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»Die Ehe ist eine wunderbare Erfindung – aber das ist ein Fahrradflickzeugkasten auch«

(Billy Conolly)


Ich ging fest davon aus, dass die Party eine ebenso uninspirierte Veranstaltung werden würde wie die letzte. Am liebsten wäre ich nicht erschienen oder hätte mich nach ein paar Häppchen vom Buffet schnell wieder verdrückt. Nicht zu erscheinen war definitiv nicht möglich und mich zu verdrücken hätte unabsehbare Konsequenzen nach sich gezogen. Ich gehörte zu den Gastgebern, auch wenn ich objektiv betrachtet nur so etwas wie die rechte Hand der Gastgeberin war.

Dass der Verlauf dieses Abends und vor allem das Ende überhaupt die nächsten Wochen meines Lebens ordentlich durcheinanderwirbeln sollten, konnte ich nicht voraussehen, als ich mit einem leeren Teller vor dem Buffet stand und nach den mit Parmaschinken umwickelten Mohrrübchen schielte.

»Deinen Antipasti sind wieder einmal hinreißend, Schätzchen«, zwitscherte Susan und schob sich eine grüne Olive mit Mandelkern in den Mund. »Einfach raffiniert.«

Schätzchen war Carla, die bereits erwähnte Gastgeberin und gleichzeitig die Frau, der ich seit zwanzig Jahren mehr oder weniger eng verbunden war. Raffiniert fand ich gar nichts. Weder die schwarze Olive vom Türken, auf der Susan jetzt herumnuckelte wie auf einem englischen Brombeerdrops, noch die Auberginen, Paprikas, Zucchini, Meeresfrüchte in Öl oder die mit Mozzarella überbackenen Hähnchenfilets.

»Das ist wie beim letzten Mal fast alles vom Italiener«, erwähnte ich beiläufig, weil ich glaubte, Susan irgendetwas erklären zu müssen. Das war falsch. Einen Augenblick zu spät registrierte ich Carlas entgleisende Gesichtszüge, die mir signalisierten, dass ich besser nichts gesagt hätte. Wahrscheinlich hatte sie wieder einmal erzählt, dass sie alles an einem einzigen Nachmittag selbst zubereitet hatte und es dabei nicht so genau genommen. Dabei brauchte sie nicht viel erzählen. Carla ging der mir unerklärliche Ruf voraus, in einer italienischen Küche zur Welt gekommen zu sein. Ich hielt das für etwas überhöht, aber mich hatte niemand gefragt.

Mit zwei Mohrrüben und einem Hähnchenfilet auf dem Teller zog ich ins Wohnzimmer und setzte mich an unseren Esstisch. Unsere Gästeliste hatte schon etwas von Tradition und war wie immer bis auf ein paar wenige Ausnahmen von Carla persönlich zusammengestellt worden. Rita und Susan, natürlich, Eva und Markus, Monika und Henry, Sven und Agneta, Frank und ...

»Sag mal, Frank hat ja schon wieder eine Neue«, raunte ich Andy zu, der neben mir saß und an einer Hühnerkeule herumkaute. »Wo lernt der immer solche Frauen kennen?«

»Keine Ahnung, ist mir auch ein Rätsel. Aber absoluter Premium-Bereich, wenn du mich fragst.«

»Ja, da muss ich dir zustimmen.«

»Unterhaltet ihr euch gerade über Frauen, Liebling?«, säuselte Sylvie plötzlich von der gegenüberliegenden Seite des Tisches herüber. Andy lächelte müde an ihr vorbei. Sylvie war aus meiner Sicht der größte und folgenschwerste Fehleinkauf, den sich Andy während unserer 27 Jahre andauernden Freundschaft geleistet hatte. Was ihn damals dazu gebracht hatte, diese überspannte Schnepfe mit der Ausstrahlung eines Tannenzapfens zu heiraten und obendrein drei Kinder mit ihr zu zeugen, blieb bis zum heutigen Tage eines seiner letzten Geheimnisse. Andy redete zwar nicht darüber, aber ich war felsenfest davon überzeugt, Sylvie war der Hauptgrund, warum er die beiden Kneipen in Charlottenburg und Schöneberg gepachtet hatte und dort in letzter Zeit zunehmend auch übernachtete. Sylvie war in einem Strickrock mit riesigen, aufgesetzten Sonnenblumen erschienen. Ich hätte fast einen Lachanfall bekommen, als sie mit diesem Fummel im Flur stand. Vor zwanzig Jahren hätte sie damit einen Preis für das gelungenste Faschingskostüm übereicht bekommen hätte. Vielleicht wollte sie aber auch nur ein Zeichen setzen, allein die Botschaft drang nicht zu mir durch. Carla konnte beide nicht ausstehen. Sylvie war ihr zu einfältig und Andy zu rustikal. Dass sie trotzdem fast zum Inventar unserer Partys gehörten, war ein Zugeständnis an mich, schließlich war Andy mein ältester Freund.

Aus meinen antiken Teufel-Lautsprecherboxen ertönte Eliades Ochoa. Guaracha, Son oder Bolero. Carla versuchte schon einige Mal, mir die unterschiedlichen Grundmuster karibischer Rhythmen zu erklären, ich blickte nie durch. Sie vergötterte Eliades Ochoa und andere kubanische Troubadoure wie Celia Cruz oder Ibrahim Ferrer ebenso, wie ich die brasilianische Weltmeistermannschaft von 1958 mit Pelè, Didi oder Vava. Meine Boxen taten mir leid, aus meiner Sicht konnte man mit dieser Musik Geständnisse erzwingen. Wenn wenigsten das Buffet karibischen Touch hätte. Aber den Stilbruch, kubanische Folklore und italienische Antipasti, nahm Carla großzügig hin. Wahrscheinlich war ihr ebenso klar wie mir, dass die meisten Gäste ohnehin nur zum Spachteln erschienen waren.

Mein Blick wanderte wieder zur Neuen von Frank hinüber. Beide standen mit einem Glas Prosecco etwas abseits im Raum und unterhielten sich. Die Neue strahlte Souveränität aus. Blonde lange Haare zu einem verspielten Knoten zusammengesteckt, kleine Kreolen im Ohr, dezent geschminkt. Alles harmonierte. Das Stretchtop im Ethno-Look mit V-Ausschnitt über dem eng anliegenden grauen Baumwollrock und die schwarzen Lederstiefel waren Upper Class. Sie war heute Abend, das musste ich nüchtern feststellen, ganz eindeutig die Nummer eins.

Unsere Party dümpelte dahin wie die Fischerboote im Hafen von Riomaggiore. Eintöniger Small Talk zwischen Diele und Küche. In der Annahme, augenblicklich nicht gebraucht zu werden, schließlich war Small Talk nicht unbedingt eines meiner Steckenpferde, nutzte ich den Aufenthalt auf der Toilette für einen Abstecher ins Schlafzimmer. Ich legte mich aufs Bett und schaltete den Fernseher in der Erwartung ein, die Bundesligaergebnisse von heute zu erfahren. Ich hätte es mir sparen sollen.

»Sag mal, hast du’n Knall?« Carlas entsetzte Stimme ließ mich nur wenige Minuten später hochfahren. Durch den schmalen Spalt der leicht geöffneten Tür drang das grelle Flurlicht und entferntes Stimmengewirr in das Zimmer. Zum Glück konnte ich Carlas Gesichtszüge nur erahnen, aber schon das jagte mir einen gehörigen Schrecken ein. »Ich glaube es nicht! Wir laden zu unserer Frühjahrsparty charmante Gäste ein und du verpfeifst dich ins Schlafzimmer und glotzt Fernsehen. Ich werde total verrückt!«

Letzteres war unverkennbar, Carla hätte es nicht noch betonen brauchen. Sie war gerade dabei, in den gasförmigen Aggregatzustand zu wechseln. Ich schaltete mit der Fernbedienung das Gerät aus und richtete mich auf.

»Monika fragte mich vor ein paar Minuten, wo du geblieben wärest. Ich sagte ihr, du wärst bestimmt im Bett und würdest dein Geld zählen. Das sollte ein Witz sein, Simon-Moritz!« Wutentbrannt fegte Carla aus dem Zimmer, die Tür flog ins Schloss und der Schlüssel zu Boden. Ich entschloss mich nach einer kurzen Verzögerung, zu unseren charmanten Gästen zurückzukehren. Dabei gab es nur einen charmanten Gast.

Frank und seine Neue standen noch an fast derselben Stelle wie vor einer halben Stunde. Die Neue schien sich zu Tode zu langweilen. Ich ging auf sie zu und stellte mich neben sie. Sie lächelte knapp. Ihr exotisches Parfüm fesselte mich in wenigen Sekunden mehr, als es Carlas Chanel N°19 in den letzten zwanzig Jahren geschafft hatte.

»Und was machen Sie beruflich?«, fragte die Neue plötzlich und drehte sich zu mir um. Ich fühlte mich überfallen. »Ich bin Pilot«, kam es spontan aus meinem Mund. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie so etwas hören wollte.

»Was? Das finde ich ja irre«, schmetterte sie mir entgegen und klimperte mit den Augen. »Und wo überall auf der Welt fliegen Sie hin?«

Jetzt wäre der Zeitpunkt gekommen, den kleinen Scherz mit dem Piloten klarzustellen. Nüchterne Überlegungen schienen mir in diesem Augenblick jedoch völlig fremd zu sein. »Nach Mallorca, Kreta, Gran Canaria.«

»Ferienflieger?« Ich glaubte eine Spur von Enttäuschung über ihr Gesicht huschen zu sehen und wollte schon hinzufügen: Und nach New York, Los Angeles, Bangkok und Sydney.

»Und bei welcher Fluggesellschaft fliegen Sie?«

»Air Berlin.« Ich entschloss mich, im Ferienbereich zu bleiben. Meine Körpertemperatur stieg an.

»Ach was? Ich bin letztes Jahr im Mai mit Air Berlin von Leipzig nach Mallorca geflogen. Nicht auszumalen, wenn ich mit Ihnen geflogen wäre.«

Ich hätte sie in diesem Moment beruhigen können, in Leipzig war ich vor sieben Jahren einmal auf dem Hautbahnhof und Malle kannte ich nur von meinem Shell-Atlas.

»Das wäre wirklich ein großer Zufall gewesen«, sagte ich trotzdem und lächelte gütig. Nebenbei zermarterte ich mir den Kopf, wie ich aus dieser Pilotennummer wieder herauskommen könnte. Wahrscheinlich waren diese Gedanken umsonst. Alles würde sich auflösen, wenn sie am nächsten Morgen beim Frühstück mit Frank im Bett die Party noch einmal rezensieren und zwangsläufig auf den Gastgeber mit dem atemberaubenden Beruf zu sprechen kommen würde. Insofern sah ich es als vorteilhaft an, dass Frank immer wieder mit einer Neuen erschien.

»Ist es eigentlich wichtig, dass wir uns Siezen?«, fragte ich.

»Nein, natürlich nicht. Ich heiße Arlette.« »Ich bin Simon. Und was machst du beruflich, Arlette?«

Sie hatte sich viel Mühe mit sich selbst gegeben. Grausilbriger Lidschatten, scharfe Konturen an weinroten Lippen. »Ich arbeite für eine Personalservice-Agentur.«

Mir fiel spontan das Arbeitsamt ein, wollte es aber nicht glauben. »Da kann ich mir jetzt gar nichts drunter vorstellen.«

»Das ist auch schwer zu beschreiben. Wenn ich dir das jetzt erklären würde, könntest du das missverstehen.« Mein dämlicher Gesichtsausdruck musste sie veranlasst haben, noch etwas hinzuzufügen.

»Ich gebe dir nachher mal meine Karte, vielleicht ist es auch etwas für dich. Du kannst mich ja mal anrufen.«

Ich schob das Kinn vor und hustete in mich hinein. Vielleicht ist es auch etwas für dich? Hörte sich nach Nachhilfelehrerin oder Edelnutte an. Vielleicht war es auch ein versteckter Hinweis. Wollte Arlette etwas von mir? Hatte sie erkannt, dass es außer Frank noch andere interessante Angebote auf dem Markt gab? Zum Beispiel Piloten. Ich hoffte, meine innere Aufregung verbergen zu können. Vor mir tauchte ich selber auf. In einem scharf geschnittenen, dunkelblauen Pilotenanzug mit vier goldenen Streifen an den Ärmeln, einer Ray-Ban-Aviator-Sonnenbrille vor den Augen, die schmale Uniformmütze unter den Arm geklemmt und eingerahmt von drei lüstern lächelnden Stewardessen auf der Treppe zum Cockpit eines Airbus A340. Der Traum war intensiv, aber sehr kurz.

Ich fuhr aus meinem Traum hoch. Carla hatte musikalisch blankgezogen. Die Gypsy Kings polterten mit einer Lautstärke durch die Wohnung, die ausgereicht hätte, das Velodrom zu beschallen. Die Gypsy Kings waren zwar reichlich angestaubt, aber immer noch Carlas Allzweckwaffe, wenn sie glaubte, ein paar Kohlen nachlegen zu müssen. Jegliche Unterhaltung konnte in diesem Moment getrost eingestellt werden. Was meine Pilotengeschichte anging, war das ganz gut so. Mein mitleidiger Blick richtete sich ein weiteres Mal auf die Lautsprecherboxen.

»Ich weiß, das ist nicht deine Musik, Sweety«, übertönte Carla die Musik, nachdem sie auf uns zugetänzelt war. Sie hatte ordentlich einen im Tee, das war offensichtlich. »Wenn es nach ihm ginge, würden wir den ganzen Abend nur Led Zeppelin und Pink Floyd hören«, plärrte sie gegen die Musik an und blinzelte zur Neuen hinüber. »Bei Led Zeppelin haben wir uns vor zwanzig Jahren übrigens kennen gelernt«.

Ich glaubte nicht, dass Arlette das interessieren würde. Es war eine Fehleinschätzung.

»Ach, das ist ja interessant«, zwitscherte sie und hob ihren hübschen Kopf. »Wo habt ihr euch denn kennen gelernt?«

»Auf einer Party in Kreuzberg, auf der Toilette.« Carlas Augen leuchteten auf.

»Huch.« Die Neue hätte sich fast verschluckt. Wie sollte sie wissen, dass es zu Carlas überlebenswichtigen Bedürfnissen gehörte, diese Story zum Besten zu geben. Alle anderen anwesenden Gäste kannten sie schon, demnächst also auch Arlette.

Zugegebenermaßen hinterließ Carla an diesem denkwürdigen Abend auf Toms Fete einen ebenso nachhaltigen Eindruck bei mir wie Franks Neue an diesem Abend. Ich flegelte gerade mit einem schalen Schultheiss im einzigen Sessel der ganzen Wohnung und starrte in den Flur, als Carla mit einer Freundin erschien. Es war definitiv nicht ihr speckiger Afghanenmantel, der mich vor Begeisterung fast zerriss der. Wie ich später feststellte, stank er genauso penetrant nach Ziege, wie alle anderen Afghanenmäntel auf dem überquellenden Garderobenständer. Nein, es waren Carlas tiefblaue Augen, ihre dunkelblonden schulterlangen Haare und ihre honigmelonengroßen Brüste, die meine innere Spannung kontinuierlich ansteigen ließ.

In der engen Küche am Buffet wollte ich nach einer halben Stunde - so lange hatte ich verschiedene Angriffstaktiken gedanklich durchgespielt - den ersten Kontakt herstellen. Das Buffet war damals rustikaler, wahrscheinlich hatte Carla es als abschreckendes Beispiel lange mit sich herumgetragen. Sie konnte sich jedenfalls nicht entscheiden zwischen den eingelegten Bratheringen und den ebenfalls eingelegten Riesenrollmöpsen. Ich war hinzugetreten und wollte ihr gerade einen kulinarischen Ratschlag geben, sozusagen einen unverbindlichen Vorschlag aus dem Munde eines weit herumgekommenen Gourmets, als sie sich umdrehte, mich knapp anlächelte und die Küche mit einem Rollmops verließ. Ich fischte mir zwei aus der Schüssel, schlug mir einen Haufen Kartoffelsalat auf den Teller und ging ins Zimmer zurück. Als ich später auf dem aschgrauen, von Toms verwirrtem Kater vollständig zerpflügten Flokati saß und die Trackfolge auf dem Cover von Led Zeppelin II studierte, hockte sie plötzlich neben mir.

»Ich weiß noch genau, wo Simon mir das erste Mal aufgefallen ist«, begann Carla, zwei Lautstärken über normal zu referieren, während ihre Augen diebisch funkelten. »In der Küche am Buffet. Ich wusste sofort, das ist er! Lange dunkle Haare, knackiger Arsch in blauer Jeans. Als er mit der Plattenhülle auf dem Teppich herumhockte, setzte ich mich dazu. Leider schien er nur zwei Leidenschaften zu haben: Led Zeppelin und Schultheiss.« Das war natürlich vollkommener Quatsch. Tom hatte nur Schultheiss im Haus. Arlette sah mich an und stülpte ihre Lippen. Sie schien zu überlegen, wie aus solch einem Traumtänzer wie mir jemals ein Pilot werden konnte. Vielleicht auch, dass solch ein Traumtänzer niemals Pilot sein konnte.

»Tja, und dann habe ich einen zweiten Versuch gemacht«, fuhr Carla genüsslich fort. »Als Simon zur Toilette ging, bin ich kurzerhand mit hinein und habe von innen abgeschlossen.« »Waaas?« Einen kurzen Moment dachte ich, Arlette würde abheben. Sie blickte ungläubig zwischen Carla und mir hin und her. Frank lächelte süffisant. Ich nickte entschuldigend. Carla kostete es aus.

»Und was passierte dann?« Die Neue wurde jetzt neugierig. Prickelnde Geschichten schienen etwas für sie zu sein.

»Nichts«, brummte ich.

»Nichts? Das kann man nun wirklich nicht sagen, Sweety. Wir haben wild rumgeknutscht und gefummelt. Nach zehn Minuten sind wir wieder raus.«

Sie hatte recht. Es war oberpeinlich. Zu zweit kamen wir aus der Toilette! Carla schien es überhaupt nichts ausgemacht zu haben, mein Kopf hatte die Farbe eines überreifen Kürbis’ angenommen. Natürlich sind wir nicht mehr lange auf der Fete geblieben. Was sollte ich mit Carla auch auf einer Fete? Sie schien dasselbe gedacht zu haben. Nach einem Bier und einem Kaffee im Adams in der Pariser Straße landeten wir in Carlas 17-Quadratmeter-Zimmer in ihrer Frauen-WG in der Mommsenstraße. Das einzige, was mir von dieser Nacht noch in Erinnerung geblieben ist, war mein gigantisch brummender Schädel am nächsten Morgen.

Gerade als ich auf meine Uhr schaute, es war halb eins, erhoben sich Eva und Markus synchron vom Esstisch. Ich glaubte nicht, dass ihr Aufstehen etwas mit meinem Blick zur Uhr zu tun hatte. Wenn doch, dachte ich, hätte ich schon vor zwei Stunden auf die Uhr blicken sollen. Ich konnte die beiden ausstehen, wie Fliegen am Fenster.

»Wir sollten jetzt auch gehen«, sagte Frank zu Arlette. Ihr Blick signalisierte: Schade, aber wenn du meinst. Wahrscheinlich wäre sie noch gern geblieben, schließlich hatten Carla und ich ihr mit unseren Geschichten ein anregendes Programm geliefert. Mir fiel auf, dass Frank und Arlette irgendwie ein besonderes Verhältnis hatten. Nichts von einer heißen Romanze, keine glühende Leidenschaft. Sie machten auch überhaupt nicht den Eindruck, als wenn sie, kaum in Franks Wohnung angelangt, übereinander herfallen würden. Eher wie Bruder und Schwester auf Vaters fünfundachtzigstem Geburtstag.

Als wir uns im Flur verabschiedeten, schob mir Arlette die angekündigte Visitenkarte in die hintere Tasche meiner Jeans und raunte mir zum zweiten Mal den scheinbar wohl gemeinten Hinweis »Vielleicht ist es ja auch etwas für dich« zu. Ich hatte im selben Moment das Gefühl, als ob sich meine gesamte Körperflüssigkeit in Form kleiner Schweißperlen auf meiner Stirn versammelte. Instinktiv suchte ich nach Carla. Sie stand direkt hinter mir, tauschte mit Rita aber gerade einen innigen Zungenkuss aus. Ich war erleichtert.

»Sag mal, Simon, hat dir die Neue von Frank die Hand auf den Arsch gelegt, als ihr euch verabschiedet habt?«, fragte Carla in ihrer beiläufigen Art. Sie spülte gerade eine ölige Salatschüssel mit einem Schwamm und ich stand dummerweise neben ihr.

»Ich habe nichts bemerkt, Carla.« Spontan trat ich hinter sie und begann, ihren Nacken zu kraulen.

»Es ist zwar schon spät, Sweety, und ich habe ein paar Gläser Prosecco intus«, sagte Carla scharf und drehte sich schwungvoll um. »Aber nicht so viele, dass ich den Überblick verloren hätte!« Dramaturgisch sehr effektvoll, das musste ich zugeben. Ein Spritzer Seifenwasser landete direkt unter meinem rechten Auge. Sweety hatte im Augenblick definitiv eine andere Bedeutung als sonst. Nach meinem Gefühl hätte sie es an dieser Stelle weglassen sollen.

»Ich weiß nicht, was du da gesehen haben willst, Carla, aber kann es sein, dass du ein wenig übertreibst?« Ich überlegte angestrengt, wie ich etwas Luft ablassen konnte, bevor der zarte Ballon direkt vor mir platzte.

»Ich kann dir sagen, was ich gesehen habe. Erst hast du der Neuen von Frank den ganzen Abend auf die Titten gestarrt, und beim Abschied hat sie dir über den Arsch gestrichen!«

»Nun hör aber auf Carla, das ist doch Blödsinn. Außerdem gab es doch gar nichts zu sehen.«

»Mir ist scheißegal, ob es bei der Kuh etwas zu sehen gab oder nicht. Es geht um dich und wie du dich in meinem Beisein benimmst! Du wirst immer eigenartiger, Simon-Moritz!«

Einen knappen Blick auf Arlettes niedliche Brüste hatte ich mir tatsächlich gegönnt. Es war schwierig, nicht weil sie zierlich waren, sondern weil Arlette direkt neben mir stand und ich es ohne eine entlarvende Kopfbewegung, aus den Augenwinkeln bewerkstelligen musste. Carla schien es trotz meiner Sorgfalt bemerkt zu haben. Es war für mich jetzt wichtig, aus der Defensive zu kommen. Im Fußball lösten sie meistens die Viererkette hinten auf und kamen mehr über die Flügel. Ich brauchte so etwas wie ein Gegentor. Aber erst einmal downcoolen. Ich probierte es auf Susans Tour: »Dein Vitello Tonato war phantastisch, Carla, ehrlich. Ich muss sagen, in diesen Dingen bist du unschlagbar«, schwatzte ich mit einem eröffnenden Lächeln. Carlas Blick verfinsterte sich um einige Nuancen. »Das Vitello Tonato liegt seit einigen Stunden unten in der Mülltonne!«, bellte Carla los. »Das war gar nicht auf dem Tisch, weil es mir völlig missraten war! Aber es ist schon klar, dass du keinen Blick für das Essen hattest.« Carla war mit ihrem Kopf auf fünf Zentimeter an meine Nasenspitze herangerückt. Ihre geröteten Nasenflügel bebten wie die eines zornigen Kampfstiers. Das war natürlich ein erbärmlicher Fehlpass von mir. Eigentlich hätte ich mich an dieser Stelle sofort auswechseln müssen. Meine kalten Schweißperlen waren allesamt wieder zurück auf der Stirn. »Entschuldige Carla, du hast ja Recht. Natürlich meinte ich das Cappatio. Hab’ ich verwechselt, glaub mir, Schatz.« Ich ging einen Schritt zurück, nicht nur, um ein wenig aus der Schusslinie ihrer penetranten Prosseccofahne zu kommen. Mein zweiter Ansatz schien allerdings auch nicht der richtige gewesen zu sein.

»Sag mal, willst du mich jetzt verarschen, Simon-Moritz?«, zischte sie und sah mich scharf an, »oder hat dich Franks Mäuschen deiner letzten Sinne beraubt?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Dein kulinarisches Beurteilungsvermögen war zwar noch nie besonders ausgeprägt, aber so jämmerlich habe ich es gar nicht in Erinnerung. Vielleicht liegt dir die italienische Küche auch nicht mehr so.« Carla goss sich den Rest Rotwein in ein Wasserglas.

»Cappatio verwechselt er mit Vitello Tonato! Das ist das allerletzte Mal, dass ich für uns italienisch gekocht habe. Du solltest dir nächstes Mal diese gefrorenen Gummifritten zurechtmachen, die Alex immer in den Backofen schiebt, wenn wir ins Kino gehen!« Carlas Gesichtsfarbe erinnerte mich an die eindrucksvollen Sonnenuntergänge an Frankreichs Atlantikküste vor zwei Jahren im Urlaub. Sie schoss jetzt aus allen Rohren. Ein imposantes Feuerwerk in mächtigen Farben. Leider war ich das Ziel.

»In diesem Zusammenhang noch etwas, Simon Moritz! Ich nehme an, du hast mitbekommen, was Eva und Markus, diese Wachtel und ihr Zaunkönig, mitgebracht haben? Party-Boxen mit Salzstangen, Brezelchen und Erdnüssen. Unglaublich! Und weißt du was? Angeblich war das ein Tipp von dir gewesen! Anstelle von Blumen, nehme ich an?«

»Carla, das lässt sich erklären. Ich habe…«

»Was willst du erklären? Da gibt es nichts zu erklären! Ich wiederhole mich, du hast schwer nachgelassen! Italienische Küche und Erdnusslocken! Das ist doch entsetzlich! Das pervertiert den Abend! Warum hast du nicht deinen grünen Waldmeisterpudding aus der Tüte gemacht und in der überdimensionalen Salatschüssel auf den Tisch gestellt? Das hätte die Sache vollends abgerundet.« Carla riss die Tür unter der Spüle auf. »Ich habe den Knabberscheiß hier neben dem Mülleimer deponiert. Du kannst ihn in die Firma mitnehmen!« Sie schlug die Unterschranktür wieder zu und stampfte wutentbrannt aus der Küche direkt ins Bad.

Was gab es noch zu sagen?

Mein Weg führte aus der Küche direkt ins Schlafzimmer. Das zweite Mal am heutigen Abend. Zwei Fragen hinderten mich nachdrücklich am Einschlafen: Will Arlette etwas von mir? Und wohin mit der Karte, auf die ich noch nicht einmal einen Blick geworfen hatte?

Mir kamen Zweifel an ihrem Interesse an mir. Die spielte in einer ganz anderen Liga. Daran änderte auch meine Piloteneinlage nichts. Trotzdem wollte ich die Karte nicht einfach so vernichten. Wie hatte sie gesagt? Vielleicht brauchst du sie ja mal. Klang zwar nach Rechtsschutzversicherung, war aber spannend. Spontan fiel mir in unserer Wohnung kein Ort ein, der vor Carlas Gespür sicher war. Wenn Carla die Karte in die Finger kriegte, konnte ich mich nach einem guten Scheidungsanwalt umsehen. Und Carla hatte schon viele Dinge aufgespürt, von denen ich glaubte, sie wirklich gut versteckt zu haben oder dass sie gar nicht mehr existierten. Die Nacktfotos meiner Jugendliebe Brigitte zum Beispiel, die ich am Boden unseres Laserdruckers mit Tesafilm befestigt hatte, oder den 2000er Millenniums-Katalog von Beate Uhse, den ich in die unterste Schublade meines Schreibtisches, unter einem normalerweise undurchdringlichen Haufen Akten, alten Rechnungen und Schreibmaterial deponiert hatte. Oder die Kondome mit Erdbeergeschmack, die ich vor zwei Jahren von Andy geschenkt bekommen hatte und in meiner alten Fototasche auf dem Kleiderschrank verschwinden ließ. Carla brachte die brisanten Dinge alle zum Vorschein. Mit triumphalem Gehabe. Sie legte die Teile immer auf den Küchentisch, setzte sich mit einem fragenden Blick an die Zimmerdecke dazu und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum. Dann gab sie mit mitleidsvollem Unterton Sätze zum Besten, wie: Ich mache mir wirklich Sorgen um dich, Sweety, dein pubertäres zweites Ich hat wieder zugeschlagen, oder: Solltest du Bedarf verspüren, können wir uns gern mal mit einem Entwicklungspsychologen zusammensetzen. Aber diesmal war die Lösung ganz einfach. Glaubte ich zumindest. Mein Adressbuch im Handy.

Carla lag neben mir im Bett und rasselte, als litt sie an feuchtem Asthma. Ich rollte mich vorsichtig aus dem Bett, fischte die Visitenkarte aus der Hosentasche und schlich ins Arbeitszimmer. Glücklicherweise hatte sie die Nummer mit einem Kugelschreiber noch einmal auf die Rückseite geschrieben. Die klein gedruckte Nummer auf der Vorderseite hätte ich nur mit meiner Lesebrille entziffert und ihre Personalagentur interessierte mich wirklich nicht. Nachdem ich die Telefonnummer unter dem Namen Dr. Kranz – den gab es tatsächlich einmal – abgespeichert hatte, zerlegte ich die Karte in Moleküle und ließ sie in den Mülleimer rieseln. Zufrieden ging ich zurück in mein Bett.


Es Geht Auch Anders

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