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Einheit und Vielfalt der Reformation
ОглавлениеOb es die Reformation überhaupt gegeben hat oder ob es sich bei ihr lediglich um ein historiographisches Konstrukt späterer Generationen handelt, ist in den beiden letzten Jahrzehnten Gegenstand von kirchenhistorischen und theologischen Debatten geworden. Der Begriff des Reformatorischen bezeichnet eben nicht nur eine historische Epoche, sondern zugleich die aus ihr abgeleiteten theologischen Normen und identitätsstiftenden Grundüberzeugungen evangelischen Glaubens und evangelischer Kirchen.
Die neuere kirchengeschichtliche Forschung hat das Bild von der einen Reformation, die mit Luther ihren Anfang nahm und sich erst im weiteren Verlauf in verschiedene Richtungen aufspaltete, gründlich revidiert. So gewiss Luther die impulsgebende und zentrale Gestalt der Reformation in ihren Anfängen war, so wenig dürfen die Reformation und das Reformatorische auf Luther beschränkt werden. Zwar haben sich alle übrigen Reformatoren mehr oder weniger intensiv auf Luther und seine Rechtfertigungslehre bezogen, doch ist das einseitige Bild von der Reformation als Luther-Rezeption, das im Bann der durch den Kirchenhistoriker Karl Holl eingeleiteten Lutherrenaissance steht, in den vergangen Jahren zurechtgerückt worden. Weder Zwingli noch Johannes Calvin, der bedeutendste Reformator der zweiten Generation, lassen sich hinreichend als Schüler Luthers verstehen. Eine solche Sicht führt auch zu einer theologischen Verengung, wonach die Übereinstimmung mit Luther oder die Abweichung von ihm zum Maßstab des Reformatorischen erklärt wird. Abgesehen davon, dass Luther selbst eine theologische Entwicklung vollzogen hat, so dass schon die Frage entsteht, welcher Luther denn nun zur theologischen Norm erklärt werden soll – der frühe oder der späte –, und abgesehen davon, dass es innerhalb des Luthertums schon im 16. Jahrhundert über die authentische und rechtmäßige Gestalt lutherischer Lehre zu heftigen Auseinandersetzungen kam, führt eine Gleichsetzung von Luther und Reformation dazu, dass jede Abweichung von Luthers Denken negativ als Abfall vom normativen Ursprung, als Verfallsgeschichte oder als »Wildwuchs« apostrophiert wird. Zwingli |14| oder auch Calvin – um nur diese Reformatoren zu nennen – agierten nicht nur in einem anderen politischen Kontext als Luther und Melanchthon, sondern ihre Theologie folgte durchaus anderen Organisationsprinzipien als diejenige Luthers. Davon abgesehen, steht Luthers umfangreiches Werk, das praktisch ganz aus Gelegenheitsschriften besteht, die in ihrem jeweiligen historischen Kontext interpretiert werden müssen, auch systematisch-theologisch im Konflikt der Interpretationen und Auslegungsschulen. Der Kirchenhistoriker Volker Leppin spricht gar vom »Vexierbild«5 Luther und vertritt die These, dass die Zentralstellung der Rechtfertigungslehre bei Luther »einem Klärungsprozeß entsprang, der dem realhistorischen Geschehen der Reformation nicht vorausging, sondern ihn begleitete und verarbeitete«6.
Ob und inwiefern man in Anbetracht der Vielfalt reformatorischer Bewegungen überhaupt noch von der Reformation als einheitlicher Realität sprechen kann, mit der geschichtlich etwas Neues entstanden ist, wird heute unterschiedlich beantwortet. Auf der einen Seite steht die These, dass aus kirchenhistorischer Sicht nach wie vor auf dem epochalen Umbruchcharakter der Reformation und ihrer theologischen Einheit zu beharren ist. Wie schon Bernd Moeller sieht z. B. Thomas Kaufmann in Luther weiterhin die »Schlüsselfigur der reformatorischen Bewegung, sowohl im Hinblick auf ihre Kohärenz als auch in Bezug auf die Pluriformität ihrer Ausprägungen«7. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Moeller von der »Lutherischen Engführung« der frühen Reformation spricht.8 Die Gegenposition vertritt Dorothea Wendebourg. Ihrer Auffassung nach war es die Gegenreformation, d. h. der von außen kommende Druck auf die verschiedenen reformatorischen Bewegungen, welcher die Einheit der Reformation allererst schuf.9 Volker Leppin hat diese These dahingehend modifiziert, dass das Vorgehen Roms gegen die durchaus disparaten Bewegungen auf eine Gemeinsamkeit verweise, nämlich die Lehre vom allgemeinen Priestertum, also die Aufhebung der Unterscheidung von Klerikern und Laien, die für Luther mit der Rechtfertigungslehre |15| zusammenhing und in allen reformatorischen Bewegungen »systemsprengend« wirkte. Leppin zeichnet freilich das Bild eines langen kirchenhistorischen Prozesses, der schon im Mittelalter beginnt und erst in der Aufklärung seinen Gipfel erreicht. Obwohl er mit einem Begriff Bernd Hamms10 vom systemsprengenden Charakter der Lehre vom allgemeinen Priestertum und ihrer Verbindung von theologischem Denken und Umgestaltung von Kirche und Gesellschaft spricht, vermag er in der Reformation geschichtlich und theologisch keinen epochalen Umbruch zu erkennen.
Während Leppin die Reformation als kontinuierlichen Transformationsprozess beschreibt, interpretiert sie Hamm überzeugender mit Hilfe des Emergenzbegriffs. Auch Hamm rückt also von der traditionellen These von der Reformation als plötzlichem Umbruch ab, hält aber den Transformationsbegriff nicht für ausreichend, »um den systemsprengenden Innovationscharakter der Reformation insgesamt zu verstehen«11. Emergenz im Sinne Hamms bedeutet die »Verbindung von Kontinuität und qualitativem Sprung«12, der im Ergebnis doch zu Brüchen mit den bestehenden kirchlichen und theologischen Verhältnissen geführt hat, zum systemsprengenden Bruch nicht nur mit dem hierarchischen Prinzip in der Kirche und der Unterscheidung von Klerikern und Laien, sondern vor allem auch im Heilsverständnis und in der Rechtfertigungslehre.13 Verglichen mit der spätmittelalterlichen Barmherzigkeitstheologie, welche die Mitwirkung des Menschen an seinem Heil auf ein Minimum reduzierte, ist der Schritt zur Rechtfertigungslehre Luthers, wonach der Mensch rein gar nichts zu seinem Heil beisteuern kann, sondern allein aufgrund der göttlichen Gnade und allein aufgrund seines Glaubens an das ihn von seiner Sünde freisprechende Wort gerettet wird, einerseits »eine fast schon logische Fortsetzung« und andererseits doch »ein kontingenter qualitativer Sprung«14. Die Reformation bedeutet demnach nicht eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Gedanken der spätmittelalterlichen Theologie, sondern führt im Ergebnis durchaus zum Abbruch bisheriger Prozesse und zum Beginn von qualitativ neuen Entwicklungen. Der komplexe, systemtheoretisch begründete Emergenzbegriff Hamms, |16| der in sachlicher Nähe zu Modellen der Chaosforschung steht, stellt in Rechnung, dass man das Neue nicht ohne das Bisherige verstehen kann, betont aber, dass dies das Neue eben nicht lückenlos kausal ableiten lässt, weil das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, so dass man doch von einer überraschenden, sprunghaften Zäsur sprechen muss.15 Ähnlich argumentiert der Reformationshistoriker Heiko A. Oberman: Wer Luther ganz in der Kontinuität der franziskanisch-nominalistischen Theologie und ihrer Metaphysik verstehen wolle, werde der Innovationskraft des Wittenberger Reformators nicht gerecht. »Auf der Grundlage dieser Prämissen wird uns […] auch die intensivste Forschung keinerlei Erkenntnisse über Luthers Denken liefern.«16