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ZUM TEE BEI ONKEL BÉLA

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Bèla Bàcsi ist Ungarisch und heißt auf Deutsch Onkel Bèla. Bèla wiederum ist ein ungarischer Vorname und gehört in die deutsche Namensgruppe Adalbert.

Bèla Bàcsi ist in Debrecen zu finden, einer Stadt in der ungarischen Puszta. Diese liegt im Osten der ungarischen Tiefebene. Kahlisch war weder in der Tiefebene noch in Debrecen noch im Osten von Ungarn.

Er kannte aber Onkel Bèla von seinem Aufenthalt in Budapest her. Dort war Kahlisch für mehrere Wochen zum Sommerurlaub. Eingeladen hatte ihn seine ungarische Brieffreundin Erzsi. Onkel Bèla kam eines Tages zu Besuch und brachte gleich seinen Sohn Laci mit, der baldigst Verlobung feiern sollte. Für Kahlisch stellte sich erst viel, viel später heraus, dass Laci es auf die stattliche, hübsche, redegewandte Gymnasiastin Erzsi abgesehen hatte.

Kahlisch war in seiner Naivität völlig überfordert, diese Begegnung zu durchschauen. Er hielt sich an die während des Frühstücks ausgesprochene Aufforderung von Erzsi: Gä-hen wir in Mu-säum!

Kahlisch folgte ihr in sommerlicher Hitze, erst in die einzige Metro-Linie der Hauptstadt, dann über den Heldenplatz und in die Kühle des Kunstmuseums. Hier erfuhr Kahlisch die kuriose Geschichte um den Pferdezüchter Bèla aus Debrecen und seinen Sohn Laci, genannt Ladislaus, der schon lange durch Erzsis Mutter vorbereitet wurde, eine gute Partie für Erzsi abzugeben. Aber für Erzsi war dieser Ladislaus viel zu ungebildet, viel zu unerfahren, viel zu pferdeversessen und viel zu weit weg vom eigentlichen Leben.

Kahlisch fühlte sich in diesem Moment schwebend gehoben. Er war ein gut gewachsener, sportlicher junger Mann aus der DDR, mit ungeahnten Liebesanwartschaften für eine sichere Zukunft. Ein einfacher Student in den Semesterferien, der die abenteuerlichste Reise seines bisherigen Lebens machte, mit dem Nachtzug bis nach Budapest fuhr und in einer völlig unbekannten Stadt auf seine Brieffreundin traf, die ihn für diesen Sommer erwartete.

Beide hatten sich schon in den Briefen sympathisch gefunden, weil sich bei Kahlisch ein Mädchen auf ungewöhnliche Weise brieflich, fotografisch und gedanklich interessant machte. Er hatte darauf mit angemessenen Worten reagiert und Sympathie von Erzsi und auch von ihrer ihm unbekannten Mutter geerntet.

Nun saßen Kahlisch und Erzsi im Museum der bildenden Künste, am kühlen Ort, und überlegten eine Fernhaltetaktik auf Ladislaus und Onkel Bèla.

Die hohen, weiten Räumlichkeiten der Kunsthallen mit ihren dunklen Gemälden und dem hohen Anspruch an die Betrachter waren einfach nicht der geeignete Ort, um bei Kahlisch und Erzsi eine Vertrautheit in ihren Wünschen aufkommen zu lassen.

Sie rannten aus dem Gebäude auf die freie Fläche des Heldenplatzes, versteckten sich abwechselnd hinter den Säulen und wurden immer freier in ihren Sinnesausdrücken.

Kahlisch blickte auf die bronzenen Helden über ihn und Erzsi übersetzte den Text zum Helden. Dabei sprachen sie in zwei Sprachen, Erzsi sagte igen und Kahlisch sagte nein, dann sagte Kahlisch igen und Erzsi antwortete nem. Kahlisch kannte nur das russische Wort für nein, nämlich njet, aber Russisch ist doch nicht Ungarisch, sagte Erzsi zu Kahlisch, und beide lachten im hellen Sonnenschein.

Bei der Rückfahrt in der klapprigen Uralt-Metro standen sie an einer der Haltestangen und setzten ihre Wortspiele fort. Die Gegensätzlichkeiten und Doppelbedeutungen waren eine belebende, lustige Angelegenheit. Erzsi übersetzte alles ins Deutsche. Kahlisch verstand sie nicht so gut, und so kam Erzsi beim Sprechen immer dichter an sein Ohr, sodass sie sich bei der ruckligen Fahrt der Metro ständig berührten. Kahlisch konnte nicht genug davon bekommen. Er nahm die Wörter auf, als wäre Ungarisch seine neue Muttersprache.

Béla Bacsi und Laci machten in der Zwischenzeit Konversation mit Erzsis Mamika in der Küche. Die Mutter kochte, schabte, zerkleinerte, rührte, backte und beide Männer saßen bei einem schwarzen Tee dabei und erzählten von Debrecen, der Pferdezucht und den Aussichten auf gute Geschäfte, auch im Ausland.

Ob Kahlisch in diesen Gesprächen vorkam, wusste er nicht, es war für ihn auch nicht wichtig, weil er an diesem Sonntagvormittag das interessanteste Mädchen von ganz Ungarn besser kennenlernte, das Mädchen, das er schon immer haben wollte.

Die Mittagsmahlzeit bestand aus sechs Menügängen, die Mamika alle in der kleinen Küche gezaubert hatte. Zu fünft saßen sie im kühlen Wohnzimmer am runden Tisch, sprachen ein ungarisches Gebet, verschlangen die aufgetragenen Speisen mit Blicken und wurden von der Mutter bedient – Hühnerbrühe, Hühnerklein mit Gemüse, Eierkuchen, Schnitzel mit Gemüse und Kartoffeln, Apfelstrudel, Kaffee und Soda-Viz.

Kahlisch hatte noch nie in seinem Leben so viel gegessen. Die anderen ließen den einen oder anderen Essensgang aus. Sie waren schon geübt, ein so reichliches ungarisches Sonntagsessen schadlos zu überstehen.

Das Wohnzimmer lag zur Innenhofseite des Häuservierecks. Hier war es ruhig und kühl. Vom Fenster aus sah man auf die Etagengänge der Stockwerke des hohen Gebäudekomplexes aus der Gründerzeit.

In der Wohnung herrschte trotz der Sommerhitze ein eigenwilliger Dämmerzustand, der durch die altertümlichen Möbel noch unterstrichen wurde.

Kahlisch fügte sich erstaunlich gut in dieses Ambiente ein, er saß im Sessel und hörte zu, wie Onkel Béla und Erzsis Mutter auf Ungarisch Konversation betrieben. Ab und zu nickten sie zu ihm hinüber, Kahlisch konnte sich denken, dass sie über ihn sprachen.

Als sie wieder einmal mit dem Kopf zu ihm hindeuteten, stand Erzsi unvermittelt auf, rief ihrer Mutter und Onkel Béla ein Auf Wiedersehen zu, erklärte Kahlisch das gemeinsame Nachmittagsprogramm, fasste ihn an der Hand, verließ mit ihm das Haus und zusammen liefen sie zur nahen Elisabethbrücke, die Erzsis vollständigen Namen trug.

Sommerhitze in Budapests Straßen. Erzsi trug ein orangefarbenes, enges Trägerkleid aus Frottee mit einer aufgenähten Tasche am Rocksaum, aus der eine gestickte, dunkelrote Rose bis in das Oberteil des Kleides wuchs, dazu Sandalen, eine Pagenkopffrisur, eine große, weißgerahmte Sonnenbrille. Ihre gebräunte Haut ließ Kahlisch nicht mehr los. Die Sehenswürdigkeiten der Stadt nahm er nur schemenhaft wahr.

Sie waren jetzt schon über zwei Stunden mit Tram, O-Bus und zu Fuß unterwegs. Erzsi sprach Deutsch und erklärte alles wie eine Reiseführerin, die ein gutes Programm zusammengestellt hatte.

Auf den Treppenstufen zur Donau machten sie eine Pause. Kahlisch starrte auf den sanft fließenden Fluss, auf die Liebespaare um sie herum und auf den kurzen Rock an Erzsis Oberschenkel.

Kahlisch hatte keine Scheu, sie so zu fotografieren. Ein Kunstfoto auf den Donautreppen an der Elisabethbrücke. Erzsi blickte in die Kamera und auf Kahlisch.

Er hatte so frei noch nie in seinem Leben fotografiert, noch nie so ruhig ausgelöst und war sich noch nie so sicher über das Endergebnis der Bilder gewesen, die ihm erst viele Wochen später genau dieses Erlebnis zeigten.

Erzsi suchte etwas in ihrer Tasche und Kahlisch setzte sich zu ihr auf die höhere Stufe. Weil er so nah bei Erzsi war und weil so viele Liebespaare um ihn herum waren und weil er Erzsi himmlisch fand, küsste er sie in die Schulter-Hals-Beuge. Erzsi wendete den Kopf und erwiderte seinen Kuss mit einem langen, langen Kuss auf Kahlischs Mund, schaute danach über das Wasser und zeigte in Richtung Buda mit dem Gellértberg und sagte: Morgen gä-hen wir auf Zi-ta-de-ll-a.

Béla Bacsi und Laci standen für die Heimfahrt im Flur der Wohnung bereit. Kahlisch und Erzsi konnten ihnen noch einen Abschiedsgruß zurufen, bevor die Pferdezüchter nach Debrecen zurückfuhren.

Übrigens, zum Tee bei Onkel Béla ist es für Kahlisch deshalb nicht gekommen, weil das große Leben, das vor ihm lag, etwas ganz anderes mit ihm vorhatte.


Der lange Weg nach Alt-Reddewitz

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