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– Eigene Kindheit I

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In diesem Sinne fange ich an:

Meine Eltern verbrachten ihre Jugend in einem Dorf in der Nähe von Bulgarien. Dort lebten einmal viele Türken, die nach und nach in die Türkei eingewandert sind und das heute noch tun. Das Dorf meiner Eltern kam Ende der zwanziger Jahre geschlossen in die Türkei. Die türkische Regierung wies ihnen Land zu, und sie bauten ihr Dorf an einem anderen Ort wieder auf.

Die Bewohner von Cesmeli erzählen, dass sie unter den Bulgaren sehr gelitten haben und zur Ausreise gedrängt wurden. Fest steht, dass sie alle ein sehr niedriges Bildungsniveau hatten. Auch heute noch sind die Gebiete der türkischen Minderheit in Bulgarien ärmlicher und rückständiger als der Rest des Landes.

Ich bin in diesem Dorf geboren. Ich muss drei Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern die Landwirtschaft aufgaben, das Ackerland an Verwandte verpachteten und in die Stadt zogen. Çorlu zählte damals vielleicht 20.000 Einwohner. Mein Vater begann, als Blechschmied Blechöfen herzustellen. Er war unruhig und sehr ungeduldig. Oft wechselte er den Beruf, arbeitete als Fassbinder, Bauer, Blechschmied, Holztransportunternehmer usw., nirgendwo hielt es ihn lang. Offenbar war er handwerklich sehr geschickt, ich weiß nicht, wo er all diese Tätigkeiten gelernt hat.

Ohne Maschinen und lediglich mit wenigen Nutztieren, so erzählten meine Eltern und auch meine älteste Schwester, die diese Zeit als heranwachsendes Mädchen erlebt hat, muss die Landwirtschaft für alle eine harte Knochenarbeit gewesen sein. Auf jeden Fall waren sie froh, nunmehr in der Stadt zu wohnen.

Mein Vater war sehr temperamentvoll. Oft war er sanft, nachdenklich und extrem fürsorglich. Manchmal rastete er aus und zeigte, wie Wutausbrüche aussehen können. Oft ließ er sich an Gegenständen aus. Ich habe aber auch erlebt, wie er einmal meine Mutter und einmal meine Schwester schlug.

Mich schlug er nie. Als der einzige Junge in der Familie und jüngstes der Kinder habe ich von ihm viel Zuwendung erhalten, aber nicht nur von ihm, auch von meiner Mutter und den drei älteren Schwestern. Mein Vater hat mich regelrecht verwöhnt mit allen Süßigkeiten und Naschereien, die die an unserer Haustür vorbeiziehenden Straßenverkäufer zu bieten hatten.

Meine Mutter war ebenfalls eine leidenschaftliche und gefühlsbetonte Person, doch dabei auch sehr rational und pragmatisch. Zu ihr hatte ich eine sehr starke Bindung. Sie nahm mich überall hin mit, ich bin unter Frauen aufgewachsen. Zu Männern, die ja nach Zigaretten und Schnaps rochen, laut redeten und grob waren, hatte ich keinen Draht. So verbrachte ich die ersten zwölf Jahre meines Lebens in einer Welt von Frauen in absoluter Geborgenheit und wohlbehütet.

Im Sommer fuhren wir oft zum Dorf zu meinen Großeltern. Alle Bewohner von Cesmeli sind Alewiten. Das ist eine Sekte innerhalb des Islams, die aber von den Orthodoxen als häretisch angesehen wird. Deshalb finden ihre Rituale im Verborgenen statt. Dazu aber, falls es Dich interessiert, im nächsten Brief mehr.

Bis dahin alles Gute

Kemal

Briefe von Kemal Kurt (1947-2002)

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