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KAPITEL EINS
ОглавлениеEs gibt Menschen, denen die Fähigkeit gegeben ist, das Ausräumen ihres Koffers nach Ankunft in ihrem Hotelzimmer wie einen Neuanfang zu zelebrieren, so, als würden sie ein neues Leben beginnen – selbst dann, wenn das Hotelzimmer nur einem Kurzaufenthalt dient. Gerne würde ich mir diese Menschen zum Vorbild nehmen, jedoch gelingt mir das nicht. Mein Kofferleeren nach Ankunft im Einzimmer-Appartement der Fachklinik für Rehabilitation nach chirurgischen Eingriffen gestaltet sich eher zäh. Zu sehr gemahnt fast jedes Teil, das ich dem Koffer entnehme, an bessere Zeiten. Da ist auch die von einem Zimmerlautsprecher verbreitete Einführungsmusik wenig hilfreich, die einsetzt mit dem ersten Satz von Beethovens Pastoral-Sinfonie, der uns, sichtlich programmatisch gemeint, heitere Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande vermitteln soll. Möglicherweise haben diejenigen, die uns mit Beethoven einstimmen, übersehen, dass alsbald, im vierten Satz, Unwetter und Sturm toben werden, die dem einen oder anderen neu angereisten Rehabilitanten, zumindest aber mir, das Unwetter in Erinnerung rufen, das wir selbst, der Medizinkunst ausgeliefert, durchlebt haben. Auf das Unwetter des vierten Satzes würde ich verzichten wollen.
Bei genauerer Betrachtung allerdings ist mein Unwetter-Vergleich unpassend, weil eher verharmlosend. Natürliche Unwetter und Gewitter hinterlassen Schäden, die in dieser oder jener Form reparabel sind. Das Unwetter, in das wir geraten waren, hat meist irreparable Schäden hinterlassen. Und Wiederaufforstung ist auch nicht. Warum? Weil wir, die wir hier angereist sind, und anreisen, um die Einrichtungen der Rehabilitationsklinik zu nutzen, fast sämtlich Operations-geschädigt sind. Rehabilitations-bedürftig kämpfen wir, nach Krebs-Diagnose und überstandener Prostata-Operation, mit den Folgen unserer Operation, die von Inkontinenz bis Impotenz reichen.
Noch im Krankenhaus wurde ich vom Operateur, wie man dort gemeinhin den mit dem medizinischen Eingriff beauftragten Arzt nannte, mit den Worten C’est la vie in die Rehabilitation entlassen. Für mich selbst habe ich das vorläufig mit Sie müssen jetzt sehen, wo Sie bleiben übersetzt, obschon das von mir befragte Nachschlagewerk übersetzt So ist es halt im Leben, und interpretiert, dass derjenige, der dies sagt, auch, um Trost zu spenden, zum Ausdruck bringen will, dass nach einem Schicksalsschlag nichts mehr zu ändern sei, es jeden hätte treffen können. Die Erläuterungen des Operateurs zu seiner c’est-la-vie-Bemerkung waren natürlich spezifischer: „Sie werden sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass nichts mehr so ist wie es war. Machen Sie sich mit dem Gedanken vertraut, dass auch Ihr Sexualleben nicht mehr comme il faut abläuft.“ Zu ersterem war wahrlich nicht viel zu sagen, meinerseits. Zu letzterem fügte er noch den Hinweis hinzu, dass es ja Hilfsmittel gebe. Über die würde ich umfassend im Rahmen der Rehabilitation unterrichtet. „In jedem Fall, nutzen Sie die Zeit der Rehabilitation, es wird eine Zeit der Ruhe. Überprüfen Sie, wo Sie stehen, finden Sie zu sich selbst.“
Die – im Hinblick auf eine möglichst erfolgreiche Therapie – von kompetenter Seite empfohlene Rehabilitations-Klinik liegt, geographisch betrachtet, recht abgelegen. Die hinter mir liegende Fahrt zum Ort der Klinik war lang und windungsreich, sie endete schließlich in dem Tal, dessen Eingang augenscheinlich auch der Ausgang ist, so als hätte die Natur Sesam-öffne-Dich nachgebaut. Unser Fahrer hatte vor Umwegen nicht zurückgescheut, wobei ich ihm unterstelle, dass er glaubte, uns die Vorzüge und Schönheiten der hiesigen Mittelgebirgslandschaft vermitteln zu müssen, denn es ist ihm bekannt, dass wir hier nunmehr einige Wochen verbringen werden. Doch weder der Landschaft noch seinem Ansinnen vermochte ich etwas abzugewinnen, zumal die begleitenden Hügel unseres Tales etwas Beengendes haben. Und mittendrin die Ortschaft, und in ihrer Mitte wiederum die Klinik. Ich erinnere mich an die Erklärung eines Naturfreundes, der der Geologie kundiger ist als ich, dass balneologische Orte typischerweise talgebunden sind, weil am Fuße der randlichen Hügel die so hochgeschätzten Wässer an Verwerfungen aufdringen, und dies wohl auch fast nur dort, längs der übersteilen Hänge.
Man kann davon ausgehen, dass der Empfehlung des Operateurs vor meinem Verlassen des Krankenhauses, nämlich zu mir selbst zu finden, ein anderes Verständnis zugrunde lag, als ich es auf Grund der zurückliegenden Ereignisse gewonnen habe, denn meines ist zunächst nur kurzfristig orientiert. Mein gegenwärtiges Verständnis ist, dass der Ortswechsel – hin zur Klinik – mich von allen Ratschlägen, besserwisserischen Kommentaren und pseudo-interessierten Fragen befreit hat, die mir Freunde und Bekannte vor und nach dem chirurgischen Eingriff unterbreiteten. Vor diesem Hintergrund hatte ich gegen den Vorschlag der behandelnden Ärzte nichts einzuwenden, möglichst umgehend das Angebot der auswärtigen Rehabilitation anzunehmen.
Ratschläge gab es – vor allem in Anbetracht der Erkrankung dieser Schwere – von allen Seiten. In ihrer Häufung wiederholten sie sich natürlich. Einige sind kaum zu ertragen. Auch die von dem Freund, der sich spontan an „ganz ähnliche Fälle“ zu erinnern vermeinte. Die Fälle sollten Mut machen: erst war da die Operation, dann die Therapie, jetzt gehen die besagten Beispiele – es sind zwei, aus verschiedenen Städten – wieder unbeschwert durchs Leben. Ich kannte schon einen der Fälle, aus früheren Erzählungen, der mit dem meinigen wenig gemein hat, so dass ich nach Möglichkeiten suchte, ihn auszubremsen. Ich fragte nach den Stadien der Tumore. Schulterzucken. Ich spezifizierte die Frage: Wie denn die Tumore klassifiziert waren? Nochmals Schulterzucken. Ich fragte nach den Behandlungen und Therapien. Rückfrage: welche gibt es denn? Strahlenbehandlung, Operation, Chemotherapie. Der Freund weiß es nicht. Möglich, dass sie unterschiedlich therapiert wurden? Vielleicht kann man das aus den empfohlenen Nachsorge-Maßnahmen ableiten? Bei dieser Frage wurde dem Befragten die ganze Angelegenheit lästig. Wie er das wissen solle, er könne den Genesenden wohl kaum Fragebögen vorlegen. Ich stimme ihm zu, weise ihn aber darauf hin, dass mangels Vergleichbarkeit seine Beispiele für mich keine Hoffnungsträger sein könnten, ernte jedoch Unverständnis und einen wenig schmeichelhaften Kommentar: Krebskranke sind schon eigenartige Menschen.
Andere, besonders ältere Anteilnehmer, wussten nur sehr wenig über das Krankheitsbild. Sie fanden alles sehr bedauerlich. Sie wussten zwar nicht genau, was so bedauerlich ist, wollten es sicherlich auch nicht genau wissen, aber endeten in ihrer Eloge auf den tapferen Patienten, das bin ich, meist bei der allgemeinen Weltlage, die ja auch immer bedrohlicher wird, und solcherart Krankheiten fördert.
Eine Subspezies dieser Gruppe ist diejenige, die sich um meine Potenz Sorgen macht, aber das sind die wenigsten, immerhin ist ihr Verlust, wenn er denn eintritt, unter Freunden ein sehr delikates Thema. Die Motivation ihrer Besorgnis erschließt sich mir nicht wirklich. Möglich, dass es von ihrer überbordenden Phantasie irregeleitete Opernfreunde sind, die mich schicksalsmäßig zwischen Farinelli und Wächtern vor dem Serail ansiedeln, oder aber möglich, dass es ihnen an Phantasie mangelt, und sie Anteil nehmen wollen, woran auch immer.
Eindringliche, fast aufdringliche Beratung wurde mir durch diejenigen Freunde zuteil, denen eines gemeinsam ist: das Interesse an der medizinischen Materie. Gewissermaßen repräsentieren sie die Gesellschaft der Freunde der Medizin. Diese Freunde, nämlich der Medizin, gehen medizinischen Dingen auf den Grund, sparen nicht mit Ratschlägen und Verbesserungsvorschlägen, und sind sowieso der Meinung, dass der Operateur auch ihre Meinung hätte zur Kenntnis nehmen sollen. Sie wissen um die Problematik für den Operateur, die Unversehrtheit des Schließmuskels wahren zu müssen, und die nervenerhaltende radikale Prostatektomie operationstechnisch zu verwirklichen. Kurzum, sie sind auf Augenhöhe mit den Kapazitäten der Uroonkologie. Sie sind auch in der Lage, alle Vorteile und alle Nachteile der invasiven Operationstechnik, im Vergleich zur konventionellen Schnitttechnik, abzuschätzen, ein Thema allergrößter Wichtigkeit bei der Entscheidung, wo und wie zu operieren sei. Sie kennen natürlich auch alle Kollateralschäden, will sagen Nebenwirkungen und Nachwirkungen der verschiedensten Therapien, die der Bedauernswerte, der durch die Operation der Prostata verlustig gegangen ist, zu gewärtigen hat.
Ebenso wenig aus dem Wege gehen konnte ich den Anmerkungen jener, die „alles“ schon mitgemacht haben. Wenn sie sich möglicherweise bislang nicht in dieser Sache geäußert hatten, weil diese Krankheit kein salonfähiges Thema war, so scheint mein Jetztzustand sie jedoch zu Anmerkungen unterschiedlichster Qualität zu inspirieren. Zwar wissen sie ob der Vielfalt ihrer Erfahrungen nicht, wie und wo sie anfangen sollen. Wenn sie denn angefangen haben, finden sie kein Ende. Sobald ich ahne, dass sie mir als Beweis ihrer Kompetenz die kaum sichtbare Narbe ihrer Operationswunde – kaum sichtbar, weil sie sich bewusst für die invasive Da Vinci Methode entschieden hatten – zeigen werden, winke ich ab. Ich habe das Gefühl, dass sie wie Kriegsversehrte sind, die darunter leiden, dass ihre Versehrtheit nicht sichtbar ist, will heißen, nicht genügend gewürdigt wird. Was Ihre Sachkompetenz betrifft, so lebt sie vom Insiderwissen. Das reicht von der Krankenhauswahl bis zum vorteilhaften Abrechnen bei der Krankenkasse. Medizinische Kommentare sind eher selten – was soll man auch noch Worte verlieren über ein Organ, das man nicht mehr hat.
Außerordentlich bedrängt fühle ich mich durch diejenigen, die noch nicht einmal vorgeben, mitfühlend oder anteilnehmend zu sein, sondern – so scheint es mir – ihren Wissenshorizont erweitern wollen. Das Spektrum ihrer Beweggründe, Interesse zu zeigen, ist sicherlich weit gespannt. Einigen Interessierten unterstelle ich, dass sie Informationen und Daten sammeln, so, als seien sie in Sachen Datenhandel unterwegs, oder für die Nachrichtenbörse, wo keine Inhalte gehandelt werden, sondern nur Worte. Was alle diejenigen bewegt, die weniger zielgerichtet in ihrem Informationshunger sind, und Interesse zeigen, ist jedermanns Interpretation überlassen. Mutmaßlich sind die Beweggründe ähnlich wie die der Katastrophentouristen, die die Rheinufer bei Hochwasser säumen – die Gelegenheit nutzend, das zu sehen und zu hören, was sie schon immer über die Prostata und ihre Altersproblematik wissen wollten.
Mit dem Aufenthalt in der Rehabilitationsklinik soll alles anders werden. Denn es ist uns von den empfehlenden Ärzten gesagt worden, dass es eine wichtige Aufgabe der Rehabilitationskliniken sei, Menschen mit gleichen Leiden zusammenzuführen, damit sie sich über ihre Probleme austauschen können und zugleich Erfahrungsaustausch betreiben. Einerseits sehe ich mit positiven Erwartungen den Austauschen entgegen, andererseits hätte ich gerne vorab gewusst, von welcher Qualität die so gelobten Gedanken- und Erfahrungsaustausche sein werden. Natürlich erhoffe ich mir eine andere Qualität der Anmerkungen von Betroffenen, verglichen mit der der Beiträge der selbsternannten Experten von der Seitenlinie. Vor allem vertraue ich darauf, dass die Betroffenen, angesichts der tiefen Spuren, die der operative Eingriff hinterlassen hat, und angesichts der drastischen Folgen für Leib und Seele, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden können, und außerdem die kommunizierten Erfahrungen nicht bei der Alters-Prostataoperation beginnen, und mit der Zahnregulierung aus der Jugendzeit enden. Aber wer weiß das schon.