Читать книгу Der lange Weg nach Alt-Reddewitz - Ulfried Schramm - Страница 8
GO WEST – DER FILM
ОглавлениеDie Leute standen auf der Straße, standen zum Gebäudeeingang hin, standen im Treppenflur, standen zum zweiten Stock gerichtet, rückten im Vorraum auf die Aufnahme mit den drei Tischen zu und wurden von unermüdlichen Helfern mit ihren persönlichen Daten registriert. Kahlisch reihte sich ein und wartete.
Er blickte um sich und gleichzeitig in sich, Kino und Film, Komparse, der er jetzt werden wollte, Kameras, Leute mit dicken Brillen, Basecap und unter dem Arm Manuskripte, Megafonsprache mit den berühmten Worten: Alles auf Anfang!
Kahlisch war längst nicht mehr im jugendlichen Alter. Auf seinem Kopf sah es graustufig aus und die Rente war sein aktuelles Einkommen.
Um ihn herum warteten sehr viele Leute, viel jüngere Menschen als er, redeten im Plauderton, sprachen über die Massenszene des Films und deuteten sich ihre Rolle und Besetzung gegenseitig. Kahlisch hörte, dass es ein Hollywoodfilm war, der in dieser Gegend gedreht werden sollte. Jetzt erklärte sich für ihn auch der Menschenauflauf.
Kahlisch hatte eines Tages von seiner Trödelfreundin am Nachbarstand einen Hinweis auf diesen Casting-Termin bekommen. Eine Komparsenrolle kann man auch in deinem Alter noch spielen, hatte sie zu Kahlisch gesagt, und er war sich als Antwort mit beiden Händen durchs Haar gefahren und hatte eine Pose am Trödelstand eingenommen.
Dieser Tipp interessierte ihn. Filme spielten in seinem Leben schon immer eine orientierende Rolle. Kahlisch dachte an seine Kindheit mit dem Dorfkino und dem Kinderprogramm, erlebte noch einmal die Monumentalfilme seiner Studentenzeit und jetzt blickte er auf die vielen Regisseure und Schauspieler, die er schon ein Leben lang kannte.
Der Landfilm kam in seiner Jugend einmal in der Woche in das Dorf. Es gab eine Nachmittagsvorführung für die Kinder und eine am Abend für die Erwachsenen. In der größten Gaststätte des Ortes wurde der Tanzsaal für die beiden Vorführungen vorbereitet. Kahlisch war als Kind ein zuverlässiger Helfer beim Stühlerücken für die Zuschauer oder beim Aufbau der großen Filmleinwand auf der Bühne des Tanzsaales. Er verdunkelte Fenster und trug die Filmrollen vom Auto draußen hinein in den Saal. Meist wurde er für seine Hilfe mit einer Freikarte für den Nachmittagsfilm belohnt.
Als Kind interessierte ihn alles, was auf der Leinwand flimmerte, Abenteuerfilme, Kriegsfilme, Tier- und Trickfilme.
Am liebsten sah er Kinderfilme aus der Gegenwart. Kahlisch saß mit den anderen Dorfkindern in der ersten Stuhlreihe, zappelte vor Begeisterung und hielt sich die Augen zu, wenn der Vorspann ablief.
So sah es in anderen Ländern aus, so baute man die großen Segelschiffe mit den Kanonen an Bord … Kahlisch sah genau hin und lernte die Schiffskommandos aus dem Film auswendig. So ritten die sowjetischen Partisanen über die Leinwand und Kahlisch bekam ein Gefühl für Freund und Feind. Diese einfachen Bildungsreisen im Dorfkino prägten seine kindliche Lebensauffassung.
Jetzt stand er, mit dem Dorfkino im Kopf, wartete in der Menschenschlange und bewarb sich für eine Komparsenrolle. Nach den Formalitäten begab er sich in die Maske, wurde fotografiert und auf einen bestimmten Typ festgelegt. Ob sein Alter und sein Aussehen gefragt waren, erfuhr er nicht. Er bedankte sich für die Aufnahme im Komparsenregister und machte sich an dem sonnigen Herbsttag auf einen Spaziergang durch die Stadt, trank einen Kaffee an einem Backstand und betrachtete die Auslagen am Buchgeschäft. Er hing seinen diversen Kinoerlebnissen nach und sah sich als Komparsendarsteller in einem Hollywoodfilm.
Zum Hollywoodfilm kam es nicht, doch etwa ein Jahr später erhielt Kahlisch die Mitteilung, sich in einer anderen Maske für einen zweiteiligen Fernsehfilm einzufinden.
Er brauchte sich nicht mehr anzustellen; er wurde erwartet.
Es gab Erklärungen von Mitarbeitern, die er nicht ganz verstand. Es ging um Verfügbarkeit, Ortswechsel, Zeitlimit. Kahlisch hatte für alles genügend Reserven und schaute sich lieber im Kreis seiner Komparsenkollegen um. Hier war alles bunt gemischt, vom Alter her, vom Aussehen, auch vom Temperament der Leute. Wie von der Straße eingesammelt, ein interessantes kleines Häufchen von Enthusiasten, die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie redeten vom Film, von der Filmcrew, wie der Abenteuerfilm gemacht werden würde und von den richtigen Schauspielern, mit denen man arbeiten würde.
Maaskee!, rief es in den Raum hinein und eine neue Situation entstand.
Kahlisch wurde im Sessel, vor dem Spiegel und am Schminktisch begutachtet. An der attraktiven Maskenbildnerin konnte er sich nicht sattsehen. Sie betrachtete ihn von allen Seiten, zeigte im Spiegel auf seine Besonderheiten und holte eine Begutachterin zu Rate, drehte seinen Kopf nach oben und zur Seite, schrieb etwas auf einen Zettel und forderte ihn auf, zur Einkleidung in den Fundus zu gehen. Ein anderer Raum, ein anderes Fluidum, Kleiderständer mit den unterschiedlichsten Sachen, ein kleines Warenhaus mitten im Untergeschoss des großen Gebäudes, bereit für die unterschiedlichsten Rollen …
Kahlisch probierte einen kornblumenblauen, geflickten Arbeitsanzug und ein kragenloses Proletarierhemd an. Die Designerin sagte zu ihm: Sie sind ein ungarischer Bauer für einen Szenenabschnitt in einem fahrenden Zugabteil. Die Frau für den Fundus schaute auf den Notizzettel aus der Maske und ergänzte für Kahlisch: Die Haare auf dem Kopf sollen in der nächsten Zeit weiterwachsen, kein Friseur! Ab heute keine Rasur mehr, der Bart soll sprießen. Sie bräuchten noch eine alte Brille aus den 80er Jahren und eine dunkelblaue Schirmmütze aus der gleichen Zeit. Hab ich, sagte Kahlisch, mach ich, fügte er noch hinzu. Er wandelte sich augenblicklich in einen alternden Schauspieler, der als ungarischer Bauer im Zug fuhr und vielleicht in die Stadt wollte oder in die Apotheke … Kahlisch brannte für den Film.
Jetzt war er ein Komparse in einem zweiteiligen Abenteuerfilm mit
Action - Bedürfnis im fahrenden Zug.
Einige Zeit verging und auf Kahlischs gebräuntem Gesicht breiteten sich am Kinn langsam weiße Bartspitzen zu einem stachligen Etwas aus. Es war ihm peinlich. Es musste ihm nicht peinlich sein, er erntete Anerkennung, sobald er sich zur Filmcrew erklärte, die ihn für einen Abenteuerfilm gebrauchen konnte, und auch so gab es Schulterklopfen für sein neues Äußeres.
Es war ein regnerischer Tag, als der Dreh begann. Das große Warten war für die Komparsen und die Filmleute der ewige Filmalltag. Alle Komparsen saßen in ihrer Filmkleidung im großen Zelt des Drehstabes, die Maske hatte sie zurechtgemacht, sie besahen sich gegenseitig und lernten sich kennen, es gab Kaffee, Zeitschriften …
Zwei Mitarbeiter verteilten Gegenstände an die im Zug reisenden Komparsen: Sonnenschirme, Regenschirme, verschnürte Päckchen, Köfferchen, Plastikfrüchte nach ungarischer Art, Blechkannen, Körbe mit Inhalt, eine Art Reiseproviant in Papier gewickelt … Kahlisch bekam ein Original-Einweckglas mit Soleiern in die Hand gedrückt und ihm war klar, dass er mit diesen Eiern mit dem Zug in die Stadt fuhr, um sie dort zu verkaufen. Er behielt also das Einweckglas fest in der Hand, sodass man es bei den Filmaufnahmen sehen konnte.
Die Filmcrew hatte sich auf einem historischem Bahnhofsgelände niedergelassen und ausgebreitet: je ein Wagen für die Maske und die Requisite, Akteurswagen mit persönlichen Eingangstüren der Schauspieler, Mitarbeiterwagen, Technikerwagen, Catering-Ausgabestände für Filmleute und Techniker und gesondert für Komparsen.
Das Bahnhofsgebäude trug einen überklebten ungarischen Namen. Auf den Bahnhofsgleisen wartete ein längerer, originaler Zug aus den 80er Jahren. Kahlisch sah überall genau hin. Die 80er Jahre kannte er aus dem eigenen Leben, doch das ungewohnte Film-Fluidum beschäftigte ihn sehr. Er war aufgeregt, angeregt und gut aufgelegt, der Dreh konnte endlich beginnen. Kahlisch war ergriffen, so wie damals, als er das Kinderfilmprogramm im Dorfkino miterlebte.
Ein Ruck ging durch das Filmzelt und alle liefen auf den wartenden Zug zu. Jeder Komparse hielt etwas in der Hand, durch die Filmkleidung war man als älterer Komparse schnell in der Filmzeit angekommen. Kahlisch war der ungarische Bauer in blauer Arbeitskleidung mit der blauen Mütze, aus der Haare bis in den Nacken reichten, er hatte sich zehn Tage nicht rasiert und hielt ein Glas Soleier in der Hand.
Alle Komparsen stiegen nach eigenem Ermessen ein und setzten sich, wie es ihnen gefiel. Es erfolgte eine Durchsage und der Zug fuhr los.
Die Filmfahrt dauerte. Der Zug fuhr auf einer geraden Strecke immer hin und her, zwei, drei Kilometer in jede Richtung. Im Zugabteil saßen nur die Komparsen als unentbehrliche Statisten, unterhielten sich miteinander wie normale Reisende, zeigten sich gegenseitig ihre Filmutensilien, lachten dabei und entspannten sich wie auf einer richtigen Zugfahrt. Die Eisenbahnwagons der Filmzeit hatten keine abgeschlossenen Coupés mit einem Außengang, sondern waren mit Vierersitzplätzen und Mittelgang ausgestattet. Kahlisch konnte durch den ganzen Wagon sehen. Es gab über jeder Sitzgruppe Gepäcknetze, wo die mitgebrachten Köfferchen und Sonnenschirme lagen.
Kahlisch saß allein und machte sich mit einer jungen Frau, die auf der anderen Seite des Gangs war, bekannt. Sie hatte einen blonden Pferdeschwanz und trug eine großgepunktete weiße Bluse und enge blaue Jeans zu Korkhackenschuhen. Sie sah fantastisch aus und erinnerte Kahlisch an eine Freundin aus seiner Studentenzeit, die jetzt gedanklich zu ihm kam.
Kahlisch wusste, dass er schrecklich aussah mit seinen grauen Haaren, die unter der Mütze hervorquollen, mit seinem ungepflegten Bart, der dunklen Hornbrille aus den 80ern und der schäbigen Arbeitskleidung. Das Schrägste an ihm war das Einweckglas mit den leuchtend weißen Eiern.
Dennoch wagte er einen kleinen Flirt mit der jungen Frau, die den Ellenbogen aufgestützt hatte und sich umsah. Sie sprachen über das Komparsentum, über den Film und über Sinn und Unsinn, hier und jetzt im Abteil zu sitzen.
Eine Megafonstimme rief: Action!
Es folgten Erklärungen für die Komparsen im Zugabteil, während der fahrende Zug ratterte.
Achtung, Aufnahme!, hörte jeder deutlich, und dann begann die Verfolgungsjagd im Zug. Wie an einer Perlenschnur aufgereiht, im Rückwärtslauf: Filmtechniker, Beleuchter, Tonmeister, Assistenten, Regisseur, Assistenten für die Kamerabetrachtung, Tonassistent und danach der Kameramann mit der Schulterkamera, die auf drei flüchtende Jugendliche frontal gerichtet war. Im engen Mittelgang war das ein bedrückender Moment für alle.
Alles auf Anfang!, hörte Kahlisch, und die Szene wurde umgekehrt noch mal gefilmt – die Kamera lief den flüchtenden Jugendlichen hinterher.
Die Komparsen bekamen ein Lob für ihr authentisches Verhalten bei dieser Flucht und Kahlisch hatte die Stirn, eine kleine persönliche Filmszene einzubauen. Eine Flucht hat immer auch Hindernisse, sagte er zur Aufnahmeleiterin. Ich könnte mein Glas Soleier, wenn die Flüchtenden kommen, meiner Nachbarin reichen, um einen kleinen Aufenthalt zu provozieren.
Ja, das könnten wir machen, sagte die Regieassistentin zu Kahlisch.
Die Einstellung wurde mehrmals wiederholt, die Spannung steigerte sich und Kahlisch kam stärker ins Bild.
Nach mehreren Stunden waren die Filmaufnahmen abgedreht. Catering für die Komparsen und Heimfahrt für Kahlisch.
Eines Tages wurde dieser Abenteuerfilm mit Kahlisch als Komparse im Fernsehprogramm als zweiteiliger Polit-Thriller angekündigt.
Die zweieinhalb Sekunden, in denen Kahlisch im Film zu sehen war, machten ihn nicht traurig oder mutlos. Im Gegenteil, der Film hatte ihn noch einmal in sein Lieblingsmetier Kino geführt, das für ihn nach wie vor eine Bedeutung hatte, das ihm noch immer Lebenskraft gab, die er mit anderen teilen wollte.
Diese Komparsenrolle hatte eine eigentümliche Bedeutsamkeit für sein pulsierendes Leben.