Читать книгу Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert - Ulrich H. J Körtner - Страница 10
Zwei Reformationen
ОглавлениеDie Einheit der Reformation besteht in der inneren Kohärenz der unterschiedlichen reformatorischen Bewegungen, jedoch nicht im Sinne von Einheitlichkeit und Gleichförmigkeit. Im Blick auf die Vielfalt der Reformationen, sind wir durchaus berechtigt, von Reformationen im Plural zu sprechen. So ist neben der lutherischen Reformation die reformierte Reformation in ihrer Eigenständigkeit zu würdigen. Außer durch Zwingli ist diese Reformation vor allem durch Johannes Calvin und Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger geprägt worden, zwischen denen eine enge Freundschaft und lebenslange Partnerschaft bestand. Sie reicht über den Consensus Tigurinus von 1549, die von Calvin und Bullinger geschlossene Übereinkunft in der Abendmahlsfrage, weit hinaus.
Calvin (1509–1564) und Bullinger (1504–1575) repräsentieren die zweite Generation der Reformation. Abgesehen von den Unterschieden, die zwischen den politischen und soziokulturellen Kontexten der Reformation in lutherischen Gebieten einerseits, der Schweiz und Frankreich andererseits bestehen, hat sich auch die kirchliche Situation inzwischen grundlegend geändert. Luther glaubte noch an die eine Kirche, die an Haupt und Gliedern reformiert werden sollte. Calvin und Bullinger wirken dagegen zu einer Zeit, in der sich der konfessionelle Gegensatz zwischen Reformation und römischer Kirche verfestigte. Für Calvin besteht jedoch schon die Trennung der wahren |17| katholischen Kirche von der römischen Kirche, die sich der Wahrheit des Evangeliums verschließt. Seine Ekklesiologie und seine praktischen Kirchenreformen, welche auf die äußere und innere Ordnung der Kirche größten Wert legen, gehen nicht mehr von der Voraussetzung aus, dass die katholische Kirche in absehbarer Zeit auf den Weg der Reformation einschwenken könnte, sondern stellt den fundamentalen, um nicht zu sagen kontradiktorischen theologischen Gegensatz in Rechnung, wie er durch das Rechtfertigungsdekret des Konzils zu Trient (1545–1563) markiert wird.
Calvin war der erste evangelische Theologe, der das 1546 verabschiedete tridentinische Rechtfertigungsdekret einer gründlichen Kritik unterzog.17 In seiner Streitschrift von 1547, die den Titel »Gegengift« trägt, bringt Calvin den Gegensatz und damit auch die durch Luther erstmals klar ausformulierte Rechtfertigungslehre auf den Punkt, nachdem sich zuvor das Tridentinum in seiner sechsten Sitzung 1546 ausdrücklich gegen Luthers Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben und Calvins Lehre von der Erwählungsgewissheit gewandt hatte. Für Luther bedeutet Glaube unbedingte Heilsgewissheit (certitudo), die freilich von jeder äußeren Sicherheit (securitas) zu unterscheiden ist. Nach Calvin gründet die Gewissheit des Glaubens in der bedingungslosen Gnadenwahl Gottes. Dagegen erklärt das Konzil zu Trient, niemand könne mit solcher Gewissheit (certitudo) des Glaubens wissen, dass er die Gnade Gottes erlangt habe.18 Es sei eine Irrlehre zu behaupten, »daß diejenigen, die wahrhaft gerechtfertigt wurden, völlig ohne jeden Zweifel bei sich selbst feststellen müßten, sie seien gerechtfertigt, und daß nur der von den Sünden losgesprochen und gerechtfertigt werde, der fest glaube, er sei losgesprochen und gerechtfertigt worden, und daß allein durch diesen Glauben [sola fide] die Lossprechung und Rechtfertigung vollendet werde«.19
Calvin kontert: »Die Zerstörung des Glaubens und die Aufhebung der Gewissheit ist ein und dasselbe.«20 Wenn die römische Kirche |18| lehrt, dass der Mensch erst dann gerechtfertigt wird, wenn er zum Gehorsam gegenüber Gott und zur Erfüllung seiner Gebote gebessert werde, würde die Argumentation des Apostels Paulus auf den Kopf gestellt. Dass Rechtfertigung und Heiligung zusammengehören, steht für Calvin außer Frage, beides ist aber nicht dasselbe.21 Und keinesfalls sei der Glaube im reformatorischen Sinne mit einer unangefochtenen Selbstsicherheit zu verwechseln. »Weit entfernt, daß für uns die Zuversicht des ewigen Lebens […] sicher und unerschütterlich feststeht.«22 Solange der Glaubende nur auf sich selbst schaut, kann es weder Gewissheit noch Sicherheit geben. Der Hauptpunkt der Kontroverse dreht sich um die Frage, auf welche Weise der Mensch vor Gott gerechtfertigt wird. Calvins Antwort lautet: »Gott ist uns deshalb gnädig, weil er mit uns durch den Tod Christi versöhnt ist. Wir werden deshalb vor ihm selbst als gerecht beurteilt, weil unsere Ungerechtigkeiten durch jenes Opfer gesühnt sind.«23 Der Grund der Rechtfertigung besteht einzig und allein in der freien und gnädigen Annahme durch Gott. Dieser Grund liegt außerhalb des glaubenden Menschen (extra nos): »weil wir allein in Christus (in solo Christo) gerecht sind«24. Es ist diese Bedingungslosigkeit der rechtfertigenden Gnade Gottes, die den Systembruch mit der katholischen Kirche und ihrer Lehre markiert.
Luthers Formeln »allein durch den Glauben«, »allein aus Gnaden«, »Christus allein«, »allein die Schrift« finden sich wörtlich bei Calvin wieder. Dennoch darf die reformierte Reformation nicht allein an ihrer Übereinstimmung mit Luther gemessen werden, wie es auch historisch nicht sachgemäß ist, »das Reformatorische auf die Rechtfertigungslehre und die daraus unmittelbar abgeleitete Kirchenkritik zu begrenzen«25. Sehr wohl aber kann man in der Rechtfertigungslehre »die impulsgebende Mitte der Reformation«26 finden. Das ist, wie Calvins Antwort auf das Tridentinum zeigt, keineswegs eine unhistorische Behauptung späterer Generationen, sondern entspricht zumindest Calvins eigenem Verständnis von Reformation und Gegenreformation.
|19| Kann und muss man von zwei Reformationen sprechen, so ist dagegen die Rede von einer »zweiten Reformation« irreführend, den Jürgen Moltmann unter irrtümlicher Bezugnahme auf eine Äußerung des Melanchthon-Schülers Christoph Pezels in die Forschung eingeführt hat.27 Wie Moltmann versteht auch Heinz Schilling unter zweiter Reformation die Ausbildung eines reformierten Bekenntnisses oder einer reformierten Landeskirche in vormals lutherischen Gebieten in Deutschland.28 Die durch Luther eingeleitete Entwicklung wäre demnach als »erste Reformation« zu verstehen, womit abermals einseitig historiographisch und systematisch die Normativität Luthers behauptet würde. Stattdessen spricht man heute neutral von »Konfessionalisierung« und unterscheidet eine reformierte von einer lutherischen und einer katholischen Konfessionalisierung.29
Bei allen theologischen Gemeinsamkeiten lassen sich doch auch zwischen Luther und Calvin als den Identifikationsfiguren der beiden Reformationen grundlegende Unterschiede ausmachen, die ihr Verhältnis zur Moderne betreffen. Diese Unterschiede gründen vor allem in der voneinander abweichenden religiösen Deutung der geschichtlichen Gegenwart. Luther verstand die Gegenwart als Endzeit. Ohne seine apokalyptisch gefärbte Naherwartung und den Realismus seiner Gerichtsvorstellung lässt sich seine Rechtfertigungslehre gar nicht angemessen begreifen. Mit dem Verblassen des eschatologischen Horizontes aber hängen, wie wir noch sehen werden, die zunehmenden Verständnisschwierigkeiten zusammen, mit denen die reformatorische Rechtfertigungslehre heute zu kämpfen hat. Ob Luther noch in das Spätmittelalter gehört, ob er den Anfang der Moderne markiert oder ob seine Theologie im Gegenteil eine vorweggenommene Kritik der Moderne formuliert, die in größerer Kontinuität zum vorreformatorischen Denken des Spätmittelalters als zum Erbe Luthers steht, ist eine Frage aus der Retrospektive, auf die wir später noch zurückkommen werden. Luther selbst lebte jedenfalls nicht am Vorabend der Moderne, sondern am Ende der Zeiten. Genau das unterscheidet ihn von Erasmus und Calvin.30
Für das Verhältnis von Reformation und Moderne ist auch die unterschiedliche Stellung von Luther und Calvin zur theologischen Tradition |20| bedeutsam. Im Spätmittelalter standen sich zwei theologische Richtungen gegenüber, die via antiqua und die via moderna. Während sich erstere maßgeblich an der Theologie des Thomas von Aquin (1225–1274) ausrichtete, folgte die via moderna der philosophischen und theologischen Richtung, die Wilhelm von Ockham (ca. 1285–1347) eingeschlagen hatte. Luther wurde während seiner theologischen Ausbildung durch die via moderna geprägt, die er durch seine Lehrer in Erfurt und die Lektüre der Werke Gabriel Biels (ca. 1413/14–1495) kennenlernte. In gewisser Weise verstand sich Luther sogar als Schüler Ockhams, wie er gelegentlich äußerte.31 Die geistesgeschichtlichen Wurzeln jener Epoche, die wir heute als Moderne bezeichnen, liegen jedoch keineswegs nur in der via moderna des Spätmittelalters, sondern mindestens ebenso in der via antiqua. Die reformierte Reformation und Calvin distanzierten sich niemals derart von der via antiqua, wie Luther es tat. Einer der Gründe besteht darin, dass der Reformator von Genf die gesamte Scholastik einschließlich der via moderna für viel zu überholt hielt, um von ihr noch irgendetwas retten zu wollen.32 Hinzu kommen die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexte, in denen sich Luther und Calvin bewegten. Die veränderten politischen und kirchlichen Verhältnisse nötigten Calvin dazu, seine theologischen Gedanken zu systematisieren, um der bedrängten reformatorischen Bewegung »unter dem Kreuz« eine feste Grundlage zu geben. Unter dem zunehmenden Druck des tridentinischen Katholizismus nahm die reformierte Theologie immer mehr die Gestalt eines festen Lehrsystems an. »So kam es, dass der Calvinismus eine präzise Zusammenfassung der Grundprinzipien der Heiligen Schrift durch ganz Europa bis zu den Ufern der Neuen Welt trug. Von nun an verwandelte der internationale Protestantismus Luthers Verteidigung des Katholizismus in ein entschieden antikatholisches Programm für das Leben und Denken.«33