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Reformatorisch – protestantisch – evangelisch
ОглавлениеFragen wir nach den bisherigen Ausführungen nochmals wie sich die Begriffe Reform und Reformation zueinander verhalten, so ist der |21| Unterschied zwischen beiden nach evangelischem Verständnis kein gradueller, sondern ein kategorialer. Die Zurückhaltung der Reformatoren gegenüber dem überkommenen Begriff Reformation erklärt sich daraus, dass er stets im Sinne einer von Menschen zu bewerkstelligenden Reform verstanden wurde. Ist aber die Kirche grundlegend eine Schöpfung des Wortes Gottes, so bezeichnet der Begriff Wort Gottes im reformatorischen Sinne nicht etwa nur die Norm, sondern die schöpferische Kraft, welche das eigentliche Subjekt jeder wahren Reform der Kirche ist. Reformation im evangelischen Sinne bezeichnet also eine Reform der Kirche, welche nicht als Werk des Menschen, sondern als Gabe des göttlichen Geistes, als Frucht des sich neu Gehör verschaffenden Wortes Gottes zu begreifen ist.
Reformatorisch in diesem Sinne ist, mit Bernd Hamm gesprochen, »was – im Hinblick auf die mittelalterliche Theologie – systemsprengend ist«34. Der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre«, die 1999 vom Lutherischen Weltbund und der römisch-katholischen Kirche unterzeichnet wurde, zum Trotz erweist sich die Rechtfertigungslehre aller bedeutenden Reformatoren bis heute als systemsprengend und auch hinsichtlich ihrer Konsequenzen für das Kirchen- und Amtsverständnis als nicht in den römischen Katholizismus integrierbar.
Von diesem qualifizierten Begriff des Reformatorischen aus bestimmt sich auch die Verwendung der Bezeichnung »reformiert« im evangelischen Kontext. Noch im Verlauf des 16. Jahrhunderts kam für die sich bildenden evangelischen Kirchen die Bezeichnung »reformatae nostrae ecclesiae« auf, wobei auf lutherischer Seite an das Augsburgische Bekenntnis als Maßstab gedacht war.35 Vertreter der Schweizerischen Reformation sprachen der lutherischen Kirche allerdings rundweg ab, wahrhaft reformiert zu sein, da sie noch Reste des Papsttums in sich duldete. Ihrem eigenen Selbstverständnis nach verlangten die Kirchen der reformierten Reformation im Vergleich zum Luthertum eine reformatio purior. Im französischen Sprachraum bezeichneten sich die Calvinisten als »Ceux de la Religion réformée« und wurden 1576 offiziell als »Religion prétendue réformée« anerkannt. Dieser Sprachgebrauch wurde von den deutschsprachigen Kirchen Zürcher und Genfer Prägung übernommen, wobei die Selbstbezeichnung |22| als »nach Gottes Wort reformiert« zum Ausdruck bringt, daß Gott selbst das eigentliche Subjekt der Reformation ist und bleibt.
Neben der Selbstbezeichnung »reformiert« führen aus der Reformation hervorgegangene Kirchen freilich auch die Bezeichnungen »evangelisch« oder »protestantisch«, wobei »protestant« oder »protestante« im englischen und französischen Sprachraum als Synonyme für »evangelisch« verwendet werden, da man unter »evangelical« zumeist nicht »evangelisch«, sondern »evangelikal« versteht.36 Als protestantische Kirchen bezeichnet man die Kirchen der Reformation oder die aus ihnen hervorgegangenen, aber auch die vorreformatorischen Kirchen der Waldenser oder der Hussiten, die sich später der Reformation angeschlossen haben. Die Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), ehemals Leuenberger Kirchengemeinschaft genannt, heißt im Englischen »Community of Protestant Churches in Europe«. Ihr gehören heute 105 protestantische Kirchen an, lutherische, reformierte, unierte und methodistische Kirchen, die Waldenserkirche in Italien sowie die Tschechoslowakische Hussitische Kirche.
Wer den Begriff des Protestantischen gebraucht, hat zu beachten, dass Protestantismus nicht einfach mit der Gesamtheit protestantischer Kirchen gleichzusetzen ist. Der Protestantismus als religiöse und kulturelle Größe reicht über die Grenzen bestehender Kirchen hinaus. Die Bezeichnung »Protestanten« für die Anhänger der Reformation geht auf die Protestation der evangelischen Stände vom 19. April 1529 auf dem 2. Reichstag zu Speyer zurück. Die katholischen Stände hatten sich auf ein tatkräftiges Vorgehen gegen die Evangelischen geeinigt und beschlossen die Aufhebung des die Durchführung der Reformation begünstigenden Speyrer Abschieds von 1526. Sechs Fürsten und vierzehn oberdeutsche Städte legten dagegen in einer feierlichen Protestation Widerspruch ein. Diese trug ihnen bei ihren katholischen Gegnern den Namen »Protestanten« ein.
Erst im 17. Jahrhundert wurde es üblich, in einem neutralen Sinne das reformatorische Christentum als »protestantische Religion« oder als »protestantische Kirche« zu bezeichnen. Im 18. Jahrhundert entstand schließlich der substantivische Begriff »Protestantismus«, der seine Bedeutung im Zusammenhang mit der sowohl von der Aufklärung (Rationalismus) als auch vom Pietismus an der sogenannten altprotestantischen Orthodoxie geübten Kritik gewann. Im Kontext des |23| Systemdenkens des deutschen Idealismus versuchte man, das Wesen des protestantischen bzw. evangelischen Christentums aus einem Prinzip zu erklären, worunter man vornehmlich die Freiheit des Gewissens bzw. der Gesinnung verstand (Johann Gottfried Herder, Georg Wilhelm Friedrich Hegel). Der Protestantismus als Ermöglichungsgrund der Freiheit konnte sowohl bürgerlich-liberal (»liberale Theologie«, Richard Rothe) als auch national-konservativ (Friedrich Julius Stahl) ausgelegt werden.
Friedrich Schleiermacher (1768–1834) versuchte, den Protestantismus inhaltlich näher zu bestimmen. Während der Katholizismus das Verhältnis des Einzelnen zu Christus von seinem Verhältnis zur Kirche abhängig mache, mache der Protestantismus umgekehrt das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche von seinem Christusverhältnis abhängig.37 Schleiermachers Schüler August Twesten, der Theologe Albrecht Ritschl und andere sprachen später von zwei Prinzipien des Protestantismus: Das reformatorische Schriftprinzip (»sola scriptura«) sei das Formalprinzip, die Lehre von der Rechtfertigung das Materialprinzip des Protestantismus. Beide zusammen kennzeichneten das Wesen protestantischer Freiheit.
Erst Ernst Troeltsch führte die Unterscheidung zwischen Alt- und Neuprotestantismus ein.38 Die Zäsur zwischen beiden markiert die europäische Aufklärung. Um den Neuprotestantismus näher zu charakterisieren, wird auch vom Kulturprotestantismus gesprochen. Damit ist gemeint, dass der Protestantismus ein grundsätzlich positives Verhältnis zur Moderne einnimmt und an der Gestaltung von Welt und Kultur mitarbeiten will, ja, letztlich davon überzeugt ist, dass zwischen Christentum und Moderne eine Synthese zu erzielen ist. Diesem Ziel wusste sich insbesondere der 1863 in Deutschland gegründete Protestantenverein verpflichtet.
Zu beachten ist freilich, dass es sich bei »Kulturprotestantismus« nicht um eine Selbstbezeichnung, sondern um einen Kampfbegriff aus dem Wortschatz der Dialektischen Theologie handelt, die nach dem Ersten Weltkrieg die Antithese zur liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts formulierte.39 Namentlich Karl Barth erneuerte den Begriff |24| »evangelisch« und grenzte ihn vom Begriff protestantisch ab, weil er die neuprotestantische Synthese von Christentum und Kultur einer grundsätzlichen theologischen Kritik unterzog.
Eine positive Deutung des Protestantismusbegriffs formulierte demgegenüber Paul Tillich. Er prägte die Formel von katholischer Substanz und protestantischem Prinzip.40 Kirche und Christentum benötigten beides. Das protestantische Prinzip, verstanden als das prophetische Element der Kirchengeschichte, das in der Reformation auf die Formel von der beständig zu reformierenden Kirche gebracht wurde (ecclesia reformata semper reformanda), dürfe nicht als Selbstzweck verstanden, sondern müsse komplementär zur katholischen Substanz begriffen werden, die ebenso wenig wie das protestantische Prinzip konfessionell begrenzt sei. Tillich unterschied auch zwischen protestantischem Prinzip, das letztlich in der Rechtfertigungslehre bestehe, und protestantischer Gestaltung oder Wirklichkeit.41 Tillich fragte so wieder nach einer Gestalt, d. h. einer geschichtlichen Lebensform evangelischen Glaubens.
Ob es eine protestantische Kultur im traditionellen Sinne noch gibt, ist in der gegenwärtigen theologischen und kulturwissenschaftlichen Diskussion umstritten. Schon Tillich hielt in einem Text aus dem Jahr 1937 das »Ende der protestantischen Ära« nicht für ausgeschlossen.42 Angesichts der gesamteuropäischen Entwicklung zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird heute intensiv über die europäische, religiöse, kulturelle und politische Zukunft des Protestantismus nachgedacht. Die Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) ist einer der Orte, an dem die Diskussion darüber geführt wird. Prominente Theologen wie Trutz Rendtorff, Friedrich Wilhelm Graf oder Wilhelm Gräb treten explizit für einen neuen Kulturprotestantismus ein, stoßen mit ihren Ansichten aber auch auf theologische Kritik.43 Rendtorff hat die Kirche als »Institution der Freiheit« definiert, welche das Fundament der modernen, pluralistischen Gesellschaft sei.44 Demgegenüber hat Jürgen Moltmann unter Aufnahme einer Wendung Hegels den Protestantismus als »Religion der Freiheit« interpretiert, die zum |25| Exodus aus bestehenden, lebensfeindlichen, gesellschaftlichen Strukturen führe.45
Zum Abschluss dieses Kapitels ist nun noch der Begriff des Reformatorischen zu demjenigen des Evangelischen ins Verhältnis zu setzen. Wie schon gesagt wurde, werden die Begriffe evangelisch und protestantisch häufig synonym verwendet, wogegen Karl Barth in seiner Auseinandersetzung mit dem Neuprotestantismus für eine theologische Unterscheidung plädiert hat: »Nicht alle ›protestantische‹ ist evangelische Theologie. Und es gibt evangelische Theologie auch im römischen, auch im östlich-orthodoxen Raum, auch in den Bereichen der vielen späteren Variationen und auch wohl Entartungen des reformatorischen Neuansatzes.«46
Evangelisch ist für Barth die inhaltliche Näherbestimmung dessen, was ökumenisch bzw. katholisch heißt. Ökumenisch bzw. katholisch ist eine evangeliumsgemäße |26| Theologie, wobei Barth zugleich auf den Unterschied zwischen der einen Theologie und den vielen Theologien, d. h. auf das Problem der Einheit und Pluralität christlicher Theologie aufmerksam macht. Als evangelisch bezeichnet Barth sachlich »die ›katholische‹, die ökumenische (um nicht zu sagen: die ›konziliare‹) Kontinuität und Einheit all der Theologie […], in der es inmitten des Vielerlei aller sonstigen Theologien und (ohne Werturteil festgestellt) verschieden von ihnen darum geht, den Gott des Evangeliums, d. h. den im Evangelium sich kundgebenden, für sich selbst zu den Menschen redenden, unter und an ihnen handelnden Gott auf dem durch ihn selbst gewiesenen Weg wahrzunehmen, zu verstehen, zur Sprache zu bringen.«47
In diesem Sinne lässt sich auch der Begriff des Reformatorischen inhaltlich weiter präzisieren. Reformatorische Theologie ist gleichbedeutend mit evangelischer Theologie, soweit und sofern mit evangelisch das Evangeliumsgemäße im Sinne der reformatorischen Rechtfertigungslehre gemeint ist. Auch wenn diese Theologie faktisch bis heute im Vergleich mit dem römischen Katholizismus systemsprengend wirkt, ist Evangeliumsgemäßheit doch das innere Kriterium guter Theologie, die sich auch in anderen konfessionellen Traditionen antreffen lässt. Evangeliumsgemäße Theologie ist so gesehen ökumenische Theologie, welche nach der Identität christlichen Glaubens in der Pluralität und den Gegensätzen der Kirchen und Konfessionen fragt. Wenn Evangeliumsgemäßheit als Sachkriterium reformatorischer Theologie bestimmt wird, bedeutet dies, dass alle sich reformatorisch, protestantisch oder evangelisch nennende Theologie stets darauf hin zu prüfen ist, ob und in wieweit sie diesem Kriterium entspricht. Reformatorische Theologie kann demnach nur als selbstkritische Theologie betrieben werden, die nicht schon durch den Ausweis historischer Kontinuitäten legitimiert ist, sondern sich durch alle neuzeitlichen Transformationsprozesse hindurch befragen lassen muss, inwieweit sie ihren Grund und Gegenstand trifft oder verfehlt.
Die Mitte reformatorischer Theologie, so sagten wir bereits, ist die reformatorische Rechtfertigungslehre, wobei in der bedingungslosen Vorgabe des Heils und damit in der klaren Unterscheidung zwischen dem empfangenden und dem tätigen Wesen des Glaubens bzw. zwischen Soteriologie und Ethik das spezifische Reformatorische jeder reformatorischen Rechtfertigungslehre besteht.48 Eine Bestandsaufnahme reformatorischer Theologie im 21. Jahrhundert hat darum mit einer zeitgemäßen Interpretation reformatorischer Rechtfertigungslehre zu beginnen.