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Mittwoch: Aufsicht und besondere Aufgaben

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Wie kann man morgens um sechs bloß schon so gute Laune haben? Das ist doch wider die Natur. Das kann doch nicht echt sein. Holm-Rüdiger Andersen rattert unaufhörlich auf mich ein während er mit fabrikfrisch knarrenden Badelatschen in meinem Büro hin und her rennt und sich sein Namensschild ans T-Shirt friemelt. Holm-Rüdiger Andersen – Aufsicht und besondere Aufgaben hat Tante Heidi ihm da allen Ernstes drauf gedruckt und der Kerl kriegt sich vor Begeisterung darüber kaum ein. Kommt sich wohl ein bisschen vor wie ein Geheimagent oder so. Vielleicht ist er auch nur ein begnadeter Selbstironiker wer weiß? So ganz schlau werde ich aus dem jedenfalls noch nicht. Er sieht ein wenig karnevalesk aus in der Dienstkleidung aber das böse grün steht ihm überraschend gut. Seine langen Tennisplatzhaften Beine sind haarlos glatt und dezent gebräunt, die Shorts sitzen souverän leger ohne irgendwo zu schlabbern oder zu kneifen und das ganze Ensemble passt hervorragend zu seiner goldenen Lockenfrisur. Hat der sich das maßschneidern lassen? Wieso sieht der in den Klamotten nicht aus wie ein Trottel, so wie der Rest von uns? Außer Saskia, vielleicht. Na gut, und Viktor.

»Krieg ich eigentlich auch eine Trillerpfeife, Herr Freiwaldt?« perlt er munter.

Ich grinse ihn müde durch den grau in den Raum sackenden Morgen an. Was für eine Scheiß Nacht schon wieder! Egal, wie oft ich Maike auf ihrem Handy zu erreichen versuche, sie geht einfach nicht ran. Und was war das eigentlich für ein bekloppter Traum gewesen? Den ganzen Morgen kribbelt mein Kinn so komisch.

»Nee, nee«, schüttele ich meinen Kopf. »Trillerpfeifen gibt es hier seit Ewigkeiten nicht mehr. Wir sprechen unsere Gäste lieber direkt und freundlich an. Im Dienste der Kundenbindung und so weiter.«

»Och«, macht er rundmundig. »Und ich hatte mich so darauf gefreut. Ich dachte immer, das wäre ich sag mal, Standardausrüstung. Wissen Sie, bei uns zu Hause im Freibad hatten die Bademeister, also, Schwimmmeister meine ich natürlich, die hatten jedenfalls alle diese durchdringenden Trillerpfeifen, da standen wir als Jungs aber stramm kann ich ihnen sagen. Ich dachte, ich könnte mich jetzt mal, rächen. Nein, ist nur ein Scherz.«

Ich sehe ihn kurz kraftschöpfend an, schnappe mir dann meinen Schlüsselbund, stecke das iPhone in die Tasche meiner Shorts und schlappe so dynamisch wie möglich zur Tür.

»Wie wäre es denn, wenn wir uns eben einen Kaffee aus dem Personalraum greifen und ich ihnen dann erstmal das Bad zeige? Die ersten Frühschwimmer ziehen schon ihre Bahnen und Saskia und Viktor, also, Frau Lux und unser Auszubildender, Herr von Avenhoff, haben Frühdienst im Freibad. Da können wir ein bisschen einsteigen, wenn Sie mögen.«

»Ja, ja, super, super, Herr Freiwaldt!« enthusiasmiert er, gleitet neben mir über den leeren Gang zu den verschlossen Umkleidekabinen des Hallenbadteils in den winzigen, nach frisch gebrühtem Kaffee duftenden Personalraum. Ah, Anita, gesegnet soll sie sein. Ich fülle zwei von Werbeaufdrucken unseres Chlorlieferanten verunstaltete Becher, stelle einen vor Holm-Rüdiger Andersen hin, der im Türrahmen lehnt und sinnierend die halbvolle Schale mit Schlüters Eiskonfekt betrachtet.

»Milch?« frage ich leise. »Zucker?«

Er sieht mich an, als wolle er etwas sagen, blickt für einen splittrigen Moment zurück zur Schokolade und nickt langsam. »Einen Tropfen Milch hätte ich wohl sehr gerne, Herr Freiwaldt. Herzlichen Dank.«

Ich beschäftige mich demonstrativ gastronomisch, wölke unseren Kaffee mit etwas Sahne, heut geht’s uns gut, fülle den Rest aus der Maschine in die Thermoskanne die ich neben die Konfektschale auf den Tisch stelle. Dann mache ich mich daran, einen weitere Kanne aufzusetzen. Kaffee muss immer laufen in einem Schwimmbad, das nützt sonst alles nix.

»Schlagen Sie ruhig zu«, sage ich über meine Schulter hinweg zu dem überraschend stillen Holm-Rüdiger Andersen, während ich die Küchenzeile mit einem feuchten Tuch abwische. Ich drehe mich um, trockne mir die Hände und greife mir meinen Becher. Holm-Rüdiger Andersen blinzelt mich stumm an und ich rucke mit dem Kinn Richtung Schale.

»Tun Sie sich keinen Zwang an. Ist noch jede Menge da von dem Zeug. Wir sind ja schließlich in Schweigen. Da herrscht an Schokolade wahrlich kein Mangel.«

»Nein, danke«, murmelt Holm-Rüdiger Andersen. »Nicht so früh am Morgen. Und normalerweise habe ich auch gar nicht so viel übrig für Süßigkeiten.«

Wir suchen wortlos in unseren Gesichtern herum, er mit feiner ebener Stirn, bei mir fühlt sich alles eher knitternarbig an, voller Fragen. Vor dem Fenster klappert Anita in der Freibadkasse herum und pfeift dieses eine Lied von Abba, das sie so gerne mag. Wie heißt das noch? Oder ist das irgendwas von den Pet Shop Boys? Was auch immer, es löst den plötzlichen, rätselhaft trägen Sirup um uns auf und wir marschieren mit dampfenden Bechern und von meinem Schlüsselgeklapper versilbert über den Gang, zur Verbindungstür in den Freibadteil.

»Moin, Anita«, rufe ich, während ich die Tür hinter uns verschließe. »Und tausend Dank für den Kaffee. Endlich schlägt mein Herz wieder, bin noch gar nicht richtig aus dem Quark gekommen heute morgen.«

Die Luft unter dem hohen vertäfelten Vordach duftet hölzern und nach Feuchte. Forstbadgeruch. Fast alle Gebäude sind im Außenbereich mit Holz verkleidet, selbst die Dachüberhänge und Einfassungen der gläsern schimmernden Schwimmhalle. Hat man schön zu streichen außerhalb der Freibadsaison, kriegt man die Zeit auch mit rum. Kiefern und mit gemütlich glimmender Scheibenfront duckt sich das Kassenhäuschen in den frischen Morgen, eine Brise wedelt in den Büschen am Rande der Liegewiese umher. Auf und ab wippende Kugelrümpfe wühlen sich durchs dunstige Schwimmerbecken, einige die Arme von sich werfend, prustend, plaudernd, andere zielstrebig und schnurgerade wie fleischige Lokomotiven. Im Nichtschwimmerbecken dominiert die Geselligkeit. Weiße Schädel regieren das Bad um diese Uhrzeit, alterlos zweifarbig gestreifte Badekappen, und die üblichen verbissenen Büroathleten, die sich für einen langen Tag in Schlüters Verwaltung und Führungsgremien stählen, den Anzug im Garderobenschrank.

Dunkelgelblich schwärt der blasse Himmel an den Rändern. Sieht aus, als würde das Wetter bald umschlagen. Werden wir wohl doch noch die Halle zusätzlich aufmachen müssen, diese Woche. Wenn es Regen geben sollte. Und das bei der Personalknappheit, jetzt wo eine Fachkraft wegen, wie Caruso sagen würde, akuten Arschzukneifens fehlt.

Anita verstaut ihre Wechselkasse neben den Aktenordnern für die Jahreskartenanträge im kleinen Sideboard hinter sich und blickt mich durch die Glasscheibe an. Ich stelle meinen Becher auf das Sims vor der Gelddurchreiche und lehne mich der Sprechöffnung entgegen. Mit chemischem Biss kriecht Haarspray in meine Nase. Ihre bienenkorbige rotschwarz getönte Frisur sitzt gewohnt betonsicher.

»Den hat Viktor gemacht«, sagt sie. »Den Kaffee.« Dann dreht sie Holm-Rüdiger Andersen und mir den Rücken zu und beginnt, ihr Wechselgeld nachzuzählen. »Moin, Flex«, fügt sie halbherzig hinzu.

Ich versuche, Holm-Rüdiger Andersens Reaktion auf diese Unhöflichkeit aus den Augenwinkeln abzuschätzen, doch der saugt unbeeindruckt, das Gesicht in den Kaffeedampf seines Bechers getaucht, die Tranquilität des frühmorgendlichen Bades mit strahlenden Augen in sich ein.

»Äh, ja«, knurre ich, reiße mich dann zusammen und tue vital. »Also, Herrn Andersen hast du ja gestern kennengelernt. Ich werd ihn heute mal ein bisschen rumführen, dass er sich ein Bild von unserem kleinen nassen Märchenreich hier machen kann.«

»Moin, Herr Andersen«, leiert Anita.

»Moin, Frau Bardowitsch!« jauchzt dieser fast. »Alles frisch so früh am Morgen?«

Anita wendet sich mir zu und sieht mich misstrauisch an.

»Ach, Pardon«, charmiert Holm-Rüdiger Andersen geistesgegenwärtig. »Ihren Namen kenne ich aus den Dienstplänen. Die durfte ich nämlich bereits unter die Lupe nehmen. Und außerdem«, er klopft sich mit gewölbter Hand auf die linke Brust. Anita blickt an sich herunter und hebt pikiert die Brauen.

»Namensschild«, erklärt Holm-Rüdiger Andersen in versöhnlichem Schmeichelton, Anitas sengendes Starren ungeniert genießend.

»Sag mal, Anita«, versuche ich die Duellantenstimmung zu befrieden. »Was ist das eigentlich immer für eine Melodie die du da pfeifst? Das ist doch von Abba, oder?«

»Warum?« fragt sie mich mit einem Gesicht wie eine Faust. »Darf man hier noch nicht mal mehr ein Lied pfeifen wenn man gute Laune hat?« Sie lässt ihren Donnerblick über uns wandern und setzt dann nach: »Gute Laune hatte, meine ich. Hatte...«

»Nee, Anita, nein, nein, nun hör mal auf! Ich find nur die Melodie so toll und ich weiß einfach nicht wo ich's hinstecken soll.«

»Paganini«, strahlt Holm-Rüdiger Andersen. »Concerto Nr. 4 für Violine und Orchester in d-Moll. Das ist die einleitende Melodie im Allegro Maestoso

Er atmet tief durch und schmettert: »Da-Da-Da-Daa-Daa-Daaa-dadadadadadadadadadada-Daaa-Da!«

Ich drehe meinen Becher auf dem Sims hin und her, führe ihn zum Mund, vergesse jedoch, zu trinken und setze ihn wieder ab. Anita klappert verlegen mit ihrer Wechselkasse.

»Kann sein. Hab da glaub ich mal vor Jahren so eine CD-Box beim Rossmann gekauft.«

»Musik«, grinst Holm-Rüdiger Andersen. »Ist meine, ich sag mal, große Leidenschaft. Ob Sie's glauben oder nicht, ich hab sogar mal Kirchenmusik studiert in Heidelberg. Bis meine Faszination für Wirtschaft und Zahlen mich dazu bewog, abzubrechen und auf BWL umzusteigen.«

Er nippt an seinem Becher und inhaliert die Forstbadfrühe. Glänzend betrachtet er die fern rauschenden Schwimmbecken. Er lächelt leise in sich hinein und seufzt: »Irgendwie leben wir doch alle in mehreren Welten zugleich, oder Herr Freiwaldt?«

»So was in der Art erzählt mir meine Freundin auch immer«, antworte ich und versuche, nicht zu unwirsch zu klingen.

»Ah, die Psychologin«, freut sich Holm-Rüdiger Andersen und fügt auf meinen verdutzen Blick hinzu: »Ach, das weiß ich von Frau Sarge-Albenbrecht, die hat mich ja ein wenig zu Ihrer Person gebrieft vorher.«

Verdammt, Tante Heidi! Inwieweit mein Privatleben mit dieser ganzen Geschichte zu tun hat, muss sie mir bei Gelegenheit mal erklären. Was sie sicher nicht können und wollen wird.

»Also, um genau zu sein studiert sie noch. In Bremen«, erkläre ich und gebe mir alle Mühe, Anitas hämisches Grinsen zu ignorieren. Das wird mir jetzt aber zu blöd hier! Entschlossen schnappe ich mir meinen Becher und richte mich straff auf, voller als Tatendrang verkleideten Fluchtimpulses.

»Na, äh, wollen wir dann, Herr Andersen? Dann mach's mal gut, Anita und lass dir die Zeit nicht zu lang werden.«

Ohne mich einer Antwort zu würdigen, widmet sie sich der Kontrolle ihres museal eisernen Kartenspenders und gleicht den Zählerstand auf den bunt daraus ragenden Zungen der Rollenbilletts mit dem Endstand auf der Abrechnung vom Vorabend ab. Ihr Pfeifen verfolgt uns auf unserem Weg Richtung Nichtschwimmerbecken.

Paganini. So ein Quatsch.

»Ganz schön rustikales Kassensystem, was Sie da noch betreiben, Herr Freiwaldt«, stellt Holm-Rüdiger Andersen in neutralem Tonfall fest. »Um nicht zu sagen antik. So ganz ohne PC und Kartendrucker, alles noch mit diesen alten Papptickets und per Hand.«

»Funktioniert aber sehr gut.«

Ich denke an den alten Klamm, der sich stets mit der apokalyptischen Wut eines belagerten Dachses gegen die Einführung eines Computer gesteuerten Kassensystems gewehrt hatte.

»Je weniger Arbeitsschritte, desto weniger potentielle Fehlerquellen. Keine Softwareabstürze, keine Lizenzen für die Technik, keine Wartung und man muss keine Angst vor Stromausfällen haben.« Habe ich irgendein Klamm-Zitat vergessen? Ich erwidere den Gruß vom Gummi-Nolte, dem pensionierten Sportlehrer der Grundschule, der selbst mit siebzig noch mehr federnden Schwung im Gang hat als ich, trotz all meiner Schwimmerei, so ein Arsch.

»Außerdem haben unsere Leute gerne was in der Hand«, füge ich albernerweise hinzu als wir vor dem ersten Durchschreitebecken stehen bleiben, das die Wiese vom Umgang des Nichtschwimmerbeckens trennt.

Im schlürfend ablaufenden Wasser wirbelt Viktor, ohne aufzusehen, in viel zu großen schwarzen Gummistiefeln mit dem Schrubber und schäumt die knöchelhohen Schmutzränder an den Seitenfliesen ein. Speckiges Grau rinnt in den Abfluss und alles wird wieder himmelblau. Viktor, der junge Frühlingsgott. Eingerahmt von den sich wohlwollend über ihn neigenden Kaltwasserduschen ist er ganz vertieft in sein hygienisches Werk. Er stellt Eimer und Schrubber beiseite, lassot seinen festen roten Schlauch zu sich und schnappt die Steckkupplung an den Wasserhahn.

»Moin Viktor!« rufe ich, bevor er den Hahn aufdrehen kann und er springt doch tatsächlich einen halben Meter in die Höhe, ringt um Balance im flachen seifigen Fußbassin. Sein Mund mahlt erschrocken auf und zu. Er sieht mich an, als habe ich ihn dazu aufgefordert, sofort alles von sich zu werfen und sich nackt mit Caruso im Schlammcatchen zu messen. Sein Rehblick irrt verzweifelt von Hahn zu Seifeneimer zu Schlauch zu mir. Wie immer möchte ich ihn umarmen und schütteln. Viktor, den Stillen, den Fleißigen, den Traurigen, der sich in jede Arbeit mit dem Eifer des pathologisch Schüchternen stürzt, auf der ewigen Suche nach geschäftiger Unsichtbarkeit. Ein bleiern zwinkernder Schweißtropfen rinnt aus seiner dunkelblonden Riesenkinderfrisur. Ich erinnere mich, wie ich, kurz nachdem er vor zwei Jahren seine Ausbildung im Forstbad begonnen hatte, neben ihm im Aufsichtsturm saß, das Wasser im Freibad kochte vor Ferienfleisch, und ihm, nachdem er eine geschlagene halbe Stunde weder ein Wort gesagt noch sich großartig bewegt hatte, mit ausgestellt professionellem Gestus ans Handgelenk griff und dabei auf meine Armbanduhr sah. Und ihm, als er sich irgendwann endlich traute, zu fragen, was ich da eigentlich tat, zur Antwort gab, dass ich nur mal überprüfen wollte, ob er noch unter den Lebenden weilte. Ich schäme mich heute noch angesichts seiner stummen tiefen Verletztheit. Genau das war die Scheiße, unter der er sein Leben lang in der Schule zu leiden gehabt hatte, und ich tunkte ihn kopfüber in einen ganzen Kübel davon. Noch dazu in einem neuen Lebensabschnitt, einer Umgebung, die ihm Schutzraum bieten sollte und die Möglichkeit zu lernen und zu wachsen, den Mist von früher hinter sich zu lassen und neu oder zumindest mehr zu werden. Seitdem versuche ich alles, um Viktors Vertrauen zurückzugewinnen und ihn, wo immer es geht, zu schützen, vor gedankenlosen Arschlöchern wie mir. Dieser Urschmerz. Ich kenne ihn doch selbst, glaube ich, so ähnlich. Obwohl, nee...

»Moin, Flex«, sagt Viktor leise in Holm-Rüdiger Andersens Richtung.

»Herr Andersen«, mache ich auf jovial. »Darf ich ihnen unseren Auszubildenden vorstellen? Herr von Avenhoff.«

Viktor erwidert Holm-Rüdiger Andersens munteren Gruß mit einem Zwischending aus Kopfnicken und Zusammenzucken und fummelt hilflos an der Gardenadüse seines Schlauches herum. Viehisch schmatzend saugt der Abfluss den letzten Rest Schmutzwassers aus dem Becken, eine Schaumkrone tanzt darauf von bräunlichen, früh verstorbenen Kiefernnadeln geziert.

»Herr von Avenhoff...«, sage ich, trete näher an den Rand des Durchschreitebeckens und lege dem armenViktor meine ungeübte Chefhand auf die Schulter. Ich rutsche fast auf einer Seifenlache aus. Viktor stützt mich kraftvoll am Unterarm. Etwas Kaffee schwappt aus meinem Becher, tropft auf die Fliesen und vermengt sich mit Seife, Sand und Fettrückständen zu einem reigenden Bernsteinwirbel.

»Herr von Avenhoff ist im dritten Lehrjahr«, fahre ich fort und lächle gönnerhaft in den unglücklichen Viktor hinein. »Kurz vor der Abschlussprüfung, also. Und, ganz ehrlich, eine echte Zierde des Berufsstandes. Genau solche Leute braucht man, um erfolgreich ein Schwimmbad zu betreiben und ich werde alles dafür tun, dass Herr von Avenhoff nach seiner Ausbildung übernommen wird.«

Wenn es dann noch ein Schwimmbad in Schweigen gibt, das ihn übernehmen kann, füge ich in Gedanken hinzu. Holm-Rüdiger Andersen wechselt seinen Becher von einer Hand in die andere, trinkt einen knappen Schluck und mustert Viktor von oben bis unten.

»Mensch, Herr von Avenhoff«, sagt er in bewunderndem Ton. »Sind Sie Turner? Geräteturner vielleicht?«

Viktor schreit stumm um Hilfe. Ängstlich zerkaut er seine Unterlippe. Sein T-Shirt klebt ihm am Leib wie eine Plazenta.

»Äh, nee«, näselt er. »Wieso?«

»Na, weil Sie den Körperbau dafür haben«, weist Holm-Rüdiger Andersen mit seinem Kaffeebecher grob in Viktors Richtung. »Vor allem obenherum. Trizeps, Bizeps, Schultern und Brust. Mein lieber Scholli!«

Er nimmt einen nachdenklichen Schluck und tritt mit schiefem Kopf einen halben Schritt zurück.

»Obwohl, wenn ich es recht bedenke, eigentlich sind Sie ja viel zu groß für einen Turner.«

»Herr von Avenhoff ist Schwimmer«, helfe ich dem völlig verunsicherten Viktor aus der Beutestarre. »Leistungsschwimmer, von Kindesbeinen an. Was in diesem Beruf ja nun nicht wirklich das Schlechteste ist.«

»Na klar!« schauspielert Holm-Rüdiger Andersen und schlägt sich vor die Stirn. »Schwimmer! Hätte ich mir auch denken können...« Er fixiert Viktor über den Rand seines Bechers hinweg.

»Waldarbeit ist wohl nicht so Ihr Ding, was Herr von Avenhoff?«

»Äh«, macht Viktor. »Äh, was?«

»Na, wo Sie doch, ich sag mal, familiär vorbelastet sind. Ihr Onkel ist doch der Förster hier in Schweigen, oder?«

Ein eisiger Blitz flammt durch mich. Tante Heidi, du alte Plaudertasche! Verdammt, jetzt reicht's aber!

»Wald, Wasser, Luft, Schokolade«, versuche ich die Situation zu retten und knuffe Viktor sanft in die Rippen. »Ist doch am Ende alles Eins hier in Schweigen.«

Was absurderes hätte mir jetzt wohl nicht einfallen können. Melodramatisch beschatte ich mich mit gewölbter Faust und orte übers Forstbad, die schaukelnden Wipfel wiegen sich ums blaue Wasserrauschen.

»Wo ist denn eigentlich Saskia?«

»Die, äh, die wollte die Zählerstände aufschreiben und dann Wasserprobe machen«, fleht Viktor uns förmlich an, ihn endlich in Ruhe zu lassen.

»Na dann«, proste ich Holm-Rüdiger Andersen mit meinem Becher zu. Und wir glitschen durch Viktors Durchschreitebecken und schlappen am Nichtschwimmerbecken entlang Richtung Aufsichtsturm, dem Zentrum des Freibadteils. Unsere kleine Festung aus Holz, Glas und Gestein, massig thronend auf einem Betonsockel zwischen den drei großen Becken, ein veritables Haus mit Fensterfronten in alle Richtungen, umlaufendem, fast schon an eine Veranda erinnernden Bohlenbalkon zum raschen Wechseln der Aufsichtsposition, gekrönt von einem soliden Walmdach. Der Neid aller umliegenden Bäderbetriebe. Na ja, fast.

Saskia steigt gerade die Treppe hinauf, in jeder Hand ein Reagenzglas. Sie wendet sich uns flüchtig zu und ruft: »Moin, Flex! Guten Morgen, Herr Andersen.«

Dann lässt sie sich auf einen der beiden Drehstühle an der die gesamte Wand Richtung Schwimmer- und Sprungbecken einnehmende Arbeitsfläche fallen, trocknet die Reagenzgläser von außen mit einem grünen Papiertuch ab und stellt eine der Proben in die Messzelle des Photometers.

»Aaah«, macht Holm-Rüdiger Andersen und dreht sich langsam im Kreis, das wäldlich umstellte Panorama bewundernd. »Hier oben wird also Sicherheit produziert. Man hat aber auch einen tollen Überblick von hier. Da kann man ja wirklich jedes Becken beaufsichtigen, ohne sich großartig bewegen zu müssen.«

Die Anzahl der Köpfe im Schwimmerbecken hat deutlich abgenommen, während sich die Laberbader im Nichtschwimmer bald wieder in die Quere kommen werden, unter dem üblichen Territorialgekeife. Saskia schnaubt ein knappes Lachen, während sie eine DPD-Tablette in die erste Wasserprobe fallen lässt, die sich augenblicklich rötlich verfärbt. Sieht gut aus. Ihr Parfüm duftet nach Orangen. Oder Zitrone? Auf jeden Fall was Fruchtiges. Mit viel Vitamin C. Kann aber auch ihr Kaugummi sein.

»Sie sind ja wohl hoffentlich keiner von denen, die glauben, dass wir nichts anderes machen, als hier oben herumzusitzen und in der Sonne zu brutzeln«, sagt sie, während sie die Reagenz für die erste Messung in das Messgerät einführt. Sie wirbelt auf dem Stuhl herum und streckt Holm-Rüdiger Andersen die Hand entgegen.

»Saskia Lux«, stellt sie sich in einem Ton vor, als würde sie nach jemandem diesen Namens rufen. Ihre violetten Kunstkrallen schlingen sich um Holm-Rüdiger Andersens lange Finger. Die beiden sehen aus wie zwei Varianten der selben genetischen Idee. Die hochgewachsene, durchtrainierte, schwarzhaarige Saskia, immer lässig flirrend nervös, tief gebräunt und flächendeckend tätowiert, oder subkutan auf Konsens-Proll-Püppi gepimpt, wie Maike es mal gehässig ausdrückte, und die, obwohl sie die mit Abstand erfolgreichsten Anfängerschwimmkurse im Forstbad anleitet, keine Kinder mag. Obwohl ich ja der Meinung bin, dass sie, so wie jeder vernünftige Mensch, eigentlich eher die Eltern der kleinen Ungeheuer verabscheut. Dagegen der nahezu gleich große Holm-Rüdiger Andersen mit den edlen engen Locken, ganz hanseatische Sommerfrische und merkantile Performance. Laserhirn. Beide sehen sich ins Gesicht, taxieren einander regungslos, Statuen, die sich auf einen Boxkampf vorbereiten. Ich bemerke, dass beide exakt die gleiche Augenfarbe haben. Grau-grün wässert es kühl zwischen ihnen. Und ich dachte immer Saskia hätte braune Augen. Die Zeitschaltuhr des Messgerätes fiept ihr panisches Signal. Ich nehme einen letzten Schluck meines mittlerweile kalten Kaffees, stelle meinen Becher ab und beuge mich über das Digitaldisplay.

»Ist doch ganz ordentlich, hier«, sage ich, während ich die zweite Tablette in das Messwasser gebe. »Sprungbecken, oder?«

»Jetzt dödel mir da nicht zwischen rum, Flex!« schimpft Saskia, drängt mich resolut beiseite und greift sich das Betriebstagebuch. »Sonst muss ich die ganze Messung gleich nochmal machen.«

Sie tippt auf den Tastschaltern des Photometers herum und das Gerät piepst erneut.

»Was messen Sie denn da eigentlich, Frau Lux?« fragt Holm-Rüdiger Andersen. »Ob einer Pipi ins Becken gemacht hat?«

Saskia trägt ungerührt die Werte in die Spalte für das Sprungbecken auf dem Vordruck ein und bereitet die zweite Reagenz vor. Schwimmerbecken.

»Kann man so sagen«, flötet sie. »Aber die Geschmacksprobe überlassen wir immer den Neuen, damit die gleich ein Gefühl für unsere Wasserqualität entwickeln. Kinderplanschbecken ist besonders beliebt.«

»Frau Lux ermittelt die Chlorwerte«, fahre ich dazwischen als ich Holm-Rüdiger Andersens bestürztes Gesicht sehe. »Freies aktives Chlor und gebundenes Chlor. Also, grob gesagt, das, was im Wasser zur Desinfektion bereitsteht und was nach der Reaktion mit Schmutzstoffen davon übrigbleibt und den typischen Schwimmbadgeruch verbreitet, wenn der Wert vom gebundenen Chlor zu hoch ist.«

»Ja, aber hier im Forstbad riecht es doch gar nicht nach Chlor«, stirnkraust Holm-Rüdiger Andersen.

»Genau so soll's ja auch sein«, stöhnt Saskia.

»Außerdem ph-Wert«, fahre ich fort. »Wir haben natürlich eine Mess- und Regeleinheit in der Technik. Alter Kasten, läuft aber noch einwandfrei. Muss man eben pflegen so was. Also, jedenfalls steuert die Anlage das Ganze zentral aber es ist immer sehr aufschlussreich, auch direkt in den Becken zu messen, bei den Strecken, die das Badewasser hier zum Teil von Filter und Impfstation zu den Becken zurücklegt.«

»Verstehe«, nickt Holm-Rüdiger Andersen mit glasigem Blick. »Redundanzen sind immer gut. Sicher ist sicher, sag ich mal. Und außerdem, wie war das noch? Ihre Leute haben ja immer gerne was in der Hand?«

Saskia grunzt und trägt kopfschüttelnd den Wert der zweiten Probe ins Betriebstagebuch ein.

»Äh, ja, Herr Andersen«, eiere ich. »Was halten Sie denn davon, wenn ich Ihnen dann jetzt mal die Schwimmbadtechnik zeige?«

»Wissen Sie, Herr Freiwaldt«, flötet Holm-Rüdiger Andersen und nippt an seinem Kaffee. »Ich würde es bevorzugen, als, ich sag mal, ganz normales Teammitglied einfach so mitzulaufen. Wie ich gestern ja bereits erklärt habe, entspricht das ohnehin meiner üblichen Methode. Mitarbeiten, Hände dreckig machen und so weiter. Frau Lux und Herr von Avenhoff können mir ja alles zeigen und erklären und Sie sind mich dann erstmal los und können sich auf Ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren. Und wir beide treffen uns dann um, ich sag mal, halb zwei zum Mittagessen im L'Afrique. Was meinen Sie?«

Ich ignoriere Saskias gequältes Augenrollen. Viktor stolpert in seinen riesigen Gummistiefeln, beladen mit Schlauch, Eimer und Schrubber am Schwimmerbecken entlang, eine suizidale Hummel wirft sich immer wieder gegen die Scheibe. Für eine Sekunde bin ich eine Art feststehende Achse, ein stummer, starrer Punkt, um den das Leben wirbelt, Schwung holt und mich schwindelig schleudert in meiner Stasis. Glücklich und geschmeidig zugleich, hatte Benedikt gesagt. Was Drogen alles anrichten können...

»Na klar, Herr Andersen«, nicke ich nur ein wenig zu erleichtert. »Bei Frau Lux sind Sie in bester Obhut. Wenn was sein sollte, Saskia, ich bin im Büro.«

Irgendwo zwischen den Bäumen schreien Krähen sich im Zank gegenseitig nieder. Das Messgerät piepst. Holm-Rüdiger Andersen summt Anitas Lied.

Scheiß Paganini.

Im sterilen Kokon meines Büros springt mir angesichts der Personalknappheit das Herz im Bauch herum. Ich jongliere mit Einsatzplänen, gleiche die feist anschwellenden Überstundenkonten der einzelnen Mitarbeiter mit den Öffnungszeiten ab und verzweifle ein wenig. Solange wir nur den Freibadteil aufhaben mag das gerade noch so gehen. Vorausgesetzt, es fällt keiner länger aus. Wenn sich das Wetter allerdings so sehr verschlechtert, dass wir die Halle zusätzlich öffnen müssen, wird es eng. Und ich weiß ganz genau, dass sich Bürgermeister Marther nicht darauf einlässt, das Freibad vorzeitig zu schließen. Da ist er eigen, das wird durchgezogen bis September, egal was kommt. Kein Wunder, dass der alte Klamm immer so bissig werden konnte, wenn mal einer krank wurde und er einen neuen Plan stricken musste.

Zur Not fordere ich eben über die DLRG einige Rettungsschwimmer für die Beckenaufsicht an, auf Honorarbasis oder so. Wäre nicht das erste Mal, dass wir uns so über Engpässe retten. Am Besten setze ich mich selbst immer in die Mittelschicht und lass den Rest fürs Erste nach dem üblichen System laufen. So bin ich zu den Kernzeiten immer vor Ort und kann am flexibelsten steuern, kann jederzeit überall einspringen und auch mal jemanden von unseren Leuten zum Stundenabbau nach Hause schicken, wenn der Betrieb es zulässt. Nicht zu vergessen, kann ich mich so ausgiebig um Holm-Rüdiger Andersen kümmern. Den kann man ja wohl kaum als volle Arbeitskraft einplanen, rein praktisch gesehen. Der bindet bestimmt noch eher Kapazitäten, als dass er uns eine Hilfe wäre und das möchte ich dem Team so weit es möglich ist ersparen.

Ich schüttele unwillig knurrend den Kopf. Jetzt werd bloß nicht messianisch Flex. Schreib den blöden Plan fertig!

Fluchend fuhrwerke ich in den glosenden Excel-Dateien herum. Das verdammte Laptop verstellt die Helligkeit des Bildschirms immer von selbst. Ich kritzle eine Notiz auf die jungfräulich reine Schreibtischunterlage, die IT-Abteilung darüber zu informieren. Können die Scherzkekse gleich den bescheuerten Furzton von meinem iPhone ändern, ich krieg das irgendwie nicht hin. Wahrscheinlich haben die das Ding gesperrt oder was weiß ich denn. Geht sowas überhaupt?

Ich rechne zum mindestens fünften Mal die geplanten Einsatzzeiten der einzelnen Mitarbeiter nach und stelle zufrieden fest, dass derjenige, der mit Abstand die meisten Stunden fährt, ich selbst bin. Kann man so machen, auch wenn der Betriebsrat das sicher etwas anders sehen wird. Ist nun mal so, krieg ich auch noch hin.

Mein Handy klingelt. Nicht das dienstlich flatulente iPhone, mein privates. Ich wühle es aus meinem Rucksack hervor und wische mit sachte bibbernden Fingern über den Touchscreen.

»Ahoi, Käpt'n!« rufe ich. Huch, klinge ich etwa hysterisch?

»Sag mal, was soll der Scheiß eigentlich?« frostet Maike. Ich starre auf den Laptopbildschirm, meine Augen brennen, wund geglotzt, verstrahlt. Automatisch greife ich mit der freien Hand nach meiner Volvic-Flasche und halte mich daran fest.

»Och, komm, du weißt doch, dass ich das liebevoll meine, wenn ich dich so nenne. Oder soll ich etwa Mäuschen oder Schatzi oder was weiß ich denn zu dir sagen? Ist doch spießig.«

»Wie wäre es denn, wenn du mich einfach bei meinem Namen nennst, Felix?« zischt sie. »Und überhaupt, das mein ich doch gar nicht!«

»Äh, sondern...?«

»Dass du mir hinterher telefonierst und in meinem Privatleben herumschnüffelst.«

Ich schlucke papieren.

»Privatleben? Und, und was heißt denn hier überhaupt schnüffeln? Ich hab doch bloß versucht, dich zu erreichen, weil ich mit dir reden wollte. Über alles, was in letzter Zeit hier so passiert ist. Und wie es dir geht und so.«

»Ja, genau«, schnaubt sie. »Und bei der Gelegenheit hast du dann gleich Benedikt über mich ausgequetscht.«

»Maike«, sage ich zaghaft. »Käpt'n. Ich hab den doch nicht ausgequetscht. Hör doch mal. Ich vermisse dich nunmal. Wir... wir haben uns jetzt über zwei Wochen nicht gesehen und ich wollte nur...«

»Felix, kannst du denn nicht ausnahmsweise mal akzeptieren, dass ich im Moment keinen Kopf dafür hab, mir ständig anzuhören, was dich so beschäftigt? Ich hab hier total viel um die Ohren, Mann!«

»Ja, ich etwa nicht? Da ist das doch umso wichtiger, dass wir uns austauschen und miteinander reden über alles. Haben wir doch sonst auch immer gemacht. Wo wir uns doch so selten sehen, seit du in Bremen bist...«

»Das liegt ja wohl nicht an mir! Wer verbringt denn mehr Zeit im Schwimmbad als sonst wo?«

Ich höre eine Männerstimme im Bremer Hintergrund murmeln. Irgendwas mit Tüchern oder Büchern. Benedikt? Obwohl, wahrscheinlich ist sie an der Uni.

»Maike, hör doch mal...«

»Wo bist du gerade?« unterbricht sie mich ungeduldig.

»Im Büro. Im Bad.«

Sie schweigt triumphierend. Dann setzt sie mit stählern therapeutischem Klang nach: »Vielleicht solltest du dir endlich mal darüber klar werden, dass du nicht allein bist auf der Welt.«

Ich trinke einen Schluck lauwarmes Wasser.

»Ehrlich gesagt, fühlt es sich aber genau so an im Moment. So ein bisschen jedenfalls.«

Stumm äthert es für ein paar Sekunden zwischen uns. Jemand im Freibad schreit gellend ekstatisch: »Arschbombe!«

»Felix«, sagt sie. »Lass uns bitte am Wochenende darüber reden, ja? Am Samstag, ich komm am Samstag so am frühen Nachmittag. Kannst du das bitte akzeptieren und mich bis dahin einfach in Ruhe lassen? Mir ein bisschen Zeit geben? Wir klären das, ja? Das verspreche ich dir. Ok?«

»Ist gut, Käpt'n«, flüstere ich, aber da hat sie schon aufgelegt.

Ich starre durch den Bildschirm auf mein Leben und erkenne nichts mehr wieder. Zu viele Geheimnisse. Was wollen die bloß alle von mir? Was geht hier vor sich? Die will doch nicht etwa ihr Studium schmeißen? Ich versuche zu denken. Ich will rennen, im Wasser schweben, im Wald kauernd in die Nacht starren. Warum will ich immer woanders sein? Bin ich schwach?

Manchmal, wenn morgens um halb fünf der Wecker klingelt und ich zur Frühschicht um sechs muss, wünsche ich mir, schwer krank zu sein. Irgend etwas Romantisches, Interessantes, was die Lebensqualität nicht zu sehr einschränkt aber dringend Ruhe, viel, viel Ruhe erfordert. So eine Dichterkrankheit. Ich wünsche mir auch oft, entführt zu werden. Ich wünsche mir, aufzuwachen und ein anderer zu sein. Alles, bloß nicht diese hilflose, wimmernde Müdigkeit, dieses aus dem Schlaf geschnitten werden, wie ein triefender zuckender Tumor aus Träumen. Und ich springe dann auf mein Rad und rase wie ein Getriebener durch das noch menschenleer dämmernde Schweigen. Ich stehe noch früher auf und schwimme vor Dienstbeginn bis mir alles brennt unter der Haut. Das sind die Momente, die nur mir gehören. Nichts und niemand, der über mich verfügt oder aus irgendwelchen Gründen meiner bedarf. Nicht der Mann. Nicht Maike. Nicht Bürgermeister Marther. Nicht Tante Heidi. Kein Dienstplan. Keine Pflichten. Nur stumpfes Strampeln und Gluckern, kreatürlicher Trieb zur Bewegung. Narkose. Frieden.

Ich fahre den Laptop runter, reiße in der Personalumkleide im Keller die Dienstkleidung von mir, ziehe meine Badehose an, schnappe mir Schwimmbrett, Paddles und den ganzen Mist und stürze mich in der dunklen, verlassenen Schwimmhalle ins Sportbecken.

Mit unkoordinierter schmerzhafter Vehemenz zerre und werfe ich mich durch den amniotischen, drückenden Trost, reiße raschelnde Blasenschnüre aus der Tiefe hinter mir her, stoße brüllend unter Wasser die Luft aus, versuche einen Takt in meinem Kopf zu folgen, schlagen, ziehen, atmen, atmen, schlagen, ziehen. Ein Galeerenbeat. Mein sogenanntes Training ist sportlich ineffektiv wie immer. Gut. Alles, was mich interessiert ist die unmittelbare Wirkung, die Betäubung oder wie immer Maike das nennen würde. Zur Strafe nochmal tausend Delphin Technik. Bringt nichts, so rein schwimmerisch, aber es hilft. Kampfschwimmen für Hungerhaken, nennt Caruso das. Meine Schienbeine jucken. Da ist zuviel Flockungsmittel im Wasser. Die anderen lachen immer über mich, aber ich merk das doch! Nach dreieinhalbtausend Metern beschließe ich, mich locker auszuschwimmen. Rückenkraul, nur Beine, Brett im Nacken. Ich starre durch meine leicht trübe Schwimmbrille an die hohe hölzern-metallene Decke und stelle mir vor, ich sei ein Astronaut, wie in so einer Science Fiction Geschichte. Ein einsamer, verlorener Forscher, das Weltall kreuzend in meinem Raumschiff Forstbad auf der Suche nach, was weiß ich denn, hat man wahrscheinlich längst vergessen. Da draußen findet man bestimmt sowieso nur Wahnsinn. Anstatt in entspannendem Rhythmus zu schlagen, treten meine Beine immer schneller bis ich eine Schaumspur hinter mir her ziehe. Dann tauche ich noch ein wenig. Langes Gleiten, ein Pressen auf den Ohren, die Fliesen zählend. Ich hasse Tauchen. Also tauche ich noch ein wenig mehr. Als ich am Beckenrand nach Luft schnappe, sehe ich Meredith durch die Panoramascheibe zum L'Afrique. Sie redet auf Simon ein, ihre Gesten ausladend und umarmend. Simon lacht, blickt dann herüber zu mir und winkt kurz. Ich winke zurück und schiebe mir die Schwimmbrille auf die Stirn. Meredith sieht mich lange an. Regungslos. Dann grinst sie, schüttelt den Kopf und verschwindet hinter der Theke aus meinem Blickfeld. Meredith weiß einfach, wie das geht. Das alles.

Meine Haut ist Quallenfleisch vor lauter Wasser, weiß, weich und zu groß für mich. Ich habe Hunger. Ich krieg das hin.

Ich krieg das alles hin.

Gut Nass

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