Читать книгу Die Didaktik der Biologie - Biologieunterricht als Bildungsaufgabe - Ulrich Bossert - Страница 7
2. Bildung für alle?
ОглавлениеTeuer und exklusiv
In England ist ein Abschluss an einer Eliteschule (teuere Internate) eine gute Voraussetzung, einen Studienplatz in Oxford oder Cambridge (hohe Studiengebühren) zu erlangen. Mit dem Examen tritt man in das Beziehungsnetz der Ehemaligen ein.
41 Premierminister und knapp 150 Nobelpreisträger studierten in „Oxbridge“. Bei den Premierministern liegt der Schwerpunkt auf Oxford, bei den Nobelpreisträgern deutlich auf Cambridge.
Wie Martin Lanz in einem Artikel in der NZZ vorrechnet, liegen in den USA die Kosten für ein Bachelor - Studium bei 25.000 $ (z.B. für Einheimische an der staatlichen University of Minnesota) und 60.000$ (z.B. an der privaten Princeton University) pro Jahr. Nach dem Studium tritt man nach vier Jahren mit 100.000 $ bzw. 240.000 $ Schulden in das Berufsleben. Wenn man nicht gleich eine Anstellung findet, wird die Lage prekär.
Das jährliche Schulgeld für einen Bachelor ist seit 1995 real um 50% gestiegen. Es gibt zwar Finanzhilfen, die aber nicht mit der Preisentwicklung Schritt halten.
In Frankreich sind die Gymnasien sogar offiziell (in Deutschland nur inoffiziell) unterschiedlich gut. Da man das Gymnasium seines Wohnbezirks besuchen muss, reicht es nicht aus, Geld zu haben (wie in England), sondern man muss zusätzlich im richtigen Einzugsgebiet (mit hohen Immobilienpreisen) wohnen. Um die Aufnahmeprüfung an einer der Pariser Eliteuniversitäten zu bestehen, ist ein teures und stressiges Vorbereitungsjahr (privat finanziert) hilfreich, wenn nicht gar Voraussetzung.
In asiatischen Ländern gibt es ähnliche Verhältnisse. In Japan z.B. ist es wichtig, schon in dem „richtigen“ Kindergarten einen Platz zu erlangen. In Südkorea besuchen Kinder, deren Eltern es sich leisten können (200 - 300 EUR pro Fach und Monat), zusätzlich eine private Nachmittagsschule (etwa 28.000 „Hagwons“ alleine in der Hauptstadt).
Thomas Nipperdey geht auf die Verhältnisse in Deutschland ein. Das humanistische Gymnasium war im 19. Jahrhundert die Regelschule (auch für den Adel) der höheren Bildung in Deutschland. Die Zahl der Abiturienten war gering: In Preußen waren es zwischen 1830 und 1840 etwa 2‰ der Einwohner. Trotzdem kann man das Gymnasium als relativ "offen" bezeichnen, weil es zunächst jeder mit Begabung und den finanziellen Mitteln der Eltern besuchen konnte. Das Schulgeld betrug in Preußen durchschnittlich 50 Mark pro Jahr (ein Volksschullehrer in der Stadt verdiente etwa 750 Mark im Jahr). Die Zahl der höheren Schüler (Jungen!) lag auch deutlich höher als die der Abiturienten - in der Anfangszeit des Gymnasiums waren Frühabgänger ("Einjähriges") typisch. Das Schulgeld war eine Barriere, aber auch ein Schleuse des sozialen Aufstiegs, falls Eltern der Mittelschicht zu dem finanziellen Opfer bereit waren.
Das Gymnasium war in seinen Stoffen - den alten Sprachen, der Literatur, dem unmittelbar Nutzlosen - exklusiv. Das hielt die Unterschicht und große Teile der Mittelschicht fern, aber auch Jungen aus Handwerkerfamilien und Kinder von Kaufleuten und Unternehmern.
Ab 1850 mehrten sich die kritischen Stimmen, aber eine große Lobby verhinderte Veränderungen und das Unwahrscheinliche geschah: die Regelschule der höheren Bildung blieb das humanistische Gymnasium.
Das Unwahrscheinliche setzt sich bis heute fort. Bis auf den Austausch der alten Sprachen durch moderne hat sich an den Stundentafeln kaum etwas geändert.
Schützen in England und Frankreich in erster Linie die hohen Kosten die Privilegien, ist die Lage in Deutschland „subtiler“ und vielschichtiger. Hier arbeiteten Lehrplan (Kultusministerium), Lehrer (Philologen - „Freunde der Wissenschaft“ nicht der Kinder) und Eliten von Anfang an (Beginn des 19. Jahrhunderts) am Schutz der Privilegien zusammen. Das Bündnis besteht seit 200 Jahren.
Die Werte und Inhalte, die das Gymnasium (zu Beginn des 19. Jahrhunderts) vermittelte, standen jenseits der Welt der Arbeit, Technik und Industrie. Es ging um den neuhumanistischen „Geist“. Naturwissenschaften wurden weitgehend durch Mathematik repräsentiert. Schon im 19. Jahrhundert wurde das Fach Mathematik, das keine Naturwissenschaft ist, zur Verschleierung des Fehlens von naturwissenschaftlichen Fächern in den Stundentafeln missbraucht.
Die Kraft des „Geistes“ ließ bald nach und wurde oft zum museal-antiquarischen Bildungsgut und der Unterricht tendierte zu Rhetorik und Formalismus.
Die Gymnasiallehrer organisierten sich schon früh als eigener Berufsstand. Sie fühlten sich dem akademischen Beamtentum verbunden und hatten das Ziel, den Elitecharakter des Gymnasiums zu erhalten.
Die Schule hatte sich (teilweise) von der Herkunft verabschiedet, aber noch nicht auf Zukunft umgestellt.
Auch heute noch dient das Gymnasium eher dem Schutz von Privilegien als der Vorbereitung auf die Zukunft.
Bildung für alle? - Nein!
Liste von Gründen, die der Chancengleichheit entgegenstehen
Die Gründe und Fehler, die zu Benachteiligungen führen, sind viele, zum Teil weniger bedeutend erscheinende, die sich aber rückkoppelnd verstärken.
Grund 1. Wahlüberlegungen der Eltern
Akademikereltern wählen nicht; für sie ist es selbstverständlich, dass ihr Kind ein Gymnasium besucht. Die Frage ist dann nur: Wie erreicht mein Kind das Gymnasium? Andere Eltern beziehen in ihre Überlegungen die Länge des Schulweges und die Verkehrsmittel mit ein und suchen u. U. die nächstgelegen Schule aus.
Grund 2. Habitus („Stallgeruch“)
Ein Mensch der Oberschicht mit seinem ihm typischen Habitus – nach Pierre Boudon - nimmt die Welt in einer bestimmten Weise wahr, urteilt nach entsprechenden Wertvorstellungen, entwickelt seinen ihm eigenen Geschmack (Essen, Kleidung, Wohnungseinrichtung, Freizeitgestaltung, Umgang mit Kunst, besonders Musik und Literatur).
Er besitzt gute Umgangsformen („Manieren“), die er im Kreis der Bekannten bestätigt findet.
Der „Habitus“ der Familie prägt den des Kindes und er liegt seinen Entscheidungen und seinem Handeln zugrunde. Bis auf wenige Ausnahmen wird dieser Habitus durch die Schule nur geringfügig modifiziert.
Ausführlich und eindrucksvoll hat Bruno Preisendörfer die Nachteile dargestellt. Die tradierte Überlegenheit der Mitglieder aus "guter Familie" gegenüber den Angehörigen "niederer Herkunft", gehen auf den Habitus zurück.
Es sind nicht nur der materielle Wohlstand und die finanzielle Sicherheit sondern die unterschiedliche Lebenswelt und ihre Umgangsformen, die zu Selbstbewusstsein führen. Es ist nicht die Kleidung, die ein Junge trägt, sondern die Art, wie er sie trägt. Es sind die Sportarten, die er beherrscht. Wenn das Portrait des Gründers der Apotheke im Büro, das von einer Putzfrau sauber gehalten wird, auf den jetzigen Besitzer herabschaut, so ist der Habitus deren beider Kinder, ihr Denken, ihr Lebensgefühl ganz unterschiedlich.
Bestimmte Jungen besitzen eine "ererbte" Gelassenheit, eine angeborene freundliche Gewissheit, dass ihr Platz in der Welt schon reserviert ist.
Merkwürdigerweise wird auf diesen Punkt in pädagogischen Untersuchungen selten eingegangen; die Effekte lassen sich auch nicht messen.
Auch Heinz Bude (2011) beschäftigt sich mit diesem Themenfeld. Er legt dar, dass selbst ein „Aufstieg“ nur ein Teilerfolg ist. Die Aufsteiger haben etwas aus sich gemacht, weil sie sich den Regeln und Gesetzen "der Löwen" unterworfen haben. "Die Füchse" (Arbeiter-, Migrantenkinder) sind zu Löwen geworden. Sie haben mit dem Habituswandel einen Teil ihrer Identität aufgegeben.
Grund 3. Arbeitsplatz und Hilfen
Hier geht es nicht um direkte, punktuelle Hilfen bei Hausaufgaben, sondern um die Atmosphäre und einen ungestörten Arbeitsplatz.
Eine Büchersammlung, ein Abonnement einer Tageszeitung, Besuche von Museen, Ausstellungen, Konzerten und Opernaufführungen, selbst geplante Reisen (statt „all inclusive“ Urlaub), eine Familientradition mit einer Kommunikation auch über Briefe sind ein Umfeld, das anregt offen zu sein und bietet Hilfe bei der Beurteilung von Fernsehsendungen mit C- und D-Promis.
Manche Kinder haben schon frühzeitig die Möglichkeit, ein Musikinstrument zu erlernen.
Nicht alle Wohnverhältnisse erlauben es, dass dem Kind eine eigenes Zimmer mit einem eigenen Arbeitsplatz zur Verfügung steht.
Zeigen die Eltern Interesse an den Lernfortschritten in den einzelnen Fächern (keine Kontrolle) und regen das Erstellen von Zeit- und Arbeitsplänen an, geben Hinweise auf Nachschlagemöglichkeiten oder schlagen Lösungswege oder Strategien vor, so sind das hoch einzuschätzende indirekte Hilfen.
Wichtig ist auch, dass so zum Ausdruck kommt, dass man die geistige Arbeit und das Lesen von Büchern schätzt und als Leistung ansieht.
Manchmal können auch direkte Hilfen nötig sein, wenn Verständnisschwierigkeiten vorliegen, weil das Kind nicht gut aufgepasst hat oder die Lehrkraft nur schlecht erklären kann. Es kann auch nötig sein, Unterrichtsstoffe, die an oder unter der Grenze zur Trivialität liegen, zu ergänzen oder darauf hinzuweisen, dass das noch nicht „alles“ ist.
Und dann sind da noch die Millionen, die jedes Jahr für Nachhilfe ausgegeben werden, ohne dass sich die Schule als ganzes oder einzelne (Mathematik-) Lehrkräfte schämen.
Während die einen in der Freizeit in Einkaufszentren herumhängen, haben die anderen einen durchorganisierten Wochenplan mit der Mutter als Taxifahrerin.
Grund 4. Sprache
Die Sprache spielt in der Schule die Hauptrolle; vom Sprachvermögen hängt alles ab. Die Meinungen der Eltern aus der Unterschicht interessieren die Gesellschaft kaum und sie selbst melden sich selten zu Wort („die schweigende Mehrheit“). Die Gesellschaft ist dann bei Demonstrationen (Pegida) und Gewalttaten (Fanal von Tröglitz) völlig überrascht.
Den Kindern „sprachloser“ Eltern fehlt nicht nur das Vorbild, sondern sie werden auch weniger in Gespräche einbezogen, erhalten deutlich mehr Ermahnungen als Ermutigungen. Nach Susanne Gaschke geben erste Untersuchungen Hinweise, dass sich die „Wortlosigkeit“ auf die kognitiven Fähigkeiten der Kinder auswirkt.
Ergänzt wird dieses Bild durch einen Bericht von Martin Spiewak: Eine amerikanische Studie (The Early Catastrophe) zeigte, dass umsorgte Kinder wohlhabender Eltern in den ersten drei(!) Lebensjahren 30 Millionen Wörter mehr hören als Kinder mit Eltern aus einfachen Milieus.
Es wäre eine der wichtigsten Aufgaben der Schule, dieser Ungleichheit entgegen zu arbeiten.
Das Gegenteil ist der Fall! Aus kurzsichtiger Bequemlichkeit (für alle Seiten) nimmt man langfristige gravierende Nachteile für ganze Schülergenerationen und Bevölkerungsteile in Kauf. Gemeint ist der Verzicht auf die Einhaltung von Rechtschreibregeln in den ersten Grundschulklassen, der Gebrauch von "klassik-light" Lektüren, die Verklärung von z.B. "Kiezdeutsch", die Hinnahme von Jugendsprache, Facebook - Gestammel und SMS - Abkürzungen, die Überführung von Alltagssprache(!) in "Leichte Sprache" mit dümmlichen Bildchen durch Behörden. - Dadurch bleiben viele Menschen - die, die man angeblich fördern will - auf ihr einfaches Sprachniveau beschränkt und sind dadurch von vielen Diskussionen über komplexere Themen ausgeschlossen. Verstehen, Wissen, Argumentieren entfallen. Anregungen und Ansporn bleiben aus.
Die Folge ist "Nudging" - das Gegenteil von Aufklärung. Wenn es um Geld geht, versuchen Politiker die Bürgerinnen und Bürger, die sie vorher dumm gehalten haben, in die aus ihrer Sicht gewünschte Richtung zu "stupsen". Man setzt nicht auf Einsicht, sondern versucht menschliche Schwächen auszunutzen. Auch Versicherungen versuchen immer häufiger zu entscheiden, was für uns gut und gesund ist; aus Datensammlungen bewerten sie das Verhalten nach ihren Kriterien und setzen Anreize, damit wir unser Leben ändern.
Da sich die negativen Folgen erst später einstellen und wir in einer komplexen Welt leben, haben die eigentlich Verantwortlichen immer Ausreden zur Hand. Wenn Lehrkräfte versagen, weisen sie die Schuld am Unwissen den "dummen" Schülerinnen und Schülern zu; wenn Pädagogen versagen, ist es die Gesellschaft, die Fehler gemacht hat. Der / die Dumme ist in beiden Fällen das Individuum, das fahrlässig um Chancen gebracht wurde.
Unter diesen Bedingungen ist es schwierig, die Leistungen von Autoren zu schätzen und zu beurteilen: Sprachkunst, literarische Gestalt, Inhalte, geistige Debatten, ... Es fehlen häufig der Wortschatz und die Fähigkeit sich differenziert auszudrücken.
Falls man die Fähigkeiten der Leute nicht gering schätzte und selbst einen etwas größeren Überblick hätte, könnte man den "einfachen" Menschen tatsächlich helfen - nicht nur durch eine simple Anweisung für den gerade aktuellen Fall, sondern auch für zukünftige Fälle. Nötig wäre eine Einheit von Wort und Bild, bei der das Bild eine Funktion hat.
Ansätze bieten: Comics, Piktogramme, Infografiken (Otto Neurath), Bildwörterbücher (z.B. PONS Das große Bildwörterbuch) oder "Der Dinge-Erklärer" von Randall Munroe, der sich bewusst auf die 1000 am meisten verwendeten Wörter beschränkt und dadurch kreativ und anregend ist.
Sprache und Rechtschreibung spielen immer dann eine Rolle, wenn es ernst wird (Verträge, Bachelorarbeit, Bewerbungsschreiben, Vorschläge auf Konzernplattformen, ...).
Ein großer Wortschatz hilft, prägnant und passend zu formulieren. Sprache ist ein Erfolgsfaktor.
Sprache hat eine sozialisierende und individualisierende Energie.
Grund 5. Bücher - Bilderflut gegen Schriftwelt
Dag Solstad schildert in seinem Roman die Reaktion einer Schulklasse auf eine, wie ihr Norwegischlehrer Elias Rukla meint, originelle Sichtweise auf eine Nebenfigur in Ibsens Schauspiel "Die Wildente". Lehrer Rukla ist von seinem Geistesblitz begeistert - die Schüler langweilen sich und bringen es durch gekränkte Mienen zum Ausdruck. Es herrscht eine "strukturelle Feindseligkeit" gegen ihn und alles wofür er steht.
Es wird deutlich, dass sich hier zwei „Welten“ gegenüber stehen. Der Lehrer, der seine neue Sicht aus der Perspektive einer Nebenfigur vermitteln will und die Schüler, die für die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe keinen Bedarf mehr haben.
Die Szene ist überzogen dargestellt und zeigt aber besonders deutlich das Grundproblem der heutigen Schule:
BÜCHER, BÜCHER, BÜCHER, BÜCHER, BÜCHER, BÜCHER, ...
Der kollektive Kern unserer Kultur ist eine Schriftwelt, die noch immer expandiert. Daneben gibt es die Computer- und Internetwelten, die in der Schulpraxis noch eine Nebenrolle spielen.
Die Lehrer leben in der Welt der Bibliotheken und kommunizieren (auch) über Briefe; die Schüler leben in den Fernsehwelten und Internetwelten und kommunizieren über das Smartphone. Sind die Fernsehwelten schon irreal, so werden sie von den virtuellen Spielewelten noch übertroffen. Nun ist „Bücher lesen“ genau wie „Rotwein trinken“ nicht ein Merkmal eines Menschen, sondern beides steht für eine Kombination von Eigenschaften - eben eine ganze Welt mit besonderen Ansichten. Aus dieser Lebenswelt mit besonderen Ansichten ergeben sich auch die Aussichten.
Viele Eltern und Jugendliche verkennen die Bedeutung von Büchern. Wenn die Familie bei Wissens- und Wertevermittlungen - aus welchen Gründen auch immer - nicht helfen kann, dann bleiben nur noch Bücher - und zwar viele. Grundwissen und Grundwerte lassen sich kaum aus dem Internet gewinnen, sondern nur durch eine Menge an Büchern. Die einzige Chance, die besteht, wird noch nicht einmal erkannt.
Grund 6. Bildungspläne und Stundentafeln
Denkt man an die Bildungsdefinition, die auch „die Lesbarkeit der Welt“ umfasst, und sieht sich die folgenden Stundentafeln an, so wundert man sich. Auf die „schiefe“ Weltsicht soll hier aber nicht eingegangen werden, sondern dargelegt werden, wie sich aus diesen Stundentafeln eine starke Benachteiligung der Kinder der „Unterschicht“ ergibt. In den Klassen 1 bis 4 sollen Grundlagen gelegt und Neugierde und Interesse geweckt werden. Die Klassen 5 und 6 als Startklassen entscheiden oft den weiteren Werdegang.
Die Analyse der Stundentafeln zeigt, dass Schule nicht auf die Zukunft, sondern auf eine vergangene Welt vorbereitet.
Die Zusammenfassung von Fächergruppen verdeutlicht die Schwerpunkte:
Die 50% Hauptfächer unter Betonung der Sprachen.
Fasst man Sprachen und musische Fächer zusammen, erhält man über 50%.
Alle Naturwissenschaften erreichen zusammen 15%.
Zur Klärung von Problemen und Schwierigkeiten steht 1 Stunde zur Verfügung.
Die Welt ändert sich rasant und in den alten Bundesländern ist alles beim Alten geblieben - die Schwerpunkte der Stundentafeln haben sich seit der Gründung der Bundesrepublik nicht geändert - keine Anpassung, kein Wandel, nur Jammern.
Aus dieser Schieflage folgen automatisch die zwei bekannten Probleme: Desinteresse an Mathematik und Naturwissenschaften und geringe Chancengleichheit.
Die Rechnungen verdeutlichen, dass fleißige Kinder, die in der Lage sind, einen Arbeitsplan aufzustellen und einzuhalten und einen Ort haben, an dem sie in Ruhe arbeiten können, sehr große Vorteile haben. Auf sie („die fleißigen Mädchen“) sind die Stundentafeln zugeschnitten. Ein zweites Feld, das anderen Kindern Chancen bietet, gibt es nicht.
Ziel sind die Kinder mit den „richtigen“ Eltern. Die Bereicherungen, die diese Kinder in der Familie erfahren haben, sind in einem Massenbetrieb durch „Fremde“ nicht auszugleichen oder gar nachzuholen. - Man muss aber Schule auch nicht so konstruieren, dass nur sie einen Vorteil haben. Neben diesem sprachlich-musischen Themenfeld muss ein zweites gleichgewichtiges Feld, das die reale Welt erklärt, eingerichtet werden.
Es gäbe damit ein zweites Feld, das die Bildung vervollständigt und das gleichzeitig zusätzliche Chancen eröffnet.
Kinder, die in einer bücherfreien Familie aufgewachsen sind und deren Eltern weniger Zeit zur Betreuung haben, sind oft technisch-naturwissenschaftlich interessiert. Falls das Interesse nicht da ist, lässt es sich aber wecken. Auf diesem Gebiet haben alle Kinder in unserer „merkwürdigen“ Gesellschaft die gleichen Voraussetzungen, nämlich keine. Dieses Gebiet ist, weil die Gesellschaft und die Politiker naturwissenschaftlich ungebildet sind, nicht „gymnasial“ und nur mit 15% vertreten. Um das zu verdecken, wird Mathematik zu den Naturwissenschaften gerechnet. Das ist unberechtigt und zeigt nur wieder die Unwissenheit. Glaubt man auch nur die Hälfte der Ergebnisse der Untersuchungen zum Mathematikunterricht, so ist klar, dass Unterricht mit diesen Inhalten und in dieser Form nur für wenige ein Chancen- und Ausgleichsfeld sein kann.
Die angesprochenen Probleme sind einmal der Grund für das unzureichende naturwissenschaftliche Grundwissen der Gesellschaft und aber auch der Grund, warum sich für nicht sprachlich-musisch interessierte Kinder kein anderes Chancenfeld eröffnet. Während das sprachliche Feld durch 2., 3. und 4. Fremdsprache, Austauschfahrten, bilingualen Unterricht usw. verstärkt und ausgebaut wird, bleiben die Naturwissenschaften Ruinen, die auf ein paar Unterrichtsstunden beschränkt sind.
Nun noch ein Gesichtspunkt, der bei der Abschaffung von Latein als Angebot kaum bedacht wurde. Es wird immer nur der „Bildungswert“ betont - dass Latein aber eine Fremdsprache ist, die naturwissenschaftlich interessierten Schülern besonders entgegenkommt und ihnen Chancen bietet, wird übersehen.
Wer sich über die Stundentafeln wundert und sie für überholt hält, der sollte sich einmal mit den Inhalten (Bildungsstandards) beschäftigen! Sie sind haarsträubend. Aber in Deutschland findet keine Diskussion über Ziele und Inhalte der einzelnen Fächer statt. Dabei sollte das Lesen eines Fachplans den Bürgern leicht fallen und sie natürlich auch interessieren, weil es um ihre Kinder geht und weil sie - der mündige Bürger - ja das inhaltliche Ziel sind.
Stattdessen geht es um Akademikerzahlen, schichtentypische Ungleichheiten der Bildungschancen, G8, G9, Ganztagsschule, Computerausstattung ...
In Diskussionen, in den Medien geht es nie um Inhalte, sondern immer nur um Äußerlichkeiten. Eine Diskussion, wie sie in der Schweiz über den "Lehrplan 21" stattgefunden hat, scheint die deutschen Medien und die Gesellschaft zu überfordern.
Man bedenke: „schlechte“ Schule trifft nicht alle gleichermaßen.
Grund 7: Rückhalt und Geborgenheit - Unterstützung durch die Eltern
Nur Kinder und Jugendliche, die in der Familie geborgen sind und von ihr vielseitig unterstützt werden, können selbstsicher werden. Das fängt schon in den ersten beiden Lebensjahren an, wenn das Kind eine liebevolle Bindung zu Bezugspersonen aufbauen kann. Ab dem dritten Lebensjahr muss es dann konsequent angehalten werden, die Perspektive anderer Personen zu berücksichtigen und Wünsche zurück zu stellen. Immer muss ihm aber vermittelt werden, dass es geliebt und geschätzt wird. Bindung vor Bildung!
Geht man davon aus, dass der Schulerfolg von Schule / Lehrkräften, dem Kind und seinem Elternhaus abhängt, so hat man bisher immer wieder versucht, das Gesamtergebnis allein durch Veränderungen an der Schule / der Schulform zu erreichen. Die folgenden Überlegungen sollen verdeutlichen, dass auf den beiden anderen Feldern ein großes Potential brach liegt, während weitere Bemühungen der Schule nur noch geringe Effekte versprechen.
Angewandte Biologie im Gartenbaubetrieb:
Auf der x1 – Achse wird die Lichtstärke (= Kosten) in einem Gewächshaus abgetragen und auf der y – Achse das Pflanzenwachstum (Fotosyntheseaktivität = Gewinn). Mit steigender Lichtintensität wachsen die Pflanzen stärker – der Gewinn steigt.
Ab einem gewissen Punkt muss man die Kosten aber unverhältnismäßig stark steigern, um auch nur einen kleinen Zuwachs zu erreichen.
Ökonomischer ist es, den Lichtwert konstant zu halten und die Temperatur (x2 – Achse) zu erhöhen. Jetzt wird mit geringerem Einsatz eine starke Erhöhung erreicht.
Wird auch hier eine weitere Steigerung unrentabel, so kann man die Temperatur konstant halten und den CO2 – Gehalt (mit Hilfe der Abgase der Heizung, x3 – Achse) erhöhen.
Bezug zur Schule
In diesem Fall sollen auf der x1 – Achse die Anstrengungen der Schule / der Lehrkräfte abgetragen werden und auf der y – Achse der Lernerfolg des Schülers / der Schülerin. Auf der x2 – Achse werden der Einsatz des Jugendlichen und auf der x3 – Achse die Förderung durch die Familie abgetragen.
Durch die vielen Veränderungen der letzten Zeit an Schule und Unterricht sind immer nur minimale Erfolge (wenn überhaupt) erzielt worden. Die Erklärung könnte ganz einfach sein – wir sind bei „der blauen Kurve“ (=Schule) in dem Sättigungsbereich und mit weiteren Anstrengungen erreicht man nur noch kaum messbare Fortschritte. D.h. jetzt müsste man prüfen, in welchem Bereich der Bemühungen sich die der Jugendlichen und deren Familien bewegen.
Für manche Familien wäre eine Beratung hilfreich. Zum Glück gibt es immer wieder Initiativen; sie werden aber zu wenig gefördert und hängen oft von Einzelnen ab.
Beispiele
Im Kindergarten ist einmal die Woche Muttertag - NZZ vom 30.07.2008
Um den vielen fremdsprachigen Kindern in Dübendorf einen besseren Start in die Schule zu ermöglichen, lanciert die Schulgemeinde einen Versuch mit Deutschkursen für Mütter und Kinder im Kindergarten. Mütter sollen vor allem lernen, ihren Kindern zu helfen.
Ohne die Eltern geht es nicht - FAZ vom 30.07.2008
Eine private Tagesstätte in Berlin-Schöneberg bereitet ausländische Kinder auf die Grundschule vor. ... Gravierend ist, dass in den meisten Familien überhaupt nur sehr wenig gesprochen wird, weder auf Deutsch noch in einer anderen Sprache. ... Kinder, die die Muttersprache schlecht beherrschen, tun sich schwer, eine Zweitsprache zu lernen (doppelte Halbsprachigkeit).
Es geht um eine Viertelstunde am Tag - FAZ vom 04.09.2011
Erst lernen die Eltern, dann die Kinder - damit dieses System klappt, kommen Hausbesucherinnen, Laien-Heferinnen, die mit den Müttern die Lektionen pauken. Die Helferinnen haben selbst Kinder und stammen aus dem gleichen Kulturkreis wie die Frauen, die sie unterrichten.
Projekt „Opstapje“ - FAZ vom 18.02.2013
Özlem H. bekommt Besuch von einer Mitarbeiterin des Programms „Opstapje“ (Schritt für Schritt). Als das erste Kind geboren wurde, sprach sie kaum Deutsch. Das hat sich geändert. Von der Förderung der Kinder profitieren auch die Eltern.
Besser in die Schulzeit starten - NZZ vom 23.03.2015
Ein neuartiges Caritas-Projekt soll bildungsferne Eltern befähigen, die Schullaufbahn ihrer Kinder zu begleiten. Bildungschancen im hiesigen Schulsystem sind stark durch die soziale Herkunft bestimmt. Deshalb will Caritas Zürich mit freiwilligen ‚Copiloten‘ benachteiligte Familien im ersten Schuljahr ihrer Kinder unterstützen.
Damit nicht die Herkunft seinen Weg bestimmt - Die Zeit vom 28.05.2015
Die Familienbesucherinnen überreichen das Begrüßungspaket mit dem schriftlichen Gruß des Bürgermeisters, versorgen die Eltern mit Informationen, wie sich ein Säugling im ersten Lebensjahr entwickeln sollte- und was man tun kann, um das Kind in dieser Frühphase zu fördern. ...
Ungesunde Armut: „Die Benachteiligung beginnt schon in der Schwangerschaft.“
Christoph Bührer, der Chefarzt der Säuglingsstation der Berliner Charité, hat beobachtet, dass fast alle Frühchen auf der Station aus bescheidenen Verhältnissen stammen. Ihre Mütter haben früh die Schule verlassen, leben in kleinen Wohnungen und beziehen Hartz IV. Es wird vermutet, dass eine Mischung aus Ahnungslosigkeit, Geldsorgen und gesundheitsschädlichem Verhalten die Frühgeburten mit verursacht.
Während die meisten anderen Schulkinder ein tadellos gepflegtes Gebiss haben, sind bei Kindern aus der Unterschicht die Zähne schlechter denn je - es gibt eine „Kariespolarisation“.
Im Laufe des Lebens summieren sich die Nachteile - Die durchschnittliche Lebenserwartung hängt von dem Einkommen ab. Bei Männern beträgt der Unterschied zwischen oberer und unterer Einkommensgruppe 10,8 Jahre. Bei Frauen sind es 8,4 Jahre.
Ann-Katrin Müller, Alexander Neubacher
Das „vietnamesische Paradoxon“ zeigt, dass hier Ressourcen ungenutzt bleiben. Vietnamesische Kinder erreichen bei vergleichbaren (schlechten) sozialen Voraussetzungen, nicht nur bessere Noten als türkische, sondern auch als deutsche Kinder - und zwar im Fach Deutsch.
Gerald Wagner
Da die Hypothesen zu eingeschränkt waren und auch handwerkliche Fehler gemacht wurden, konnte man die komplexen Gründe nicht aufklären. Am Ende gibt es einige zaghafte Überlegungen, dass der Erfolg mit dem „Erziehungsstil“ vietnamesischer Familien zusammenhängen könnte. Es wäre natürlich peinlich, wenn vietnamesische Eltern nicht nur gute, sondern auch erfolgreichere Pädagogen wären. Am Ende könnte etwas, das politisch nicht korrekt ist, übernommen werden, weil es zum Ziel führt.
‚Der dänische Experte Jesper Juul hat ein klares Konzept: Es ist das magische Wort “Nein”.
Eltern müssen unterscheiden lernen zwischen dem, was sich Kinder wünschen und dem, was sie wirklich brauchen. Wünsche wissen Kinder zu äußern, Bedürfnisse jedoch nicht. Eines der wichtigsten Bedürfnisse von Kindern sind klare Eltern, an denen sie sich orientieren können.‘
Silke R. Plagge
Grund 8. Motivation und Selbstbild
(Leistungsbereitschaft, Gewaltbereitschaft)
Der Schulerfolg hängt von der Schule und den Lehrkräften und von dem Schüler und seiner Familie ab. Bei ungenügenden Leistungen würde das bedeuten, dass die Schule die Motivation und das Leistungsvermögen der Kinder falsch einschätzt und sie nicht ausreichend fördert oder zum anderen kann es sein, dass das Leistungsvermögen des Kindes gering ist oder die Familie es ungenügend auf den Schulbesuch vorbereitet hat und wenig fördern kann.
Diese Frage versucht Heinz Bude (2008) in „Die Ausgeschlossenen“ für Hauptschüler zu beantworten. Das Buch hat den deprimierenden Untertitel „Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“.
Er beschreibt zwei Schichten der Bevölkerung mit ganz unterschiedlichen Kulturen:
Nach seinen Untersuchungen ist die Mittelschicht auf Bildung und Selbstverwirklichung fixiert und ist durch Kommunikation zu Kompromissen fähig. Autonomie wird angestrebt.
Er diagnostiziert eine Unterschicht mit einer anderen Kultur: Cleverness, Vermeidung von Schwierigkeiten, Durchwursteln, autoritätsgläubig und furchtlose Härte bei Auseinandersetzungen.
Das Buch beeindruckt und deprimiert. Beeindruckt durch „Aha-Effekte“ an vielen Stellen, die Schlaglichter auf Szenen des Schulalltags werfen; deprimiert wegen der angenommen Ausweglosigkeit der Situation.
Es kann aber noch schlimmer kommen: Clemens Meyer: „Als wir träumten“. Liest man diesen Roman, so ist man erschüttert und man kann sich nicht vorstellen, wie man die geschilderten Jugendlichen erreichen könnte.
Diese Bilder sollen durch die Ergebnisse zweier Untersuchungen ergänzt werden.
Heinz-Elmar Tenorth
Der Skandal, der nicht publiziert wurde
Die Pisa-Studien von 2006 haben eine Gruppe von Lernenden - sie wurden als Risikogruppen bezeichnet - identifiziert, die in den Kernkompetenzen (Lesefähigkeit und Mathematik) allenfalls eine Kompetenz der Stufe I und darunter erreichen. Das ist Grundschulniveau und befähigt nicht für eine berufliche Ausbildung oder einer verständigen Teilhabe an Gesellschaft und Kultur.
Das sind Beschreibungen von Verteilungen, die sehr zu denken geben. Sie sind das Ergebnis einer neunjährigen Beschulung, die nicht einmal die grundlegenden Basiskompetenzen zuverlässig durch schulische Arbeit vermittelt hat.
Etwa 20% eines Jahrgangs werden so zu „Ausgeschlossenen“.
Diese Statistik zeigt, dass neben den leistungsstarken auch ein großer Teil der mittelmäßigen Schüler in Deutschland eine Studienberechtigung erlangt. Auch diese Zahlen sind eine Beschreibung und keine Analyse - aber trotzdem neigt man zu Interpretationen.
Bernd Kramer berichtet in Spiegel - Online über einen OECD-Vergleich, der für Deutschland feststellt, dass 59% der jungen Erwachsenen in Deutschland ein Studium beginnen, aber nur 39% einen Abschluss machen.
Es stehen sich zwei Meinungen gegenüber:
„Die Erwartung wäre verfehlt, jeder junge Mensch müsste exakt die gleichen Chancen haben. Es geht um die Förderung aller je nach ihren mitgebrachten Fähigkeiten. Manche brauchen ersichtlich besondere Förderung.“
Udo Di Fabio
Der andere Pol: Der auf Individuen zugeschnittenen Förderung wird eine kollektive Egalisierung durch Bildung gegenüber gestellt. Eine Schule für alle!
Das Problem liegt in der Interpretation von "Gleichheit". Als Menschenrecht bedeutet sie Gleichheit vor dem Gesetz, der politischen Gewichtung und Gleichberechtigung der Geschlechter und Chancengleichheit. Dem stehen Ungleichheiten der kognitiven Fähigkeiten, des sozialen Hintergrundes und des Sozialverhaltens, der Neugierde, des Ehrgeizes usw. gegenüber.
Da Lernen ein aktiver Prozess ist, sind Motivation, Aufgeschlossenheit, Ansprechbarkeit, Fleiß, Ausdauer, ... und intellektuelle Unterschiede für die Schulleistungen von großer Bedeutung. Will man diese Unterschiede weitgehend einebnen, muss man den Unterricht trivialisieren. Aber wie weit?
Dabei vergisst man oft die Verantwortung für alle Schülerinnen und Schüler. Für die Spitzengruppe, die trotz Schule gut ist, gibt es Begabtenförderung, für Jugendliche mit Schulproblemen gibt es ein großes Feld der Förderangebote. Unberücksichtigt bleibt das Mittelfeld. Diese Mehrheit der Kinder wird vergessen, sie werden nicht gefördert. Sie könnten durch anspruchsvollen Unterricht mit vielen geeigneten Hilfen angespornt und dabei unterstützt werden, besseres Wissen und bessere Noten zu erreichen.
Die Entscheidung ist nicht durch Schlagworte in Sonntagsreden herbeizuführen - mit Argumenten, die völlig an der Praxis vorbei gehen. Der zweite Lösungsweg, der im Moment angestrebt wird, ist für alle Beteiligten der einfachste. Die Gesellschaft schiebt alle Probleme, die sie nicht lösen kann, auf die Schule ab. Damit hat man ein gutes Gewissen und einen Sündenbock. - Was hilft das aber den oben aufgeführten 23% der Fünfzehnjährigen? Wird ihnen damit die „ersichtlich besondere Förderung“ gegeben? Sicher nicht! Gleichzeitig werden aber Denkverbote erlassen, die Alternativen verhindern.
Utopie: Eine Diskussion müsste auch Fakten berücksichtigen und die Teilnehmer müssten wenigstens ansatzweise in der Lage sein, sich in den Anderen hineinzuversetzen und am Ende müssten Kompromisse stehen.
Hier noch einige sehr heterogene Gesichtspunkte, die das Ausmaß veranschaulichen. Niemand kann behaupten, die Lösung wäre einfach!
Gesichtspunkt 1: Für den Bereich der Hauptschule gilt nach einer Analyse von Elisabeth Grünewald-Huber: Die durchschnittlich tieferen Leistungen der männlichen Jugendlichen haben viele Gründe: Unangepasstes Verhalten im Unterricht (traditionelle Rollenbilder überwiegen), geringere Lernmotivation, negative Einflüsse durch die Peergruppe verbunden mit einseitiger Freizeitgestaltung, schlechte oder fehlende Hausaufgaben.
Gesichtspunkt 2: Geld als Ziel und Mittel - Das Argument, das nicht genannt wird, ist das Geld. Alle sollen ein Abiturzeugnis erhalten und studieren, weil es sich finanziell rentiert. Die „große Kohle“ für alle. Nicht wissenswerte Inhalte und sachliches Interesse oder Möglichkeiten der Selbstverwirklichung usw. sollen erreicht werden, sondern Geld („... Geld, das nur noch um sich selbst kreist ...“). Wie erreicht man das mühelos und selbstverständlich? Mit Geld! - der Eltern oder aus dem Sozialhaushalt.
Der individuelle Eigennutz und der Materialismus sollen überwunden werden, aber auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ist er akzeptiert und wird angestrebt!
Gesichtspunkt 3: Wenn das Abiturzeugnis nicht nur gute Verdienstmöglichkeiten bieten soll, sondern auch noch einen weiteren Wert hat, dann muss man sich auch anstrengen und etwas leisten, um das Ziel zu erreichen. Es müssen Leistungsbereitschaft, Neugier, ein sich Einlassen auf Unterricht usw. vorhanden sein - denn Lernen ist ein aktiver Prozess.
Durch ein Absenken der Ansprüche kann man auch erreichen, dass die Abiturquote steigt und die Noten gut sind. Stellen wir uns vor: Was wäre erreicht, wenn tatsächlich alle ein gutes Abiturzeugnis hätten? Manche Fachbereiche der Universität sind nahe an diesem Ziel: Keiner fällt durch, alle sind mindestens „gut“.
Wenn man alles trivialisiert, kann es dazu führen, dass alle demotiviert sind: Die einen, weil sie es immer noch nicht können oder wollen, die anderen, weil sie „das“ nun wirklich nicht mehr interessiert.
Klebekompetenz für alle!
Gesichtspunkt 4 : Unversehrtheit von Familie und Kultur - Wenn Geld allein nicht die gewünschte Veränderung erreicht und das Abitur dem Einzelnen eine Gewinn an „Bildung“ ermöglichen soll, dann muss man sich an den Punkten 1 bis 8 abarbeiten. Das kann im Endeffekt dazu führen, dass man bevormundend in die Familie, die Lebensumstände, das kulturelle Verständnis usw. eingreift und der Abiturient bzw. die Abiturientin ein Fremdkörper in der Familie wird und seinen / ihren kulturellen Rückhalt verliert. - Also müssen wir auch noch die Familie ändern. Westliche Aufklärung für alle!
Gesichtspunkt 5 : - ... und der IQ? - Über den Intelligenz Quotienten spricht man nicht, obwohl die Unterschiede in den kognitiven Leistungen zu etwa 50% genetisch bedingt sind.
Ulrich Bahnsen und Martin Spiewak
Gesichtspunkt 6: Wie lange will man sich noch 16 Kultusministerien leisten, die abgehoben und praxisfremd Verordnungen erlassen - eine Veränderung jagt die andere.
Wann erkennt man, dass größere Schulen einem mittelständischen Betrieb entsprechen und effizient geführt werden sollten.
Untersuchungen von John Hattie - deren Ergebnisse in Deutschland politisch nicht korrekt sind - legen nahe, dass für den Lernerfolg die Lehrperson wichtig ist. In Deutschland sind Lehrer außerhalb jeder Einflussmöglichkeit; es gibt die gleiche Bezahlung für ganz heterogene Leistungen.
Da die Kultusministerien die Lehrkräfte im Stich lassen, sind die Lehrmittelverlage deren einzige Hilfe - und deren unsägliche Trivialisierung jedes Themas schlägt auf den Unterricht durch.
Gesichtspunkt 7 (nach Frank Schirrmacher): Geld - Hat die Bildung der Jugendlichen den gleichen Stellwert wie die Geldvernichtungsbank Hypo Real Estate?
Bildung: Es gibt eine hochprofitable Verdummungsindustrie. Warum gibt es nicht auch das Gegenteil?
Literatur
Bahnsen, Ulrich und Spiewak, Martin: „Mein IQ ist mir egal“, Die Zeit vom 03.06.2015
Bölling, Rainer: Viele Abiturienten mit weniger Bildung, FAZ vom 04.12.2014
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Di Fabio, Udo: Das bedrängte Drittel, FAZ vom 28.10.2006
Gaschke, Susanne: Die andere Armut, Welt am Sonntag vom 05.04.2015
Grünewald-Huber, Elisabeth: Erfolgreiche Mädchen, benachteiligte Buben?, NZZ vom 11.07.2011
Kramer, Bernd: http://www.spiegel.de/unispiegel/jobundberuf/oecd-studie-nur-wenige-studenten-halten-bis-zum-abschluss-durch-a-1064253.html
Lanz, Martin: Amerikas teuere Akademisierung, NZZ vom 26.03.2015
Meyer, Clemens: Als wir träumten; Frankfurt 2007
Müller, Ann-Katrin, Neubacher, Alexander: .. und raus / rauf bist du!, Der Spiegel vom 09.05.2015
Munroe, Randall: Der Dinge-Erklärer, München 2015
Neurath, Otto: From hieroglyphics to Isotype, London 2010
Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800 - 1866, München 1983
Plagge, Silke R.: Erziehung: Nein macht stark, http://www.liliput-lounge.de/themen/kinder-brauchen-ein-klares-nein/
PONS Das grosse Bildwörterbuch : Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch, Stuttgart 2011
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Solstad, Dag: Scham und Würde, Zürich 2007
Spiewak, Martin: Heimvorteil, Die Zeit vom 28.05.2015
Tenorth, Heinz-Elmar: Der Skandal, der nicht publiziert wurde, FAZ vom 16.12.2008
Wagner, Gerald: Das vietnamesische Paradoxon, FAS vom 24.01.2016