Читать книгу Es Geht Auch Anders - Ulrich Paul Wenzel - Страница 6
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ОглавлениеIch war gerade dabei, die braune Filtertüte aus dem Trichter der Kaffeemaschine zu fingern, weil diese wieder einmal in sich zusammengefallen war und der Kaffeesatz den Trichterausgang verstopfte, als ich von Carla ebenso kalt erwischt wurde, wie sie anscheinend selbst kurz zuvor vom Duschwasser. »Diese beschissene Dusche! Mich kotzt es langsam an, Simon! Das Wasser wird wieder nicht warm!«, bellte sie, splitternackt in der Küchentür stehend, während ihre Brüste bei jeder ihrer hektischen Armbewegungen ins Schwingen gerieten.
»Dann duschst du heute eben mal nicht.« Meine Antwort war etwas spontan und natürlich unbedacht. Fast schon provokativ, aber ich hatte schließlich meine eigenen Sorgen. Die braune Kaffeebrühe hatte sich auf der halben Arbeitsplatte verteilt.
»Sag mal, hast du ’nen Vogel? Dass du nur jeden zweiten Tag unter die Dusche gehst, ist schon schlimm genug, ich will jedenfalls morgens warmes Wasser! Und ausgerechnet heute ist es kalt!«
»Wie, heute? Was ist denn heute?«
»Was heute ist? Ach, nichts Außergewöhnliches, Sweety. Ich habe heute nur meine Vorführstunde für die Fachbereichsleiterstelle.« Richtig, das hatte ich vergessen. Wir hatten uns vorgestern darüber unterhalten. Mit Schulrat und Schulleiter und einem anschließenden Umtrunk, wie Carla mir erklärt hatte. Ich musste schließlich noch die Flaschen Prosecco besorgen und irgendwie in den restlos überfüllten Kühlschrank klemmen. Jetzt hörte sich Carlas Stimme ungesund an, wie ein Dieselmotor kurz vor dem Verrecken. »Kannst du vielleicht mal die blöde Kaffeemaschine stehen lassen und dich um das Wasser kümmern?«
»Das mit dem Wasser könnte problematisch werden, Carla«, sagte ich vorbeugend und trocknete meine Hände an einem Küchentuch ab., »Du weißt, wie es beim letzten Mal war.« Natürlich wusste sie es. Da lebten wir drei volle Tage ohne einen Tropfen warmen Wassers.
»Und was heißt das jetzt, Simon? Heißt das, hier geht heute wieder gar nichts?«, blaffte Carla erneut auf, verschränkte die Arme vor ihren Brüsten und starrte mich mit vorgestrecktem Kinn an.
»Wahrscheinlich nicht«, sagte ich tonlos, innerlich in Deckung gehend.
»Ach so, wahrscheinlich nicht. Und jetzt? Das ist doch unglaublich! Das ist ein Scheißhaus, in dem wir hier wohnen! Absolut, sage ich dir! Mach mir bitte sofort einen Topf heißes Wasser fertig!« Mit wilden Flüchen über die Wohnung, über das Haus und überhaupt über ganz Wilmersdorf stampfte Carla zurück ins Bad. Natürlich ließ ich die Kaffeemaschine sofort Kaffeemaschine sein.
Nachdem ich Carla das Wasser gebracht hatte, öffnete ich Alex’ Zimmertür, um ihn zu wecken. Der Raum ächzte unter einer unbeschreiblichen Gestanksglocke, als wären die fünf Stofftiere, die er auf der Rückenlehne seines schwarzen Ausziehsofas aufgereiht hatte, über Nacht zu einer Ziegenherde mutiert. Ich rang nach Luft. »Guten Morgen, Alex. Aufstehen. Und öffne bitte alle Fenster!«
Alex grunzte irgendetwas, ich zog mich eilends zurück und schmiss die Tür zu. An Frühstück war heute nicht zu denken, nur eine schmale Stulle beim Frühstücksfernsehen im Wohnzimmer.
»Na geht doch«, sagte ich schmunzelnd, als ich in die Küche kam. Mit dem Topf heißem Wasser hatte Carla mehr aus sich herausgeholt, als ich ihr zugetraut hatte. Warum bestand sie eigentlich jeden Morgen auf eine Dusche? Sie stand, den Becher mit fettarmem Joghurt in beiden Händen haltend, vor der schlürfenden Kaffeemaschine und lächelte schon wieder.
Das anthrazitfarbene Baumwollkleid hätte sie auch problemlos auf eine Beerdigung anziehen können, dachte ich, hoffentlich beerdigte sie nicht in ein paar Stunden ihren Traum von einer schillernden Karriere im Berliner Schuldienst. Carla schien den Tag aber wenigstens mit dem Habitus einer Fachbereichsleiterin beginnen zu wollen. Ich gab ihr einen flüchtigen Kuss, murmelte etwas von viel Glück und Daumendrücken und verabschiedete mich ins Büro.
Meine eigene Karriere begann vor knapp zwanzig Jahren. Wirklich aufregend war sie zu keiner Zeit, aber mir fiel nichts Besseres ein. Es gab verschiedene Möglichkeiten, neben dem BWL-Studium, das ich nach der Lehre zum Bürokaufmann begonnen hatte, an das nötige Kleingeld zu kommen. Fahrerjobs auf der Taxe oder auf dem Lieferwagen, Malochen auf dem Bau oder in Gärtnereien, oder…Leuten Bausparverträge aufschwatzen. Ich entschied mich für die letztere Option nicht zuletzt deswegen, weil mich die schneidigen Berater, die erst zu meinen Eltern und später auch zu mir nach Hause kamen und mir meinen ersten Bausparvertrag mit einer horrenden Sparsumme und einer dementsprechenden Bearbeitungsgebühr andrehten, total fasziniert hatten. Vor allem aber hinterließen sie bei mir neben den Vertragskopien mit imposanten Unterschriften den Eindruck, dass sie mit ihrem eloquenten Gefasel viel Geld verdienen würden. Ein Kommilitone, der bei einer Bausparkasse tätig war, verschaffte mir den ersten Nebenjob, der dann fast übergangslos mein Hauptjob wurde. Es gab Zeiten, da wollten alle Bausparverträge. Wegen der staatlichen Förderung und den Prämien. Als Bausparverträge aus der Mode gerieten, kam zum ersten Mal die Phase, wo ich mich richtig bewegen musste. Alterssicherung durch Lebensversicherungen war jetzt der Hit. Natürlich war ich dabei. Lebensversicherungen hatten den Vorteil, dass sie, im Gegensatz zu Bausparverträgen, nicht so kompliziert zu erklären waren. Die Funktion von Bausparverträgen verstand ich lange Zeit selbst nicht. Zu Beginn musste ich häufig in meinen Unterlagen nachschauen, später hatte ich Ansparsummen, Zinssätze, Zuteilungen und Tilgungen im Kopf. Entscheidend war immer, die Bearbeitungsgebühr zu verschweigen, aber es beruhigte meine Skrupel, weil das ja im Kleingedruckten nachzulesen war, auch wenn man es kaum entziffern konnte. Überhaupt ließ sich rhetorisch einiges bewegen. Leider war das Im Nachhinein betrachtet der entscheidende Grund, weshalb ich es bis zuletzt nicht zu einem wirklichen Top-Berater gebracht hatte. Und dass, obwohl mir die Wichtigkeit des persönlichen Auftretens bewusst war. Seriosität und zur Schau gestellte Kompetenz, am besten einen leichten Hang zum Biederen. Sakko, Schlips, schwerer Aktenkoffer und großer Taschenrechner.
Dabei war die Ausübung eines halbwegs ernsthaften Berufes, wie den eines Bausparberaters, gar nicht vorgesehen, jedenfalls nicht von mir selbst. Lange Zeit fühlte ich eine ausgeprägte musikalische Ader in mir und hatte mehr eine Karriere auf Bühnen als in Wohnzimmern im Kopf. Rockmusik war mein Thema schlechthin, Gitarrist einer Rockgruppe im Speziellen. Meinem ersten Auftritt durfte meine Mutter schon beiwohnen, als ich noch mein kleines Zimmer im Dachgeschoss unseres Reihenhauses in Horn hatte. Sie machte sich, wie sie mir später erzählte, zum ersten Mal ernsthafte Gedanken um meine psychische Disposition, nachdem sie mich unfreiwillig dabei ertappte, wie ich mit dem Chromrohr ihres Staubsaugers auf den Knien Jimmy Page’s Gitarrensolo in Stairways to heaven mitspielte. Angeblich hatte ich sie an den Rand der Ohnmacht gebracht, allerdings nicht vor Begeisterung, wie die meist weiblichen Fans, die in meinem Traum direkt vor mir an der Bühne klebten, sondern, weil ich eine riesige Schramme in der Tür des Schleiflackschrankes hinterlassen hatte. Gut achtzehn Jahre später fegte ich unter ähnlichen Umständen, es war ebenfalls mit einem Staubsaugerrohr und diesmal bei einem Gitarrensolo von Mark Knopfler, Carlas thailändischen Holzbuddha aus dem Wohnzimmerregal. Einer der bedeutungsvollen, aufrecht gestellten Finger war abgebrochen und leitete eine einwöchige Ehekrise zwischen uns ein.
Obwohl ich gerade einmal eine Gitarre von einer Geige unterscheiden konnte und nicht einen einzigen Griff beherrschte, war mein erstes Instrument gleich eine Strom-Gitarre. Klotzen statt kleckern. Ich hatte sie einem entfernten Bekannten für 175 Mark abgekauft, der sie zwei Jahre lang nicht loswurde und sich riesig über dieses unverhoffte Geschäft freute. Vor dem Spiegel im Flur sah ich blendend aus. Nachdem ich das alte Röhrenradio meiner Eltern mit den ersten brachialen Gitarrenanschlägen in Elektroschrott umgewandelt hatte, kaufte ich mir von meinem kargen Lehrlingslohn eine einfache Verstärkeranlage und begann unter Anleitung eines Freundes die ersten Griffe zu erlernen. Fortschritte stellten sich nur mühsam ein, nur langsam lernte ich dazu, auch weil ich zu faul war, um zu üben.
Den Grundstein meiner Musikerkarriere wollte ich ein paar Jahre später auf einem Bauernhof nördlich von Bremen legen. Wir starteten dort unser erstes Bandprojekt: Zwei Gitarristen, ein Bassist und ein Schlagzeuger. Erwähnenswert ist, dass ich nicht einer der beiden Gitarristen war, weil ich zwischenzeitlich das Instrument gewechselt hatte. Statt der Gitarre war es jetzt das Schlagzeug. Man könnte dies als rein pragmatische Entscheidung aus Kostengründen sehen, schließlich kostete ein Marshall-Verstärker mit zugehörigem Boxenturm ein Vermögen. Grund der Umstellung war jedoch, dass ich meine Gitarre nie annähernd beherrschte oder anders ausgedrückt, außer einer Handvoll Griffen nichts weiter zustande brachte. Obendrein waren mir Akkorde oder Harmonien bis dahin so fremd wie chinesische Schriftzeichen.
Dafür entdeckte ich ein Gefühl für Rhythmus und glaubte bald, für das Trommeln geboren zu sein. Mein erstes Schlagzeug stöberte ich in einem Bremer Instrumentenladen auf. Es war preiswert und bestand aus vielen Teilen, unter anderem zwei Hängetoms und drei Becken. Leider klang es wie ein Set aus leeren dänischen Keksdosen, was ich erst relativ spät wahrnahm. Ich brauchte also ein neues Instrument. Dieses kaufte ich im Musikinstrumentenladen an der Hamburger Reeperbahn und hatte für die nächsten drei Monate keine einzige Mark mehr zur eigenen Verfügung. Natürlich hatte ich diesmal zwei sachverständige Freunde mit dabei. Diesmal sollte nichts schiefgehen. Bis zur Rückfahrt nach Bremen, ich hatte mir den Opel Rekord Caravan meines Vaters für den Transport geliehen, war es auch so. Leider endete sie in Höhe des Grundbergsees. Wir hatten so intensiv über das neue Instrument diskutiert, dass ich vollständig vergas, dass das Auto auch einen vierten Gang besaß. Meine schon exorbitant hohe Rechnung für das Schlagzeug wurde noch einmal um 600 Mark für einen gerissenen Kühler und eine defekte Zylinderkopfdichtung plus Abschleppgebühren erhöht.
Unser Sound auf dem Bauernhof war eigenwillig, einige unserer intensivsten Kritiker behaupteten, unerträglich. Wir spielten Eigenkompositionen und bekannte Stücke, die nur wenige Harmonien hatten, dafür aber irre lang waren, wie beispielsweise Evil Woman von Spooky Tooth oder In A Gadda Da Vida von Iron Butterfly. Fehlende musikalische Kompetenz kompensierten wir durch Lautstärke und verschlissen eine Unmenge an Sicherungen für unsere Verstärker. Die schwarzweißen Holsteiner Kühe auf der angrenzenden Weide jedenfalls, eigentlich ganz zutrauliche Tiere, wirkten nach unseren Übungssequenzen immer leicht verstört und verzogen sich meistens, insbesondere wenn wir uns an unseren Eigenkompositionen probierten, in die hinterste Ecke der Weide zurück. Dort warteten sie, ähnlich wie bei einem Unwetter, bis sich der Donner verzogen hatte.
»Guten Morgen, Simon«, flötete Martina am Empfang, als ich kurz vor neun Uhr durch das in petrol-weiß und mit der monumentalen Grafik zweier nebeneinanderstehender Weinflaschen drapierte Foyer unserer Bausparkasse stapfte.
»Morgen Tina, wie geht es dir?«
Ich ging zu ihr an den Empfangstresen. Der Blick in ihr wie immer tief ausgeschnittenes Dekolleté mit den beiden gepuschten Kugeln hatte für mich stets einen Hallo-Wach-Effekt. Heute hatte sie noch etwas Glitzerpuder aufgetragen.
»Und was hat die letzte Nacht gebracht?«, fragte ich süffisant.
»Ach, Simon, in der Woche läuft doch nicht viel. Nach dem Fitness-Studio noch ein bisschen Fernsehen und dann ins Bett.« Ich war mir bis zuletzt nicht schlüssig, was mich mehr faszinierte, ihre Schönheit oder ihre Dämlichkeit.
»Na, vielleicht können wir ja mal zusammen einen Cocktail trinken gehen«, sagte ich. Mir fiel die Weihnachtsfeier vor zwei Jahren ein. Es war weniger die Feier selbst als mehr unsere Nummer auf der Rückbank ihres Audi A3 inmitten eines gigantischen Schneetreibens. Seit diesem denkwürdigen Tag spürte ich auch meine Rückenschmerzen am sechsten Lendenwirbel wieder, die ich längst glaubte, überwunden zu haben.
»Sehr gern Simon«, säuselte sie, »sag’ nur Bescheid.«
Meine Uhr zeigte zehn nach neun. Ich zuckte zusammen und setzte mich mit einem gezwungenen Lächeln in Bewegung. Unsere heutige Teamsitzung war um 9:00 Uhr angesetzt. Dass es meine letzte werden würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Alle sieben Bereichsleiter, darunter drei Frauen, saßen am lang gezogenen Buchentisch mit Chrombeinen und blätterten geschäftsmäßig in ihren Akten, als ich den holzgetäfelten Sitzungssaal betrat. Ich verfluchte Carlas Warmwasseraktion am Morgen zum zweiten Mal.
»Guten Morgen, Herr Lüdenscheidt, wir sind wohl ein wenig spät«, sagte Köhler ironisch und blickte mich halb vorwurfsvoll, halb mitleidsvoll an. »Ich hatte mich schon schweren Herzens mit dem Umstand abgefunden, heute auf Sie verzichten zu müssen.«
Sehr gerne du dämliches Sackgesicht, dachte ich und ging wortlos zu meinem Platz. Die anderen lächelten in sich hinein. Burghardt Köhler war seit sieben Monaten mein Chef. Kam irgendwo aus Westfalen und war arrogant, machtgierig und hinterfurzig, was ich als eine äußerst problematische Kombination ansah.
»Vielleicht können Sie uns einmal den Grund schildern, warum Sie uns geschlagene fünfzehn Minuten unserer wichtigen Zeit stehlen.« Alle starrten zu mir.
»Wir hatten ein kleines sanitäres Problem zu Hause«, sagte ich einsilbig während ich mich setzte.
»Ist dir ein Stück Seife ins Klo gesprungen?«, raunte Fredi neben mir und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Es scheint heute sowieso Ihr problematischer Tag zu werden, Lüdenscheidt«, sagte Köhler und blickte ernst auf sein Notebook. »Zu Ihrem kleinen sanitären Problem kommt noch ein geschäftliches Problem hinzu, wenn ich mir die Aufstellung Ihrer Abschlüsse ansehe.« Alle starrten mich an wie den Papst, der die Ostermesse verpennt hatte. Blöde Bande! Der letzte Monat lief schlecht. Na und? Lief doch überall schlecht. »So? Warum denn?«
»Tja, wie soll ich sagen, Sie fallen ein bisschen aus der Rolle, Lüdenscheidt. Bei allen anderen waren die Abschlüsse gut bis normal. Brettschneider, zum Beispiel, wunderbar, oder Frau Nerlinger.« Brettschneider, diese feiste Arschbacke, schielte lächelnd auf seine Wurstfinger und ließ die Daumen kreisen.
»Wir hatten eine schlechte Phase«, sagte ich, »das wird…«
»Wie, wir? Ich denke eher Sie, Lüdenscheidt.«
»Nein, ich meinte, wir! Frau Fehrenkötter ist vor zwei Wochen in Schwangerschaftsurlaub gegangen. Wegener ist erst seit einem Monat in meinem Team. Der hat noch keine Routine. Ich denke, dass sich alles bald stabilisieren wird.« Ich hatte zwar keinen Schimmer, wie, aber ich musste diesen Choleriker beruhigen. Köhler schien es allerdings wissen zu wollen. Er fragte mich nach irgendwelchen Strategien und Ideen. Ideen hatte ich eine ganze Menge, eine Strategie hatte ich noch nie.
»Lüdenscheidt, ich gebe Ihnen jetzt mal einen Rat, wenn Sie verstehen, was ich meine. So von Kollege zu Kollege. Es wird dringend Zeit, dass Sie die Arbeitsweise in Ihrem Team mal grundsätzlich hinterfragen. Mir fehlt da ein Konzept, mir fehlen überhaupt Erfolg versprechende Ansätze.«
Mein Hals wurde dicker und dicker und nahm die Ausmaße von Alex’ altem Schwimmreifen an. Irgendetwas hatte dieser Idiot gegen mich. Meine Antwort war spontan, kam aber vom Herzen.
»Sagen Ihnen eigentlich die Worte Leck mich am Arsch etwas?«, hörte ich mich fragen. Fünf Sekunden Schweigen. Alle starrten mich mit ungläubigen Blicken an. Den dämlichsten Gesichtsausdruck machte ich bei Köhler höchstpersönlich aus. Er fing sich, stand polternd auf und bellte: »Was läuft denn hier ab? Das ist doch ein schlechter Film, oder? Was glauben Sie, Lüdenscheidt, wer Ihnen hier gegenübersitzt? Ich bin es, Ihr Chef, Lüdenscheidt! Ich muss mich oben verantworten für den ganzen Bockmist, den Sie angerichtet haben und wahrscheinlich weiter anrichten, auch wenn Sie um diese Tageszeit noch nicht in der Lage zu sein scheinen, das richtig einordnen zu können. Und ich treffe hier die Entscheidungen! Und ich sage Ihnen eins, Lüdenscheidt, diese Nummer wird mit Sicherheit Konsequenzen haben.
Darauf können Sie jetzt schon einen rausdrücken!« Betretenes Schweigen.
»Wissen Sie was, Chef Köhler?«, entgegnete ich trocken wie ein Dom Pérignon in die Friedhofstille hinein, »Wie ich schon andeutet habe, Sie können mich mal. Ich kündige!«
Ich stand ruhig auf, nahm meine Tasche und schlenderte, von verstörten und mitleidigen Blicken verfolgt, zur Ausgangstür des Besprechungsraumes, wo ich mich noch einmal umdrehte. »Und was ich Ihnen noch sagen wollte, Köhler, falls ich noch einmal auf die Welt kommen sollte, möchte ich so sein wie Sie.« Ich zog eine Fratze und gleichzeitig den Kopf zurück, schmiss die Tür zu und eilte mit schnellen Schritten dem Ausgang entgegen.
»Mach’s gut, Tina, das war mein letzter Arbeitstag in dieser Scheißbude«, rief ich, als ich am Empfang vorbeischnellte. »Ich komme morgen noch mal vorbei und gebe die Schlüssel und den ganzen anderen Plunder ab. Und dann nehme ich meinen Resturlaub.«
Martina, die sich gerade die Finger manikürte, hob den Kopf und starrte mich an, als wäre ich gerade mit einem Auto durch die geschlossene Tür in die Empfangshalle gefahren. Sie brachte kein Wort heraus. Ohne Worte gefiel sie mir wesentlich besser, schon damals auf der Rückbank ihres Autos. Mir war jetzt nach einem Bier.
»Hey Simon, was treibst du denn um diese Zeit hier? Machst du heute blau?« Andy glaubte seinen müden Augen nicht zu trauen, als er aus der Küche kam und hinter den Tresen gehen wollte, an dem ich auf einem der Barhocker Platz genommen hatte.
»Kann man so sehen, Andy, allerdings nicht nur heute. Wie es aussieht, die nächsten Wochen.«
»Versteh’ ich nicht. Bist du krank oder hast du dir Urlaub genommen?«
»Weder noch, ich habe gekündigt!«
»Wie bitte? Das kann ich nicht glauben. Willst du ein Bier?« Andy machte ein Gesicht, als ob ich ihm gerade erzählt hätte, dass ich unter Menstruationsbeschwerden leide.
»Ja, ein großes.«
Andy fischte ein frisch gespültes Glas aus dem Abtropfsieb und hielt es unter den Zapfhahn, um die erste Lage einzufüllen.
»Und kann man mal fragen, warum du gekündigt hast?« Andy stellte das Glas ab. »Hast du was Besseres gefunden oder hast du mit Carla vereinbart, dass sie ab
jetzt allein das Geld verdient?«
»Quatsch nicht so einen Blödsinn daher. Das ist kein Spaß. Ich habe aufgehört mit diesem Theater. Ich wollte schon lange Schluss machen. Seit ich in dieser Bude angefangen habe, ging mir nichts anderes durch den Kopf, als etwas anderes zu machen. Leider kam ich nie darauf, was das sein könnte.« Ich fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand eines Aschenbechers. »Weißt du, wie lange ich schon dort bin? Achtzehn Jahre! Achtzehn Jahre Finanzberater! Der absolute Wahnsinn.«
»Wieso das denn?«
»Weil dieser Job dich spaltet. Du drehst Leuten Dinge an, an die du selbst nicht glaubst.«
»Aber Bausparen ist doch nicht schlecht.«
»Bausparen. Es geht doch nicht nur um Bausparen. Lebensversicherungen meine ich, Rundum-Sorglos-Pakete, Renten- und Immobilienfonds. Damit verdiene ich mein Geld.«
»Na und? Ich sehe dein Problem nicht.«
»Du siehst mein Problem nicht? Ich kann dir helfen. Es müssen Abschlüsse her, und zwar immer mehr. Der Markt ist groß und unüberschaubar. Die Leute laufen unserer Scheißbude nicht die Türen ein. Ich muss zu den Leuten. Von morgens bis abends, von montags bis freitags, auch schon mal am Samstag. Die meisten wollen das aber gar nicht. Die informieren sich lieber im Internet und stellen fest, dass es wesentlich günstigere Versicherungen gibt, als die, die ich ihnen versuche anzudrehen. Weil sie im Internet nämlich nicht meine Provisionen mitbezahlen müssen. So läuft der Hase.«
»Und deswegen hast du gekündigt? Ich meine, das geht Tausenden so.«
»Gekündigt habe ich wegen meines Chefs, dem Herrn Obercholeriker.«
»Verstehe ich nicht.«
»Dem fiel heute Morgen nichts anderes ein, als mich nach allen Regeln der Kunst zusammenzufalten. Vor versammelter Mannschaft. Ohne Grund, verstehst du, dem war nur ein bisschen danach.«
»Und wie geht es jetzt weiter, ich meine, was willst du jetzt machen?« Andy stellte mir das Bier vor die Nase, nachdem er noch einen letzten Schuss aus dem Zapfhahn draufgesetzt hatte.
»Das weiß ich nicht«. Der erste Schluck schmeckte furchtbar, wahrscheinlich lag es an der Zeit. Ich konnte mich nicht entsinnen, wann ich zum letzten Mal um kurz nach zehn Uhr morgens ein Bier getrunken hatte. »Ich denke, es wird sich schon etwas ergeben. Vielleicht mache ich mich selbständig.«
»Ich hab' da was für dich. Wenn du willst, kannst du bei mir anfangen. Nur für eine Übergangszeit, meine ich«, sagte Andy plötzlich und stülpte dabei seine Lippen. »Ich muss mich im Augenblick um beide Läden kümmern. Wenn du das Stonehenge ein bisschen unter deine Fittiche nehmen würdest, könnte ich mehr Zeit in das Cricklewood investieren, da geht es im Augenblick
drunter und drüber, weißt du.«
»Wie stellst du dir das denn vor? Ich habe doch keine Ahnung von diesem Geschäft«.
»Ach, das ist doch kein Problem für dich. Du machst den Tresen, ein bisschen Zapfen und Kaffee und so, und dann musst du nur darauf achten, dass der Laden läuft. Das Personal muss funktionieren und die Kunden müssen zufrieden sein, aber das weißt du doch alles selbst.«
Ich verfolgte einen Biertropfen, der sich an der Glasaußenwand nach unten bewegte. Das wäre ja eine schräge Geschichte. Ich als Zapfer in einer Kneipe. Andy hatte mir seine Riesenpranke auf die Schulter gelegt und nippte an seinem Kaffee ohne Milch und Zucker. »Und dann ist noch wichtig, das alles Fehlende rechtzeitig bestellt und die Lieferungen überwacht werden, aber das zeig ich dir noch.«
Andy war schon beim Einweisen, obwohl ich noch gar nicht zugesagt hatte.
»Und wie wäre meine Arbeitszeit? Du öffnest den Laden doch erst um zehn, und dann geht es bis Mitternacht, oder?«
»Na ja, du bist dann um neun Uhr hier und gegen ein Uhr nachts wieder zu Hause«, sagte Andy und fing an zu schmunzeln.
»Sag mal, spinnst du? Was soll ich denn Carla sagen? Das wird so oder so noch ein nicht abzuschätzendes Problem.« Mir fiel siedend heiß ein, dass Carla noch nicht einmal wusste, dass ich meinen Job gekündigt hatte, und das pikanterweise just an dem Tag, an dem sie Fachbereichsleiterin wurde oder werden wollte. Es schien der Tag der Karrieresprünge zu sein.
»War ein kleiner Scherz, Baby. Du müsstest jetzt mal dein Gesicht sehen. Spaß beiseite, du könntest zeitmäßig so arbeiten, wie in deiner Firma, zumindest so ähnlich. Du könntest beispielsweise um zehn Uhr anfangen und abends gegen acht aufhören, mit Gleitzeit, versteht sich. Und natürlich nur von Montag bis Freitag. Die andere Schicht übernehme ich wie gehabt.« Andy schaute mich erwartungsvoll an.
»Am Samstag fahre ich mit Carla und Alex erst einmal eine Woche in Urlaub. Ich überleg’ es mir, okay?« Ich trank das Bier in einem Zug aus und ließ mir von Andy ein weiteres zapfen.