Читать книгу Es Geht Auch Anders - Ulrich Paul Wenzel - Страница 5
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ОглавлениеFür das Besondere in unserer Beziehung hatte ich scheinbar nicht das richtige Gespür. Carla fühlte sich bemüßig, mich immer wieder aufs Neue daran zu erinnern. Das Entscheidende war eigentlich nur ein kleines Element. Ein Kulturelement, wie Carla sich ausdrückte, als sie es fast auf den Tag genau vor vier Jahren in unsere Ehe einführte. Sie schien in einer ihrer seltenen friedlichen Phasen Zeit zum Nachzudenken gefunden zu haben. Über mich, natürlich, über uns beide, insbesondere jedoch über unsere nur noch im Schongang dahindümpelnde Beziehung. Unter der Ausbeute ihrer Überlegungen hatte ich bis zum heutigen Tage zu leiden. Ein Tag im Monat, so hatte Carla es sich ausgedacht, sollte nur für uns beide reserviert sein. Für gemeinsame Aktivitäten und Erfahrungen, wie sie es nannte. Wertfrei betrachtet war dagegen nichts einzuwenden, was war schon ein Tag im Monat?
Ich nickte damals leichtfertig und signalisierte ihr meine grundsätzliche Zustimmung. Den ersten Schock bekam ich schon kurz nachdem ich das Nicken beendet hatte und mich wieder dem Sportteil des Tagesspiegels zuwenden wollte. Ihr schwebte der Freitag vor! Ausgerechnet der Freitag, an dem ich schon jede Menge gemeinsamer Aktivitäten hatte. Nicht mit Carla. Freitags trafen wir uns bei Andy im Stonehenge. George und Frank waren meistens auch dabei. Wir tranken ein paar Mollen und quatschten über Fußball, alte Zeiten und Frauen, meistens in dieser Reihenfolge. Bedauerlicherweise hatte ich keine wirklichen Argumente gegen den Freitag. Andy und George zählten bei Carla überhaupt nicht, Frank nur halb. Ich witterte sofort Vorsatz hinter ihrem Vorschlag und wurde diese Vermutung nicht mehr los, insbesondere als bald nicht jeder vierte, sondern jeder zweite Freitag für Aktivitäten und Erfahrungen draufging.
Die Federführung bei der Programmgestaltung lag fast ausschließlich in Carlas zarten Händen, was auch an meinem fehlenden mentalen Zugang zu diesem Kulturtag lag. Meine persönliche Wahrnehmung, dass der Spaßfaktor sich an diesen Freitagen bei Null einpendelte, konnte sie überhaupt nicht teilen. Unsere Kulturtage, das fiel mir irgendwann auf, hatten eine frappante Ähnlichkeit zu Carlas Samstagsausflügen mit Rita. Das planmäßige Abgrasen von Kaufhausetagen, Shopping-Malls, Boutiquen und Schuhläden war auch unser Schwerpunktthema Nummer eins, allein das Planquadrat war ein anderes als mit Rita. Lass uns doch mal zum Ku’damm, Sweety, hatte sie damals geflötet, dort kommen wir selten hin. Mein Gesicht schien kurz nach Carlas Verkündung zu einer Fratze mutiert zu sein. Sie schob jedenfalls schnell den Satz »So schlimm wird es wirklich nicht, Sweety« nach.
Obwohl ich glaubte, sowohl Carlas herausragende als auch ihre unterentwickelten Begabungen zu kennen, überraschte sie mich an diesen gemeinsamen Kulturtagen immer wieder aufs Neue. Ich hatte mir nie vorstellen können, wie es möglich war, in atemberaubend kurzen Zeiträumen Geldbeträge in schwindelerregenden Größenordnungen auszugeben. Carla konnte es mir zeigen.
»Und, Sweety, wie sehe ich aus?« Carla stolzierte mir aus der Umkleidekabine entgegen, als wenn ich die entscheidende Stimme beim Fernseh-Casting für eine Modelkarriere hatte.
»Absoluter Wahnsinn, Carla. Steht dir echt gut. Eine unglaubliche Farbkombination. Wenn du mich fragst, es ist für dich persönlich geschneidert. Pack es ein«, sagte ich und glaubte, ganz überzeugend gewirkt zu haben. Irgendwie jedoch schien mein Gesichtsausdruck nicht mit meinen Worten zu korrespondieren.
»Simon, du willst nur schnell weiter. Ich will von dir keinen schnellen Zuspruch. Ich möchte eine objektive Beratung von dir und ich finde, dass dies möglich sein sollte. So häufig sind wir ja nicht zusammen unterwegs.«
Eine objektive Beratung wollte sie nicht wirklich, dachte ich etwas irritiert. Sollte ich ihr tatsächlich sagen, wie behämmert sie in diesem Folklorerock aussah und damit mein Wohlbefinden für das ganze Wochenende aufs Spiel setzen? Ich probierte auf die sanfte Tour, etwas konkreter zu werden. »Na ja, Carla, das Top sieht wirklich gut aus. Mit dem Rock solltest du vielleicht warten. Ich denke, da findest du noch etwas Besseres.«
»Was du immer hast. Was gefällt dir denn nicht an diesem Rock? Ist doch mal was anderes.«
»Mir gefällt er eben nicht so gut. Du hast mich gefragt und das ist meine Antwort. Meine ganz subjektive Meinung. Aber wenn er dir gefällt, dann nimm ihn doch einfach mit.«
»Ich will den Rock nicht einfach nur mitnehmen! Ich will, dass das, was ich mir kaufe, auch dir gefällt.«
Als wenn das jemals eine Rolle spielte. Über die Hälfte ihrer unzähligen Klamotten in unserem zwei Meter hohen und mehr als vier Meter breiten Schlafzimmerschrank, von dem sie mir gerade einmal einen Meter zustand, bedurften nach meinem persönlichen Dafürhalten einer intensiven Erläuterung. »Mach doch, was du willst, Carla, nur mach was.«
»Du bist nicht gut drauf, Simon, das merke ich«, knurrte sie, während sie in dem eigenartigen Fummel mit den Etiketten und Preisschildern vor mir stand wie eine nur halb dekorierte Schaufensterpuppe, »vielleicht sollten wir wieder nach Hause fahren.«
Ihr letzter Satz veranlasste mich fast zu einem Freudensprung. »Wieso bin ich nicht gut drauf? Du wolltest meine Meinung hören, Carla, meine ehrliche Meinung, und du musst auch mal damit umgehen können, dass mir etwas nicht gefällt.«
Ich wünschte mir in diesem Augenblick eine dieser Verkäuferinnen, die sonst immer zur Stelle waren, wenn man sie nicht brauchte. Ich wünschte mir ihre Phrasen: »Wenn ich Ihre Figur hätte, würde der Rock nicht mehr hier hängen. Sie sind wirklich eine der wenigen Frauen, die diesen Rock tragen kann.« Wir wären schon längst an der Kasse oder schon draußen.
»Gut Simon, ich überleg es mir noch einmal.« Carla drehte sich spontan um und verschwand, eindeutig weniger schwungvoll als sie herausgekommen war, in der Umkleidekabine. Exakt anderthalb Minuten später kam sie wieder zum Vorschein. Ihre Augen sprachen: »Das ist heute ein absoluter Scheißtag!« Wir verließen den Laden, Carla vorweg und ich mit einem Abstand von ungefähr zwei Metern hinterher.
Dummerweise erholte Carla sich schnell. Ich hatte darauf spekuliert, sie würde das umsetzen, was sie kurz hatte anklingen lassen und die Tournee abbrechen. Wir würden nach Hause fahren, den Fernseher einschalten und irgendwann einschlafen. Tatsächlich hatte sie einen neuen Einfall, der so neu auch nicht war, mich aber trotzdem auf dem falschen Fuß erwischte. »Wir schauen jetzt mal, ob wir für dich etwas finden, Sweety.«
»Ich habe alles, Carla.«
»Komm Simon, irgendetwas finden wir schon.« Das irgendetwas irritierte mich und ließ in mir das ungute Gefühl aufkommen, dass sich jetzt alles noch verschärfen könnte.
»Du solltest dir wieder mal ein neues Sakko zulegen, Sweety«, begann sie noch auf der Rolltreppe in den zweiten Stock von Wertheim, und ihre Augen hatten wieder Glanz angenommen. »Denk an deinen Job. Die beiden, die du hast, sind ein bisschen langweilig geworden, findest du nicht auch?« Wie kam sie denn darauf?
»Ich weiß nicht, Carla, ich habe eigentlich gar keine Lust auf ein neues Sakko. Ich denke, da muss man sich mehr Zeit nehmen und auch in andere Geschäfte schauen. Vielleicht nächstes Wochenende?«
»Nächstes Wochenende? Wir haben doch heute Zeit genug. Komm, Sweety, das ziehen wir jetzt durch, nicht nächstes Wochenende.« Ich hatte den niederschmetternden Eindruck, Carla hatte gerade wieder ihre Betriebstemperatur erreicht.
»Aber das ist hier so unübersichtlich. Wir brauchen bestimmt eine Stunde, nur um einen Überblick zu bekommen.«
»Ach was, das geht ganz schnell, Sweety, glaub es mir. Ein wenig kennen wir uns ja auch aus.« Es war schon rührend, wie sie mich in ihre Kompetenzzuteilung mit einschloss. Wir rollten der Herrenabteilung entgegen. Schon der Anblick der schier endlosen Kleiderreihen verursachte eine atmosphärische Störung in meiner Magengegend. Carla steuerte direkt von der Rolltreppe aus auf eine lange Reihe von Sakkos zu, die sie in einer geschätzten Entfernung von fünfzig Metern gesichtet hatte. Schon diese Orientierung und ihr Gespür für das Wesentliche waren in meinen Augen bemerkenswerte Leistungen. Ich schlenderte in dem deprimierenden Bewusstsein hinterher, nicht den Hauch einer Chance zu haben, den Lauf der Dinge irgendwie bremsen zu können. Als ich Carla erreichte, hatte sie schon zwei Sakkos aus der Reihe gezogen und über die anderen gelegt. »Wie findest du so etwas, Sweety? Probier' doch mal.«
Ich hielt es für angebracht, nicht direkt darauf zu antworten. Mit beiden Teilen hätte ich im Zirkus auftreten können. Ich wurde das schon lange in mir verankerte Gefühl einfach nicht los, es wäre irgendeine Art Rache von Carla, mir irgendwelche Sachen zu verpassen, mit denen ich überall den Kasper geben konnte. Ich sollte sie mal fragen, was ich ihr getan habe, stattdessen fragte ich: »Welches zuerst, Carla? Dieses Gesprenkelte mit den Riesenknöpfen?«
»Ja, das finde ich echt scharf.«
Warum werden andere Frauen im Alter seriös und gemäßigt und Carla nicht, dachte ich und zog das schwarz-weinrote Teil an. Warum steht sie auf Sachen, mit denen man überall, wo man erscheint, das pure Vergnügen hervorruft? Warum nicht einmal etwas Klassisches, etwas weniger Ausgefallenes?
»Wo ist denn ein Spiegel, Carla? Ich glaube, ich sehe aus wie ein Clown.«
»Red' doch nicht so einen Blödsinn. Du siehst rattenscharf aus, Sweety. Das Ding kannst du gleich anlassen. Ich geh’ mit dem Anhänger zur Kasse und deine alberne Cordjacke lassen wir uns einpacken oder entsorgen.« Hilflos sah ich mich nach einem Spiegel um.
»Und erzähl’ nicht, dass es unter den Armen spannt, Simon, das tut es nämlich nicht! Das sehe ich von hier. Es ist genau deine Größe.«
Wir gingen zu einem Spiegel am anderen Ende des Ganges.
»Carla, ich sage dir ganz ehrlich, mit diesem Ding habe ich ein Problem.«
»Wieso hast du damit ein Problem?«
»Ich weiß nicht, zu welcher Gelegenheit ich das anziehen soll.«
»Das kannst du zu jeder Gelegenheit anziehen. Das kannst du auch in der Firma tragen.«
Ganz Unrecht hatte sie nicht. In meiner Firma gab es ein paar trendige Spinner, die auf solche Sakkos abfuhren. Die kamen vor ein paar Jahren mit ihren zusammenklappbaren Aluminium-Tretrollern ins Büro, die kurze Zeit darauf von der Geschäftsführung verboten wurden, weil einer dieser Kauze gegen die riesige Phoenix-Palme im Eingangsbereich gekarrt war und drei Wochen aufgrund zwei gebrochener Finger der rechten Hand keine Verträge schreiben konnte.
»Carla, versuche bitte nicht, es mir einzureden!«
»Na gut, Simon, zieh es aus. Wir probieren das andere.« Sie stolzierte zur Kleiderreihe zurück. Aber das andere Sakko war nicht mehr da! Ich spürte eine spontane Erleichterung. Carla wühlte hektisch in der Reihe herum und suchte mit wilden Kopfbewegungen die Gegend ab. Dann schien sie es entdeckte zu haben.
»Simon, ich bin gleich wieder da«, rief sie und steuerte mit zügigen Schritten einen zweiten Spiegel an, vor dem ein jüngerer Mann gerade das von Carla kurz zuvor ausgesuchte Sakko anprobierte und ein Gesicht machte wie ein Pfau, der zum ersten Mal sein Rad aus Federn sah. Mir wurde die Problemlage umgehend deutlich und instinktiv zog ich den Kopf ein. Wenn Carla in diesem Tempo auf ein Ziel zusteuerte, konnte es schon mal ordentlich krachen. Ganz bedächtig schlich ich hinterher.
»Findest Sie nicht, dass mir das Sakko auch ganz gut steht?«, hörte ich den Typen zu Carla sagen, als ich eintraf. »Eigentlich gibt es nichts, was mir nicht steht, aber dieses Sakko mit dem etwas schrägen Muster hat doch wirklich was, oder?« Er schaute Carla durch den Spiegel an. Schwarze geölte Haare, vielleicht 15 Jahre jünger als ich und meine Statur.
»Ich denke, Sie finden eins, das noch besser sitzt! Also, geben Sie das Sakko her.« Carla blieb bemerkenswert verbindlich. Der Geölte reagierte nicht.
»Du sollst das Sakko ausziehen, du Scheißer«, schrie Carla plötzlich, und mehrere Kunden drehten sich um.
»Sag mal, was ist denn mit dir los, Mäuschen, hat heute irgendetwas nicht richtig geklappt?«, blaffte der Geölte und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Und schrei mich nicht noch einmal so an, das vertrag ich nämlich nicht!«
»Ich habe gesagt, dass du das Sakko ausziehen sollst. Wir haben es uns herausgelegt und wollten es anprobieren«, erwiderte Carla wieder etwas leiser. Ich spürte ihre Spannung an den Fingern ihrer linken Hand, die nervös auf ihrem Oberschenkel trommelten. Sie sollte sich an einen netten Verkäufer wenden, dachte ich, aber es war keiner da.
»Schau mal, Mäuschen«, sagte der Geölte und schien seine Linie auch wieder gefunden zu haben, »hier hängen ungefähr fünfhundert Sakkos in der Abteilung rum. Grüne, blaue, rote, schwarze, small, medium, large und X-large. Da werdet ihr doch wohl etwas Geeignetes finden. Es muss doch wirklich nicht dieses hier sein, oder?«
Selbst ich spürte die ordentliche Portion Spott, die Carla in diesem Moment um die Ohren krachte.
»Weißt du was, du Idiot, du kannst mich mal«, sagte Carla, jetzt ganz ruhig und cool, »schmier' dir das Ding in deine öligen Locken!« Sie ging ganz dicht an ihn heran und versetzte ihm einen leichten Stoß auf die Brust. Völlig überrascht und unvorbereitet ging er zurück, geriet ins Stolpern und fiel, wild mit beiden Armen rudernd, in die am Kleiderständer hängende Sakkoreihe. Genau dort, wo Größe 50 endete und Größe 52 begann, verschwand er.
»Simon, lass uns diese Scheißabteilung verlassen, mir gefällt es hier nicht.« Carla drehte sich um und strebte auf die Rolltreppe zu. Ich trabte hinterher, mich vorsichtig umschauend, ob der Geölte uns verfolgte.
»Sag mal, wie fandest du denn diesen Spinner? Das war ja wohl das absolute Ekelpaket. Ich brauche dringend einen Grappa.« Carla hatte unverkennbar einen nicht unerheblichen Teil ihrer frischen Gesichtsfarbe verloren.
»Was soll ich sagen, Carla, natürlich war das ein Arschloch. Aber irgendein Anrecht auf dieses Sakko hatten wir auch nicht. Insofern vergiss es einfach.« Eigentlich musste ich dem Kerl sogar dankbar sein, hatte er mich doch vor einem unnötigen Sakko gerettet.
»Wir gehen jetzt ins Kino«, knurrte Carla, immer noch schwer gezeichnet von den Ereignissen der letzten halben Stunde. Eine ganz blöde Idee! Ich hatte auf einen Grappa gehofft und dann nach Hause. Das war fahrlässig. Ich hätte mir Carlas Spontaneität denken können.
Wir gingen ins City-Kino und landeten im Saal B.
Carla liebe schwülstige Romanzen, verfahrene Beziehungsdramen und knallharte Thriller, ich stand auf Zeichentrickfilme. Der Streifen, den sie ausgesucht hatte, entsprach eindeutig der ersten Kategorie. Wir kamen spät. Selbst die Beck’s-Werbung, wo sie auf einem Segelschiff ein paar Mollen öffneten und den Sonnenuntergang in der Karibik verfolgten, der definitive Höhepunkt eines jeden meiner wenigen Kinoabende, war leider schon gelaufen. Als wir mit unseren Einkaufstüten, jeweils einer Flasche Jever und einer Riesentüte Popcorn vor Reihe 5 standen, liefen gerade die ersten Sequenzen des Hauptfilms. Unsere Platznummern 22 und 23 schienen eine Ewigkeit entfernt. Carla bahnte sich den Weg durch die Reihe. Gleich auf Platz 3 hatte sich eine Frau in die Polster gedrückt, die mich trotz der Dunkelheit an eine Fahrwassertonne in der Ostsee erinnerte. Auf ihrem Schoss hatte sie den Inhalt eines Picknickkorbes für mindestens drei ausgewachsene Personen ausgebreitet. Ich entdeckte ein Fass Popcorn, zwei Tüten Haribo-Konfekt und mehrere Schokoriegel. Mit ihren fetten, wabbeligen Wurstfingern hatte sie einen Eimer Coca Cola ummantelt. Natürlich blieb ich bei ihr hängen. Die Matrone bewegte sich kein Stück, und ich bezweifelte, dass das ohne schwerem Gerät überhaupt möglich war. Kurzfristig suchte ich nach einer Möglichkeit umzukehren, stieg dann aber unter großen Anstrengungen über sie hinweg und quälte mich weiter durch die Reihe. Unsere Plätze waren die letzten beiden am anderen Ende. Wir hätten einfach von der anderen Seite kommen sollen.
»Sag mal, Sweety«, hörte ich Carlas gedämpfte Stimme, »können wir die Plätze tauschen? Ich kann kaum was sehen, vor mir sitzt so ein langes Elend.«
»Ich weiß aber nicht, wo ich mit dem ganzen Scheiß hier in meiner Hand hin soll, Carla«, raunte ich zurück, »aber wir können es ja…«
»Ihr könntet mal die Klappe halten!«, zischte es von hinten und es folgte ein anklagendes Gestammel. Carla murmelte etwas wie fuck off und stand in gebückter Haltung auf, während ich mich, die raschelnden Einkaufstüten mit Carlas Slips und meinen Socken in der Hand, auf ihren Sitz zwängte. Meine Bierflasche fiel mit einem gedämpften Poltern zu Boden und entleerte sich in Richtung Nebensitz.
»Sagen Sie mal, wie lange geht das noch so?«, hörte ich meine Nachbarin und spürte einen giftigen Blick durch die Dunkelheit.
»Entschuldigung, ich bin gleich fertig«, versuchte ich sie zu beruhigen und hoffte inständig, dass wir beim Verlassen des Kinos nicht von allen möglichen Leuten angefallen werden.
Da mich der Film nicht interessierte, machte es mir auch gar nichts aus, dass ich auf meinem neuen Platz genauso wenig sah, wie vorher Carla. Dafür spürte ich eine Sitzfeder im Hintern, was mich an lange zurückliegende Kinobesuche erinnerte. Das waren damals noch richtige Events! Wir kannten uns fast alle in dem kleinen Kinosaal im Cinema am Ostertorsteinweg in Bremen. Das Kino lag unter einer erdrückenden Wolke von Gras und Haschisch. Gequatsche, Gekicher oder ordinäres Rülpsen begleiteten jeden Film. Bei Musikfilmen wie Woodstock ging die Post ab. Die bekiffte Menge im Saal gab Szenenapplaus und einige Typen spielten mit ihren Beck’s-Flaschen Luftgitarre zu Ten Years After oder Jimmi Hendrix.
Meine linke Hand glitt zu Carla hinüber. Ich krabbelte mit den mittleren Fingern von ihrem rechten Oberschenkel zum Knie hinunter und wieder zurück. Carla ignorierte es tapfer. Nachdem sechsten oder siebten Mal versuchte ich es mit einer anderen Route. Ich krabbelte in Richtung Schambein.
»Werd’ nicht albern, Simon«, raunte sie, ohne den Kopf zu wenden, »ich möchte mich auf den Film konzentrieren.« Ich zog die Hand zurück und trank das in der Flasche verbliebene, lauwarme Bier mit einem Schluck aus. »Weißt du, wie lange der Film noch läuft, Carla?«
»Der hat doch gerade erst angefangen. Wenn dir langweilig ist, Simon, warte draußen im Foyer auf mich.«
»Entschuldigen Sie, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie nachher über den Film diskutieren? Wir verstehen sonst nämlich nur die Hälfte«, hörte ich eine kräftige männliche Stimme hinter uns. Was gibt es denn bei diesem dämlichen Streifen zu verstehen, dachte ich ärgerlich.
»Carla, ich muss mal zur Toilette«, sagte ich laut und stand auf. »Und dann warte ich draußen auf dich. Viel Spaß noch.«
Auf dem Weg zum Foyer konnte ich eine wilde Verfolgungsjagd in Saal C und ein schwülstiges Liebesdialog in Saal A simultan verfolgen.
»Entschuldigung, haben Sie WLAN?«, fragte ich das blonde Mädchen am Ticketschalter. Ich wollte die Zeit nutzen und einen ersten Blick auf die Kontaktbörse werfen, von denen Sporty so begeistert war.
»Ja, aber nicht für Gäste.« Sichtlich verdattert schaute die Kleine mich an.
»Haben Sie einen Fernseher?«
»Was sollen wir hier im Kino mit einem Fernseher?« Ihr Blick bedeutete mir: Wenn du einen Arzt brauchst, sage es mir einfach.
»Ich verstehe. Mal eine andere Frage: Wann ist der Film im Saal B zu Ende?«
Sie blickte kurz auf ihr Programmblatt.
»Um 22:15 läuft die Spätvorstellung, so gegen 21:50 ist Schluss.«
»Dann hätte ich gern noch ein Jever.«
Ich blätterte gelangweilt in den herumliegenden Programm-Flyern. Dann ging ich durch das Foyer und schaute mir die Filmplakate an. Unser Film hieß »Verstehst du das, Liebling?«. Schon bei diesem Titel bereute ich keine Sekunde, die ich verpasste. Ich dachte an Arlette. Vielleicht sollte ich sie doch einmal anrufen. Ein Anruf konnte nicht schaden. Sie erwartete meinen Anruf ja geradezu, warum hätte sie mir ihre Telefonnummer sonst geben sollen? Noch während ich mit meinen Gedanken bei Arlette war, wurde es um mich herum beängstigend voll. Saal B entließ seine Gäste, die tonlos und mit leuchtenden oder feuchten Augen an mir vorbeipilgerten. Besucher der Spätvorstellung drängten an die Kasse.
»Na, Sweety, hier gefällt es dir, was?« Carla stand plötzlich neben mir. »Wie beim Fußball, die Massen strömen, und du mit deinem Bier mittendrin. Sag mal, hast du die Sachen?«
»Alles hier drin, Carla«, sagte ich süffisant, hob eine Tüte hoch und holte einen ihrer Slips heraus.
»Sag mal, bist du bescheuert. Du kannst doch nicht meine Wäsche hier vor allen Leuten auspacken.« Carla schüttelte gereizt den Kopf und blickte sich verstohlen um.
Auf dem Heimweg schwiegen wir. Carla war noch sichtlich ergriffen von dieser erbärmlichen Schnulze und ich ging gedanklich durch, was dieser Freitag, unserem Kulturtag, so alles für mich gebracht hatte und vor allem, was ich alles verpasst hatte.