Читать книгу Liebe deinen Esel, wie dich selbst - Ulrich Hilgenfeldt - Страница 5

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Kapitel 1

Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die Idee kam, mir dieses Buch zu kaufen. Wahrscheinlich war es mir zufällig in einer Radiosendung oder dem Feuilleton einer Zeitung begegnet. Auf jeden Fall kann ich mich daran erinnern, es in einem Heidelberger Buchladen erworben zu haben. Dieses Buch, Reise mit dem Esel durch die Cevennen von Robert Louis Stevenson, hat mich gefesselt und überrascht. Da macht sich ein Schotte Ende des 19. Jahrhunderts auf, um mit einem Esel die Cevennen von Nord nach Süd zu durchwandern.

Nachdem ich es mit Begeisterung gelesen hatte, schenkte ich es einem Freund und Kollegen bei einem Besuch in der Klinik, der gerade in der Heidelberger Chirurgie von dem berühmten Christian Herfarth an einem Darmkrebs operiert worden war. Das Ganze ist jetzt so um die 20 Jahre her. Der Freund erfreut sich heute wieder bester Gesundheit. Ob dieses Buch seine Lebensfreude so sehr beflügelt hat, und einen wesentlichen Teil zu seiner Genesung beigetragen hat, weiß ich nicht. Darüber haben wir nie mehr geredet. Unabhängig davon hat mich das Buch gedanklich über die Jahre so in seinen Bann geschlagen, dass ich es jetzt unbedingt wieder erwerben wollte. Heute ist das kein Problem. Man schaut ins Internet und kann jedes nur erdenkliche Werk erwerben. Ich habe dieses Buch tatsächlich auch gefunden und umgehend gekauft. Gleichzeitig aber stolperte ich bei meiner Internetsuche über Reiseberichte von Wanderern und Reiseanbietern, die genau das, eine Wanderung durch die Cevennen auf der Route von Stevenson, beschrieben bzw. anboten und ich gestehe, dass ich jetzt neugierig geworden war.

Es sollte eines von den Abenteuern werden, die einem nach einem Leben in geordneten Bahnen das Gefühl von Leben als Individuum wiedergeben. Geordnete Bahnen, das bedeutet, eine Familie zu gründen, Kinder groß zu ziehen, an seiner Karriere zu arbeiten, ein Haus zu bauen und sich viele Statussymbole leisten zu können. Dazu gehörten für mich auch die Sicherung der Existenz und das Bewusstsein, Verantwortung zu tragen, nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Frau an meiner Seite. Sie ist es, die mit Bienenfleiß ihren eigenen Beruf mit professioneller Einsatzfreude ausübt, um abends bei der Hausarbeit mit Wäschewaschen, die Betten neu beziehen und anschließend beim Bügeln vor dem Fernseher noch etwas in die Welt hinauszuschauen. Geordnete Bahnen bedeutete aber auch: Berufliche Zwänge, eine gehörige Portion Selbstdisziplin und Anspruch an die eigene Leistungsfähigkeit, so manche schlaflose Nacht, die man als Kopfarbeiter zur Lösung von wissenschaftlichen Problemen genutzt hat, häufig verbunden mit einem nachhaltigen Leidensdruck. Andererseits hatte ich daneben immer die Möglichkeit genutzt, auch einmal richtig faul zu sein. Ich habe immer auch ein Leben neben meinem Beruf und meiner Familie geführt, gewissermaßen ein Eigenleben. Dass ich das auch tatsächlich realisieren konnte, verdanke ich einer sehr klugen Frau, die instinktiv erkannt haben mag, dass ich neben dem Alltag einen ausgeprägten Freiheitsdrang besaß und immer noch besitze, was mich mit anderen Männern aus dem Sternzeichen „Wassermann“ verbindet, die interessanterweise den Großteil meiner Freunde stellen. Wassermänner, las ich einmal in einem Horoskop-Büchlein, sind die letzten Partisanen im Kampf gegen die Amazonen. Diese heißen heute Emanzen und im Gegensatz zu ihren antiken Vorbildern müssen sie sich nicht mehr die eine Brust amputieren, um mit Pfeil und Bogen die Männer abzuschießen. Das erledigt sich heute problemlos mit einem Vorwurf wegen sexuellem Missbrauch. In der „Me too“-Bewegung hat es dann wohl auch einige sehr renommierte männliche Vertreter zu Recht getroffen. Dass dabei gelegentlich auch der eine oder andere unschuldige Wetterfrosch Federn lassen musste, der selbst im medialen Getöse zu Hause ist, nennt man im modernen Sprachgebrach „Kollateralschaden“.

Nein, dieser Freiheitsdrang hat mich nie dazu veranlasst, in meinem Leben durch Kneipen, Puffs und Bars zu ziehen. Ich habe die Freiheit besessen, nein, ich habe mir die Freiheit genommen, und mir z. B. ein Motorrad gekauft, ohne es meiner Frau zu sagen. Die Lösung, daraus ein Geheimnis zu machen, war ein Stellplatz in einer Tiefgarage in der Nähe unserer Wohnung, von der sie nichts wusste. Da bin ich mit meinem Auto hineingefahren und auf der anderen Seite mit dem Motorrad wieder heraus. Schließlich wussten alle meine Freunde von der Existenz dieses Motorrads und haben dichtgehalten. Nur meine Frau und ich führten immer noch heiße Diskussionen, ich „für“ und sie „gegen“ das Motorradfahren. Schließlich hat sie mich erwischt. Ich war am Wochenende bei strahlendem Sonnenschein mit dem Motorrad auf meinen Weinberg gefahren, den ich mir bei Gelegenheit zugelegt hatte, um mich körperlich fit zu halten, als mich meine Frau überraschend besuchte. Natürlich hatte ich eine Ausrede parat. Ein Mitarbeiter von mir besaß genau das gleiche Motorrad. Also erzählte ich ihr, er habe sich für einen kleinen Anlass mein Cabrio ausgeliehen und das Motorrad solange hier stehen gelassen.

Für dieses Mal war ich gerettet, aber dann kam doch der Tag, an dem ich die Existenz der Maschine nicht mehr leugnen konnte. Normalerweise hätte man in dieser Situation mit einer gehörigen Portion an Vorwürfen, Verdächtigungen und Drohungen seitens der Ehefrau rechnen können. Aber nein, meine wunderbare Frau machte mir keine Szene. Es wurde nicht mehr darüber diskutiert, denn sie hatte erkannte, dass diese Schlacht nicht mehr zu gewinnen war. Sie war wohl etwas verschnupft, dass sie die Letzte war, die von der Existenz des Motorrads erfahren hatte und sie stellte mir die Bedingung, dass ich sie nie dazu nötigen dürfte, auf dem Motorrad mitzufahren.

Dieser Freiheitsdrang muss ein Grund für dieses Wanderprojekt gewesen sein. Hinzu kam wohl auch das Gefühl, nach all den Jahren den persönlichen Mittelpunkt verloren zu haben. Ich hatte mich nicht sehr sorgfältig mit mir selbst beschäftigt. Es war Zeit für eine persönliche Bestandsaufnahme und eine Neujustierung, Zeit, um mir die Frage zu stellen, was in meinem Leben wichtig und was unwichtig ist und es war auch an der Zeit, mir darüber klar zu werden, welche Werte mich, meine kleine Welt und die Gesellschaft tragen und es wert sind, beschützt zu werden.

Diese Gedanken bewegten mich jedoch anfangs nicht. Angefangen hatte es vielmehr mit einer Erkenntnis und einem Entschluss. Die Erkenntnis bestand darin, dass ich in den vergangenen Jahren, insbesondere seit ich aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war, sehr viel Zeit vergeudetet hatte, Zeit, die unwiederbringlich verloren war. Das war insbesondere Zeit, die ich auf eingetretenen Pfaden im Internet vertrödelte und von denen ich mir einbildete, sie seien für mein Leben wichtig und entscheidend. Für mich persönlich war mit diesen Stereotypien auch eine gewisse geistige und körperliche Behäbigkeit verbunden, unter der ich zunehmend litt. Dann schlich sich bei mir auch langsam die Erkenntnis ein, dass ich in meinem Leben viel Zeit mit imaginären und abstrakten Dingen zugebracht habe. Es gab wissenschaftliche Erkenntnisse, die sich bald als Täuschung herausstellten, klare wässrige Lösungen, die ein wichtiges Enzym enthielten, das jedoch nur durch eine weitere komplizierte Reaktion mit einem physikochemisch markierten Substrat in Art und Menge dargestellt werden konnte, oder hoch spezifische Antikörper, komplizierte Eiweißmoleküle, die sich als schlichtes weißes Pulver zu erkennen gaben, als wäre es Mehl. Dann fiel mir auf, dass morgen die Nachrichten von heute die Nachrichten von gestern sind, oder, um es mit den Nordlichtern zu sagen, dass in den Zeitungen von heute morgen die Fische eingewickelt werden. Daneben aber fiel mir auch auf, dass manches Bedeutende aus der Vergangenheit im Müll der täglichen Neuigkeiten verschüttet wurde, obwohl es wert gewesen wäre, diese Informationen oder Erkenntnisse zu bewahren.

Der Entschluss und die Lösung dieses Problems bestanden für mich in dem Erwerb eines Hundes, um wieder etwas von der nichtsnutzigen Freiheit aufzugeben. Dann war ich genötigt, regelmäßig vor die Tür zu gehen und mich nach den Bedürfnissen dieses Wesens zu richten und dadurch auch ein Teil meiner Behäbigkeit. In der Weltliteratur war es ein Pudel. Dieser Rasse kann ich aber leider nichts abgewinnen. Ich entschied mich für einen Jack Russel-Welpen, den ich bei meiner ausgiebigen Interneterfahrung bei einem Züchter in unserer unmittelbaren Nähe entdeckte. Es war ein kleiner Rüde mit einem weißen Streifen von der Schnauze über die Stirn. Links und rechts davon lagen die Augen in schwarz-braunen Flecken, die sich hinter den Ohren herzförmig vereinten. Der Rücken war im Wesentlichen weiß. An der rechten Seite befand sich ein großer schwarzer Fleck und deshalb nannte ich ihn Nobby. Auch das ist wieder eine meiner persönlichen Unkorrektheiten. Zu Deutsch sollte er Knöpfchen heißen. Ich dachte mir, zu einem englischen Hund, noch dazu ein Terrier, passt ein englischer Name. Das abgeleitete englische Wort von Knopf ist knob. Im Englischen heißt Knopf heute nicht mehr knob, sondern button. Aber das sollte man bei einer so weitreichenden Entscheidung wie der Namensgebung nicht so eng sehen. Daraus habe ich dann großzügigerweise Nobby gemacht. Gelegentlich ist mir dann eingefallen, dass Nobby auch die Abkürzung für Nobbody sein könnte. Es könnte auch die Abkürzung für das klassische Zitat von Shakespeere „To be or Not to bby“ sein. Meine einfältigen Landsleute meinten gelegentlich, Nobby sei die Abkürzung von Norbert. Das habe ich dann stets kategorisch mit der Bemerkung verneint: „Wenn das so wäre, müsste ich meinen Hund Norby nennen.“ Diese Variante war mir dann doch nicht recht, denn ich konnte den Namen Norbert nicht mit einem Hund assoziieren. In meiner Welt assoziiert man den Namen Norbert mit einer politischen Persönlichkeit, die uns Deutschen eines Tages verkündete: „Die Renten sind sicher …“ Da hatte er wohl Recht. Was er als erfahrener Politiker damals verschwieg, war der Nachsatz: „… aber die Höhe nicht.“ Nur die ganz Einfältigen haben sich damals mit dem ersten Halbsatz zufriedengegeben.

Mit diesem acht Wochen alten Welpen stand ich eines Tages unverhofft in der Tür unseres Hauses. Dazu gehörten Mut und Erfahrung eines 20-jährigen Ehelebens, Frau und Tochter vor vollendete Tatsachen zu stellen, dass es nun ein neues Familienmitglied gab. Dass ich einen Hund kaufen wollte, hatte ich gelegentlich schon einmal erwähnt und beide, meine Frau Gabi und meine Tochter Verena, hatten sich auch schon darauf geeinigt, mir das auszureden. Dazu war es jetzt allerdings zu spät, denn auch diese Geschichte endete so ähnlich wie die mit dem Motorrad. Meine Frau Gabi war enttäuscht, weil sie sich ihr zukünftiges Leben mit mir anders vorgestellt hatte. Jetzt, wo ich nicht mehr arbeiten würde (wie sie meinte), ohne Einschränkung reisen zu können, diese Aussicht war ihrer Meinung nach damit hinfällig. Aber ähnlich wie bei meinem Motorrad war ihr klar, dass diese Schlacht nicht mehr zu gewinnen war. Meine Tochter beschwerte sich darüber, dass ich ausgerechnet jetzt, wo sie das Haus verlassen würde, um zu studieren, mit einem Hund ankäme, wo sie doch schon immer einen Hund haben wollte. Das empfand sie als unfair.


Jetzt, vor Reisebeginn, ist Nobby ein vollakzeptiertes Familienmitglied und allseits geliebt und daher eben kommen die vierbeinigen Freundschaften so vieler Menschen besserer Art: denn freilich, woran sollte man sich von der endlosen Verstellung, Falschheit und Heimtücke der Menschen erholen, wenn die Hunde nicht wären, in deren ehrliches Gesicht man ohne Misstrauen schauen kann (Arthur Schopenhauer: Zur Ethik 2/3).

Liebe deinen Esel, wie dich selbst

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