Читать книгу Der lange Weg nach Alt-Reddewitz - Ulfried Schramm - Страница 7
KAHLISCH WIRD BRAUTFÜHRER
ОглавлениеDer Braunkohletagebau war heute, wie in den letzten Tagen, kaum vom gelblich-grauen Himmel zu unterscheiden. Hier und da ragte etwas von der Förderbrücke heraus. Der Abraumbagger war ein rundes Etwas, Himmel und Erde waren für Kahlisch eine übergangslose graue Masse. Er fuhr mit dem Baustellenbus zur Arbeit und blickte zur Seite auf das große Loch, das von Tag zu Tag immer gewaltiger wurde. Dieser Morgen hatte eine eigenartige Tönung für alles, was Kahlisch mit den Augen erfassen konnte.
Zurzeit arbeitete er als Maurer mit den Stuckateuren in einem Gebäude. Die Industriebauten standen im abraumsicheren Gelände und dienten als Sanitäranlagen, Garagen oder Werkstätten. Die Gipser, wie sie auf der Baustelle genannt wurden, in ihren weißen Arbeitsanzügen und den weißen Arbeitsmützen waren eine Sonderklasse auf dem Bau. Für Maurer galt auch weiße Arbeitskleidung, aber Kahlischs Brigade war ein zusammengewürfelter Haufen aus Maurern, Betonleuten und Handlangern, die selten weiße Hosen und Jacken trugen. Eine individuelle Arbeitskleidung herrschte vor. Kahlisch trug eine nicht mehr ganz neue Maurerjacke, hatte einen grünen, altertümlichen Filzhut auf dem Kopf, der ihn unverwechselbar machte, und dazu dunkelgraue Alltagshosen. Die Füße steckten in Gummistiefeln.
Kahlisch lief durch eine Werkhalle, die innen ausgebaut wurde und im Rohbau stand, hatte sein Werkzeug unter den Arm geklemmt und schritt zielstrebig auf seinen Arbeitsplatz zu. Der Innenausbau sollte an diesem Wochenende mit einer Feierlichkeit abgeschlossen werden.
Verwaltungsgebäude, Gaststätte, Kulturraum gehörten ebenso zum Übergabeprotokoll. Die Arbeiter hatten somit ganz nebenbei ordentliche Toiletten, die schon funktionierten. Es gab auch zwei Badewannen als Extra in einem Gebäude, aber die blieben bis zur Übergabe trocken.
Kahlischs Vor- und Zuname wurden plötzlich in der Halle laut ausgerufen und bevor er aufblicken konnte, stand schon der Telegrammbote vor ihm. Der Bote trug einen dunkelgrauen Dienstanzug mit Silberknöpfen, hatte eine Dienst-Schirmmütze auf dem Kopf und nahm aus der Umhängetasche ein Telegramm, überprüfte den Namen und händigte den kleinen, ineinandergesteckten und gefalteten Zettel an Kahlisch aus.
+brautfuehrer fuer hochzeit von h. +samstag+ 13.30 uhr+ +mutti+
Das stand in Handschrift auf dem schmalen Telegrammzettel.
Heute war Donnerstag, noch zwei Tage, dachte Kahlisch. Er musste am Abend zurücktelegrafieren, wenn er aus der Zehn-Tage-Arbeitswoche herauskommen sollte. Er kam heraus, die Brigade ließ ihn Hochzeit feiern und machte die üblichen Witze dazu, denn Kahlisch war seit drei Monaten im hochzeitsfähigen Alter und sollte doch erst einmal probieren, wie sich Heiraten anfühlte …
Ein älterer Handlanger kam sogar in der Frühstückspause ins Schwärmen, als er von der Hochzeit hörte: Wenn man jung ist und die Braut an der Seite führen kann, spürt man seine wahre Größe und bekommt die richtigen Lebensgefühle für das eigentliche Dasein auf Erden. Der Handlanger sprach das in der Bauarbeiterbaracke sehr sinnig aus und erntete von den rauchenden und kauenden Kumpels zotige Antworten. Kahlisch war mehr verunsichert als ermuntert und seine Ohren röteten sich.
Das Zusammentreffen mit Kahlischs Mutter, der Brautjungfer und einem Koffer, in dem sich Kahlischs dunkelblauer Sonntagsanzug, seine Sonntagsschuhe und eine helle Krawatte befanden, gestaltete sich problemlos. Die abseits gelegene Bank gehörte zu einer Parkanlage, die sich in der Stadt befand, in der die Hochzeit stattfinden sollte. Dort wechselte Kahlisch seine Alltagssachen, sodass er sich in einen ansehnlichen Brautführer für seine Brautjungfer verwandelte. Sein sonnengebräuntes Gesicht passte gut zum weißen Oberhemd und der silbergrauen Krawatte. In einem kleinen Spiegel sah Kahlisch auf sich und seine anmutig zurechtgemachte Hochzeitsdame. Kahlisch war etwas größer als sie und probierte mit ihr das Unterhaken und das Halten des kleinen Brautstraußes. Er passte gut zu ihrem bunten Sommerkleid, das sie mit einem Petticoat trug.
Sie waren ein vorzeigbares Paar. Alle Brautjungfern im aufgestellten Brautzug bekamen vor der Kirche eine kleine Schleife für ihre Biedermeiersträuße.
Eben war Kahlisch noch auf der Baustelle gewesen und jetzt stand er mit einer jungen Frau Arm in Arm in ungewohnter Manier im Kreise aller Hochzeitsgäste und wurde begutachtet. Alle kannten sich aus früheren Begegnungen, sodass kein steifer Anstandszwang aufkam. Das Hochzeitszeremoniell wurde besprochen und die Glocken läuteten. Der Brautzug formierte sich. Vorn schritt das Brautpaar. Die Braut war an der linken Seite des Bräutigams und wurde von ihrer Mutter geführt. Danach kam das Defilee der Brautjungfern mit ihren Führern und weil es ein kleiner Brautzug war, nahmen sie hinter dem Brautpaar Platz. Kahlisch hatte ein stolzes, ungewöhnliches Lebensgefühl beim Einzug in den hohen Kirchenraum.
Er saß im Halbrund mit den anderen Hochzeitsgästen und sah auf den Pfarrer, den stillen Altar, in die hellen Kirchenfenster und seine inneren Bilder, die sich mit dem augenblicklichen Leben vermischten.
Er blickte auf das Schwarz des Bräutigams, auf das Weiß der Braut und hörte die lebensklugen Worte des Geistlichen.
Kahlisch hielt inne im eigenen Lebensstrom und sah … seine Anfänge in der Schule, die abgeschlossene Lehre, die Tanzabende und Silvesterfeiern, das Zelten am Meer, sein Gitarrenspiel in den Dünen, den Braunkohletagebau und den frischen Beton für die Werkhallen.
Er ergriff die Hand seiner Brautjunger, die den Blumenstrauß auf ihrem Schoß festhielt, sah ihr in die Augen und stärkte sich an ihrem freundlichen Blick.
Dann sah er nach vorn und hörte von Treue, Zuneigung, Hilfe und Liebe, von Alter und Glaube. Er sah auf die Braut, sah den Ring und ihre Hingabe zum Bräutigam.
Das waren Dinge des Lebens, die immer wiederkehrten, die sich wiederholten und einen Lebenskreis bildeten. Kahlisch wurde plötzlich klar, dass auch er zu diesem Lebenskreis gehörte, dass er ein kleines Rädchen im Getriebe war, das sich drehte und gedreht wurde. Die Klänge der Orgel brachten Kahlisch in das Jetzt zurück, man erhob sich. Beim Ausmarsch wechselte die Braut an die rechte Seite ihres Mannes und Kahlisch führte seine Brautjungfer in die Aufstellung zum Hochzeitsfoto.
Er versuchte, seine Verlegenheit ein bisschen wegzulächeln, wie alle anderen auch. Nur das Brautpaar schien ihm sehr glücklich zu sein. Es stand heute im Mittelpunkt und erschloss nun einen neuen Lebenskreis für sich.
Das fand Kahlisch erst viel später heraus, als er sein eigenes Familienleben hatte, das nach seiner eigenen Hochzeit stattfand. Doch diese Hochzeit, bei der er die Brautjungfer begleitete, war für ihn eine Art Generalprobe und damit schon recht sinnvoll.
Am Nachmittag war die Hochzeit locker und fröhlich. Kahlisch lernte die Braut näher kennen, die eine Freundin seiner Brautjungfer war. Mit Gesellschaftsspielen vertiefte sich das Kennenlernen aller Hochzeitsgäste und als man tanzen wollte, verlegte sich alles auf den geschmückten Innenhof des alten Stadthauses. Die Hochzeitsgesellschaft verwandelte sich an diesem Sommerabend in eine Gruppe lustiger Menschen und feierte ausgelassen weiter.
Auf dem Nachhauseweg zog Kahlischs Brautjungfer die hohen Hackenschuhe aus, lief barfuß, trug ihren Biedermeierstrauß und hielt ihn Kahlisch ab und zu unter die Nase, lachte und hakte sich fest bei ihm unter.
Alles ist miteinander verbunden, sagte Kahlisch über die Schulter zu ihr, alles ist ein ewiger Strom des Lebens, selbst mit dem Sterben hört das nicht auf, man entwickelt seine Stärke, man entwickelt sein Ich, das für alle Zeiten bestehen bleibt.
Seine Jungfer blickte in die Nacht, zu den Sternen am Himmel, suchte ein bekanntes Sternenbild und deutete auf eine ferne Galaxie, auf der sie mit Kahlisch in dieser Nacht leben wollte.