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KAPITEL ZWEI
ОглавлениеGemäß freundlicher Empfehlung der Klinikleitung sollten wir, die wir erstmals von der Klinik betreut werden, uns in einer ersten Phase mit den Maßnahmen der Rehabilitationstherapie vertraut machen, ehe wir in den Therapiealltag einsteigen, wie auch immer der aussehen wird. Dies ist nicht einfach. Zwar werden wir eingewiesen durch ausgehändigte Terminpläne, Auflistung von Meilensteinen und der Darlegung des Erwartungshorizontes – hier werden wohl die Anweisungen eines Projektmanagement-Handbuchs recht genau befolgt – und auch bin ich bereits seit dem ersten Tag im Besitz eines auf meine individuellen Bedürfnisse zugeschnittenen Therapieplanes, dennoch bewege ich mich noch keineswegs sicher bei der Anwendung des Maßnahmenkataloges. Früher verschaffte man sich einen Überblick durch Befragen der als zuständig erkannten Person, heute scheint das schwieriger geworden zu sein, da wir uns wohl soeben in einer Organisationsphase der Dezentralisierung befinden. Also mache ich mich auf den Weg, mich mittels Nachfragen bei den Betroffenen zurechtzufinden.
Mein erstes Gespräch mit einem Mitbewohner der Klinik verläuft holprig. „Sind Sie auch mit Prostata hier?“ werde ich gefragt. „Nein.“ „Aha, was dann?“ „Ich bin ohne Prostata hier.“ „Ah so. Na ja. Hauptsache gesund.“ Bereits jetzt muss ich erkennen, dass ich eine der wesentlichen Zielsetzungen des Aufenthaltes, nämlich durch Gedankenaustausch mit Gleichgeschädigten das seelische Gleichgewicht wieder zu erlangen, verfehlen werde.
Es ist nur natürlich, das heißt ganz im Sinne der hiesigen Therapieschule, dass die Klinik es sich angelegen sein lässt, ihre Patienten über die therapeutischen Maßnahmen hinaus auch spirituell zu betreuen, sofern sie interessiert und motiviert sind. Den Verabredungen einiger aktiver Mitbewohner und ihrer geäußerten Vorfreude auf gemeinsame Abende konnte ich diesbezüglich schon entnehmen, dass an Möglichkeiten kein Mangel herrscht. Denn um die Therapie herum haben sich vielfältige Angebote zur Zerstreuung angesiedelt. Sie werden den Interessierten durch Aushang unterbreitet – später werde ich feststellen, dass viele Angebote identisch sind mit denen des Kurbetriebs der Gemeinde. In Kenntnis dessen wundere ich mich nicht mehr, dass mir als eine der nach-therapeutischen Betätigungen vorgeschlagen wird, einen Vortrag über eine Reise zum Nordkap zu besuchen. Ich versuche zu sortieren und zu kategorisieren, was mich – angebotsmäßig – in den nächsten drei Wochen aufheitern soll. Ein Klavierabend? Oder der wöchentliche Tanztee? Oder sonntägliche Gottesdienste? Busfahrten in die Umgebung oder in Nachbarstädte? Hier hätte ich Klärungsbedarf, was Mitreisende betrifft. Wer jemals an einer Moselfahrt teilgenommen hat, während der Mitreisende lautstark sangen, man könnte auch sagen, sich fragten, warum es am Rhein so schön ist, wird das verstehen. Bei angebotenen Spieleabenden mit Dart-Werfen ist es schon leichter auszusteigen, als auf einer Busreise. Die musische Sektion bietet Vorschläge, die von gemeinsamem Singen über Oper- und Theaterbesuche – falls sich eine Theatertruppe während des jeweils dreiwöchigen Aufenthalts des Patienten hierhin verirrt – bis zu Museumsbesuchen reicht, aber auch die Teilnahme an einem Vortrag empfiehlt, der Volkskunst und Brauchtum der Umgebung zum Gegenstand hat. Filmvorführungen verstehen sich von selbst, und das Angebot eines Kurses „Formen und Malen“ überrascht auch nicht. Fast übersehen hätte ich die Empfehlung der Teilnahme an den lebensnahen Unterweisungen „Wie verfasse ich meine Patientenverfügung“ und „Wie verfasse ich mein Testament“. In deutlicher, klarer Schrift hat jemand seinen eigenen Vorschlag hinzugefügt: „Wie gestalte ich mein Grab“.
Die Einladung der Klinik, die Rehabilitationsmöglichkeiten in ihrem Institut zu nutzen, schloss ausdrücklich Ehefrauen mit ein, mit dem Hinweis auf Wohnmöglichkeiten im Klinikgebäude oder in nahegelegenen Unterkünften. Daran erinnere ich mich augenblicklich, als ich – zu meiner Überraschung – eine nicht geringe Zahl von mitgereisten Ehefrauen unter den Klinikbesuchern zähle. Nun sind nicht ausschließlich männliche Heilungssuchende angesprochen, die Rehabilitation zu nutzen, es sind auch einige, wenn auch wenige, Heilung suchende Damen mittleren Alters vertreten. Die mitgereisten Ehefrauen unterscheiden sich von letzteren jedoch unübersehbar. Sie fallen insbesondere durch ihre Inspektionsgänge im Gebäude auf. Möglicherweise hatte diese oder jene auch schon etwas zu beanstanden. Und sie werden ebenso dadurch auffällig, dass sie sich in der Klinik wie auf einem Kreuzfahrtschiff bewegen, die verschiedenen Stockwerke wie Schiffsdecks entern und nach Gelegenheiten suchen, sich Abwechslung zu verschaffen. Ansonsten füllen sie ganze Aufenthaltsräume mit ihren Geschichten. Es sind Geschichten aus ihren Heimatorten, in denen eh alles besser ist. Zumindest darin sind sich alle Erzählungen ähnlich. Was die Krankheit ihrer Männer betrifft, so geht es immer nur um das Eine: Fortschritte bei der Bekämpfung der nach-operativen Inkontinenz. Verständlicherweise fällt es mir schwer, mich im beschriebenen Umfeld auf den Text meiner Lektüre zu konzentrieren. Oh wie schön war Panama. Als ich dort im Cafe saß, in Ruhe las, und um mich herum Spanisch geführte Gespräche nur wie Hintergrundmusik wahrnahm. Ich beschließe, das Weite zu suchen. Zum Weiten wird eines der wenigen Cafes im Ort, wo man eher dazu neigt, wortlos in seiner Kaffeetasse zu rühren als sich mitzuteilen. Hier bemühe ich mich nun, das Komplettieren des sogenannten Selbstauskunfts-Formulars vorzubereiten, das allen Neuankömmlingen ausgehändigt worden war, mit der Bitte um vordringliche Erledigung.
Nach flüchtiger Durchsicht des mehrseitigen Formulars, dessen baldige Bearbeitung, wie gesagt, uns anempfohlen worden war, bereue ich bereits meinen Entschluss, meine Zeit im Cafe für das Ausfüllen ebendieser Seiten reserviert zu haben. Eingedenk, jedoch, der ganz essentiellen Komponente des Konzeptes dieser Rehabilitationsmaßnahme: Die Ruhe ist unser höchstes Gut, unterlasse ich es, mich über dieses Formular im besonderen, und über Formulare im allgemeinen zu erregen. Abgesehen davon, dass schon viele andere sich erschöpfend zur Thematik Formulare geäußert haben und sie zu Papier gebracht haben. Ich nehme vielmehr die Autoren des Formulars beim Wort und gebe selbst Auskunft auf die Befragung, erlaube mir also eigenverantwortlich Abweichungen. Inwieweit ich mir meine Freiheit und Unabhängigkeit damit bewahre, in Hinblick auf anonymes Datensammeln, sei noch dahingestellt, auf jeden Fall aber minimiere ich damit mein Problem und schaffe Probleme für die, die die Daten einsammeln. Im Idealfall wäre das meine Variante des Schraubenschlüssels, der in einen Motor geworfen wird, um dessen Stillstand herbeizuführen. Nachdem ich mich also kritisch konditioniert habe, nehme ich einen zweiten Anlauf.
Die Aufforderung Schildern Sie Ihre Familienverhältnisse irritiert mich bereits, ich erkenne aber, dass nur Zahlen gefragt sind. Geschwister: eins, Kinder: eins, Enkelkinder: eins. Dass nicht nach der Zahl der Ehefrauen gefragt wird, empfinde ich in diesem Zusammenhang nicht als störend, aber als einen Mangel an Logik. Meine Lebensverhältnisse, die eines von seiner Partnerin getrennt Lebenden, werden bezeichnenderweise gar nicht in Erwägung gezogen. Wie wohnen Sie? werde ich anschließend gefragt. Schön, möchte man schreiben, aber das lassen die Autoren nicht zu. Sie fragen nach Ein- oder Mehrfamilienhaus. Ich setzte ein: eins, in der Absicht, Ratlosigkeit zu verbreiten, da ich bereits hier Datensammelwut von dritter Stelle erahne, mit mir nicht erläuterter Zielsetzung. Die Frage nach der Ausbildung, von mir als die Frage nach der Dauer der Ausbildung gedeutet, scheint beantwortbar. Jedoch welche Ausbildung? Die, die zu meinem Beruf geführt hat? Gleichviel, ich rechne alle Jahre zusammen: 21 Jahre, und übertrage diese Zahl in das Formular. Da kann auch ein geübter Statistiker nicht ermitteln, wieviel Jahre in welcher Anstalt – im weitesten Sinne – verbracht worden sind. Wenn denn diejenigen, die dies auswerten, rückschließen: arme Eltern, die das alles zahlten, habe ich damit kein Problem. Die Frage nach dem Beruf offeriert überraschenderweise optionale Beantwortung. Die Autoren der Befragung sind nämlich interessiert zu erfahren: Welches war Ihr längster ausgeübter Beruf, oder aber welchen Beruf übten Sie in den letzten Jahren aus? Ich erlaube mir, die Sache zu vereinfachen und entscheide mich für Freiberufler. Das ist nicht unseriös, lässt alle Möglichkeiten offen, vom Arbeitslosen über den selbständig Tätigen bis zum Vorruheständler. Lediglich die Beamtenlaufbahn habe ich damit unwiderruflich für mich ausgeschlossen.
Es folgen Fragen mit medizinischen Hintergrund. Das heißt, die allgemeine Kategorie ist abgearbeitet. Zu meiner Verwunderung fehlen demnach bei den allgemeinen Fragen einige Klassiker, wie Religionszugehörigkeit, Beruf der Eltern, Mitgliedschaften. Gemäß Fußnote dürfen die Medizin-orientierten Fragen auch im persönlichen Gespräch beantwortet und erläutert werden. Zu diesen zählen die nach operationsbedingten, vorausgegangenen Krankenhausaufenthalten und die nach bereits in Anspruch genommener psychologischer Betreuung. Folgt schließlich noch die Frage nach einem eventuell bereits gestellten Antrag auf einen Schwerbehindertenausweis. Möglicherweise eine Angelegenheit der Routine. Zum Beispiel für die nicht unbedeutende Gruppe staatlicher und städtischer Beamter und Angestellter, die Punkte für ihr Behindertenkonto sammeln. Zumindest in dieser Frage werde ich auf das Angebot eines persönlichen Gesprächs zurückkommen.