreitet effektiv auf und ab, legt sein iPad auf den Schreibtisch und platziert sich dann strategisch genau in der Mitte des Raumes unter dem Oberlicht, aufrecht schlank wie ein Degen. Seine Blumenkohlfrisur schimmert kostbar und gepflegt.

»Erstens«, sagt er und breitet offerierend die schmalen, langen Hände aus. »Erstens hat das Team Gelegenheit erhalten, sowohl den Wechsel in der Führungsebene des Bades, als auch die Ankündigung der Situationsanalyse und aller damit verbundenen Gefühlswallungen und Unsicherheiten, ich sag mal, kathartisch zu verarbeiten. Da ist erst mal einigermaßen der Druck vom Kessel, so etwas ist nicht zu unterschätzen, wenn man das Feld ebnen will für Neues.«

»Sehe ich ganz genau so«, werfe ich ein, bevor ich mich zurückhalten kann und klaube aus Gesprächen mit Maike aufgeschnapptes Halbwissen zusammen. »Man muss den Leuten die Möglichkeit geben, ihre Befindlichkeiten auszuagieren, wenn man sie für sich gewinnen will. Also, vor allem als Überbringer von potentiell verunsichernden Nachrichten, der genau auf diese Leute in Zukunft angewiesen ist.«

Holm-Rüdiger Andersen wirft mir einen wachen Jägerblick zu, seine Augen strahlen grau-grün.

»Exakt, Herr Freiwaldt, exakt! Gleichzeitig haben wir, durch die unfreiwillige Mithilfe von Herrn Balthasar, das Bewusstsein für die, ich sag mal, Unwägbarkeiten geschärft, die das Berufsleben in der modernen Welt so für Einen bereit halten kann.«

»Na, jetzt wird’s aber interessant«, schnauft Tante Heidi und wiegt sich suchend umher. »Ist noch Konfekt da, Felix?«

»Nebenan«, nuschele ich oder denke ich und sie fließt stöhnend zurück in ihren Stuhl.

»Doch, doch«, lacht Holm-Rüdiger Andersen fast. Er steckt eine Hand in die Tasche seiner eleganten Anthrazithose und hält uns die andere entgegen, wie eine sich öffnende Blüte der Weisheit.

»Unverständnis plus Unsicherheit gleich Unruhe.«

Holm-Rüdiger Andersens Finger imitieren ein kaskadierendes Feuerwerk.

»Das kann man wohl sagen«, knurrt Bürgermeister Marther und glüht mir seinen Blick auf die Wange.

»Unruhe gleich Energie«, fährt Holm-Rüdiger Andersen begeistert fort. »Und genau diese Energie müssen wir kanalisieren. Ganz wertneutral. Zielorientiert. Im Sinne des Projekts.«

»Gruppendynamik«, stammele ich. »Zusammenhalt.«

»Teamwork!« ruft Holm-Rüdiger Andersen. »Basierend auf einer gemeinsamen Vision. Die, wiederum sich speist aus dem geteilten Verständnis für die, ich sag mal, vermeintliche Unsicherheit des Status Quo.«

»Oho!« macht Tante Heidi.

Bürgermeister Marther spielt an seiner Armbanduhr herum.

Holm-Rüdiger Andersen blinzelt elektrisch um sich.

»Genau! Die Frage danach, ob das, was mir über Jahre sicher und vertraut war, auch noch morgen seine Gültigkeit hat, also, die daraus resultierende, ich sag mal, Ungewissheit, Kribbligkeit, ist wie ein Reaktor voller Kreativität, den man nur zu bedienen wissen muss und es wird einem nie an Energie und Möglichkeiten mangeln.«

Er stellt sich kontrolliert leger mit beiden Händen in den Taschen hin.

»Und genau das hat Herr Freiwaldt uns heute aufs Brillianteste demonstriert. Personalführung in Reinkultur!«

Meint der mich?

Bürgermeister Marther seziert mich skeptisch.

»Hm, hat er das? Können Sie das mal näher erläutern, Herr Andersen?« bittet er.

»Den durch Herrn Balthasar gesetzten Impuls aufzunehmen, die resultierende Aufregung zuzulassen und zu kanalisieren, durch Nüchternheit und Sachlichkeit auf gleichzeitig verständnisvolle und kollegiale Art das Team beruhigen, sich dann zielsicher mit Herrn Teller den richtigen Verbündeten mit der nötigen Autorität und Akzeptanz innerhalb der Gruppe auszusuchen und auf seine Seite zu ziehen, zum Zwecke der Glaubwürdigkeit. Diesen Verbündeten dann die Wogen glätten zu lassen und so alle Unruhe zu bündeln und in, ich sag mal, trotzige Tatkraft umzuwidmen... ich kann nur sagen, Hut ab, Herr Freiwaldt!«

Tante Heidi und Bürgermeister Marther starren erst Holm-Rüdiger Andersen, dann mich an.

»Sehen Sie, Frau Sarge-Albenbrecht?« sagt Bürgermeister Marther, ohne den Blick von mir zu wenden. Er nickt ganz langsam. »Er ist eben doch genau der Richtige.«

Mir ist ein bisschen schwindelig.

Wenn ich das Maike erzähle...

Gut Nass

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