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KAPITEL VIER
ОглавлениеNach Tagen intensiver Einführung in die verschiedenen therapeutischen Übungen ist das Wochenende eine willkommene Abwechslung. Am Wochenende sind die Klinikpatienten sich selbst überlassen. Die Empfehlungen der Klinik zur ertragreichen Gestaltung der Wochenenden sind: entweder die Freizeitangebote von Klinik und Kurort in Anspruch zu nehmen, oder aber die erlernten Techniken der therapeutischen Übungen eigeninitiativ zu wiederholen, zu verbessern und zu vervollkommnen. Nach einigem Zögern entscheide ich mich weder für das eine noch für das andere.
Schon mit Eintritt in die Rehabilitation wurde uns eine Broschüre überreicht, mit der Bitte, sie zeitnah nach Entgegennahme zu studieren, um sich in einer späteren Gesprächsrunde aktiv in den Erfahrungs- und Meinungsaustausch einbringen zu können. Der Titel: Partnerschaft und Sexualität im Alter, Missverständnisse und Möglichkeiten nach operativen Eingriffen. Eine Lebenshilfe. Der Inhalt der Broschüre: wohlmeinende Ratschläge, dann aber die Empfehlung, sich in Gruppenarbeit unter Anleitung eines Psychologen, oder einer Psychologin, mit denen auszutauschen, die sexuelle Betätigung noch auf ihrer Agenda haben, unter Berücksichtigung spezieller sexueller Praktiken, verfasst von einer Psychologin, die, wie sie im Impressum betont, in einer Weserbergland-Klinik zuständig ist für die Betreuung älterer, ratsuchender Prostatapatienten. Ich habe wegen des unbedachten, unbedarften Textes diese sogenannte Lebenshilfe beiseitegelegt. Die Broschüre als solche, wie gerne unter Missachtung sprachlicher Feinheiten formuliert wird, hat mir jedoch in Erinnerung gerufen, dass ich schon seit einiger Zeit vor einem Scherbenhaufen stehe, ihn nicht abräume, sondern es geschehen lasse, dass er wächst. Ohne Lebenspartnerin, seit unserer Trennung, ohne Prostata, seit meiner Operation, und nicht nur das, auch ohne Potenz: mit wem, und wie sollte ich dann Sex haben? Eingedenk der alten Bauernregel, dass Pferde nicht von hinten aufgezäumt werden, und unter Befolgung der Anleitung, wie Projektmanagement das sieht, plakativ beschrieben als „first things first“, sollte ich klugerweise mit der Suche nach einer Partnerin beginnen, und dann weitersehen.
Ein Wochenende, ohne Störungen von welcher Seite auch immer, erscheint mir ideal, um über mein bisheriges Leben, insbesondere Liebesleben nachzudenken, das jetzt, aus verständlichen Gründen, den Nullpunkt erreicht hat, und um zu sondieren, was zu tun ist, um wieder Anschluss an die Gewohnheiten eines Lebens zu zweit zu finden. Eine Wochenend-Wanderung im Kurpark, in kontemplativer Stille, würde sich anbieten, um gedanklich die Möglichkeiten aufzuarbeiten, die mir, bei Lichte besehen und bei kritischer Durchsicht, verblieben sind – die sind leider nicht identisch mit denen, die – fast – jedermann sonst hat, der auf Partnersuche ist.
Sicherlich die allererste Möglichkeit, aber nicht die allerbeste, wäre die einer Zufallsbekanntschaft. Nicht im wörtlichen Sinne. Nachhelfen müsste man schon, das heißt, sein Augenmerk auf geeignete Ereignisse richten, wie Ausstellungen in Museen, Aufführungen in Opernhäusern und in Theatern, ergänzt durch Autorenlesungen in kleineren Zirkeln oder in größerem Rahmen. Deren Besucherinnen würden aller Erfahrung nach gleichgeartete Interessen garantieren. Aber, diese Besucherinnen – damit meine ich nicht nur die, die mit Gehhilfen die Kunsttempel aufsuchen – sind typischerweise nicht die, die Liebe machen. Sie lassen lieben. Auf den Bühnen, in Romanen sowie Erzählungen, selbst zwischen den Rahmen der bewunderten Ölgemälde. Und, um das noch zu erweitern: auch auf den Filmleinwänden, oder auf dem Fernsehschirm, lassen sie lieben, ohne sich animiert zu fühlen, selbst zu lieben. Wo bleibe ich da mit meinem Wunsch, Sex zu haben? Alles in allem erscheint das Warten auf Zufallsbekanntschaften mit unsicheren bis zweifelhaften Erfolgsaussichten behaftet.
Als erfolgversprechendere Möglichkeit ist wohl das Prüfen des Marktes für Partnersuchende und Heiratswillige einzuschätzen. Darunter verstehe ich die Durchsicht von Anzeigen in Zeitungen und von Selbstdarstellungen auf Partnerschaft-Websites im Internet. Die haben den unschätzbaren Vorteil, dass, bei geschickter Auswahl, ich mich nicht selbst vermarkten muss, sondern durchsehen kann, wo sich meine Interessen – im weitesten Sinne – mit denen der Suchenden kreuzen, beziehungsweise parallel laufen. Solcherart Recherche lässt sich nur begrenzt aus der Rehabilitationsklinik heraus in die Wege leiten. Ich werde wohl die Durchsicht der Anzeigen weitgehend nach Rückkehr von meinem Aufenthalt in der Klinik vornehmen müssen. In der Zwischenzeit aber kann ich mich gedanklich auf eine Kontaktaufnahme vorbereiten. Warum? Weil dies keine simple Partnersuche ist. Einige der zu erwartenden kritischen Fragen sollte ich mir sinnvollerweise schon selbst stellen, und tentativ Antworten darauf finden. Keineswegs abwegig erscheint es mir auch, die gedankliche Vorbereitung schriftlich festzuhalten – man weiß nie, ob nicht unerwartete neue Eindrücke und Überlegungen andere bereits gefasste Gedanken rücksichtslos verdrängen. Eine leidige Erfahrung, von der ich mich weigere, sie als Vergesslichkeit zu bezeichnen. Ich suche also aus diesem Grund auf meinem Gang durch den Kurpark das mir bekannte Parkcafe auf. Der richtige Ort, um sich Notizen zu machen.
Angenommen, meine Suche, oder Recherche, wäre insoweit erfolgreich, als ich auf eine möglicherweise interessante und interessierte Partnersuchende aufmerksam würde: Wie könnte eine erste Begegnung ablaufen, ohne dass sie die letzte zu werden droht? Sie, die ich treffen will, ist sicher bestens vorbereitet – immerhin ist sie diejenige, die allererste Initiativen ergriffen hatte. Möglicherweise wird sie durch Nachfragen erst einmal sicherstellen wollen, dass ich ihre Angaben sorgfältig gelesen habe. Waren das nun ein oder zwei Kinder? Junge, Mädchen? Wie war ihr Ausbildung und wie ihr beruflicher Werdegang? Hat sie ihren Abschluss mit Bachelor oder Master gemacht? Ich sehe mich bereits, vor dem Treffen mit ihr, ihre Daten kopieren, markieren und rekapitulieren. Sicherlich gibt es erfahrenere Partnersuchende als ich es bin, die sofort Gespräch und Gesprächsthemen an sich reißen, um so gar nicht in die Verlegenheit zu kommen, auch etwas von ihrem Gegenüber wissen zu müssen. Die können aber kein Vorbild für mich sein.
Also werde ich wohl sagen, dass mich ihr Lebenslauf beeindruckt hat, soweit sie ihn skizziert hat, und dass er sicher noch mehr interessante Facetten aufzuweisen hat. Zumindest würde ich das aus dem, was sie erwähnt, schließen. Oder so ähnlich. Wenn angebracht, werde ich auch Freundlichkeiten nachlegen, ohne zu offensichtlich das zu tun, was man früher, als die Sprache noch bildreicher war, Süßholz raspeln nannte. Komplimente sind jedoch nicht meine Stärke – das habe ich in Spanien schmerzlich erfahren, als spanische Mitbewerber um junge Spanierinnen mir schließlich anboten, für mich piropos vorzuformulieren, da sie wahrgenommen hatten, dass ich hoffnungslos ins Hintertreffen geriet bei der Formulierung charmanter Freundlichkeiten. Meine Aufgabe war dann nur noch, sie zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort, und bei der richtigen Frau anzuwenden. Aber ihr zu sagen, dass das Foto, das sie mir zugeschickt hatte, nur ein schwacher Abglanz ihrer wirklichen Schönheit und Anmut sei, kann nicht falsch sein. Wenn sie nicht protestiert, wäre das die perfekte Überleitung zu der Frage, die ich gerne schon zu Beginn unseres Gesprächs gestellt hätte: warum sie, eine – angenommen – sehr attraktive, noch junge Frau auf diesem Weg einen Partner sucht. Wenn sie dann ihre Blauäugigkeit bei der Wahl ihres früheren, ersten Partners ins Feld führt, und auch noch über die Unzulänglichkeiten ihres früheren Partners klagt, dann habe ich meine Frage falsch gestellt, und würde sie – modifiziert – wiederholen: warum sie diesen, sicher zeitaufwändigen Weg gewählt hat, das heißt, sich mit einer Vielzahl von Männern zu verabreden, obwohl es doch für sie ein Leichtes sein sollte, einen Mann ihrer Wahl für sich zu gewinnen und aus der Reserve zu locken. Die Antwort könnte mir letztlich Aufschluss geben, ob sie sozusagen ein Ladenhüter ist, der aufgrund eines offensichtlichen oder verdeckten Makels nicht unter die Leute, oder an den Mann, zu bringen ist. Nicht, dass ich die Vermessenheit besitze, ihre Makellosigkeit zu fordern. Nein, vielmehr würde mich der Gedanke beunruhigen, Ladenhüter, nämlich sie, trifft auf Auslaufmodell, nämlich mich.
Sie weiß, umständehalber, weniger über mich, als ich über sie weiß. Also wird sie ihre Fragen stellen, und ich werde meine Selbstdarstellung nachholen. Ob es mir hierin gelingen wird, meine Vorgeschichte zu erläutern, ohne dass sie zurückschreckt, hat fast schon die Bedeutung einer Schicksalsfrage. Welche Frau mittleren Alters sollte an einem Mann interessiert sein, dem – augenscheinlich – alle Attribute der Männlichkeit abhandengekommen sind. Möglicherweise die, die an späterer, langfristiger Versorgung interessiert ist – aber warum sollte ich an ihr wiederum interessiert sein? Wie auch immer. Meine Schwierigkeit mit der Potenz, muss ich sie thematisieren? Könnte es nicht sein, dass ich auch sie mit der Mitteilung überfordere, in jeder Hinsicht? Was ist so bedeutsam an der Frage, ob potent oder nicht, ich meine, beim ersten Treffen? Schon zu dem Thema erfolgreich überzuleiten, verlangt Ciceronische Beredsamkeit. Also auf später verschieben, wenn wir uns besser kennengelernt haben? Auch keine Lösung für alle Fälle. Eine Bemerkung ihrerseits zum Kinderwunsch, selbst wenn nur allgemein gehalten, könnte mich bloßstellen, zum Simulanten machen. Möglich, dass es nur ein Mangel meinerseits an Übung ist, das Thema zu bewältigen.
Die Summe aller Überlegungen bildend, muss ich mir eingestehen, dass ich mich angesichts der Unwägbarkeiten bei der Behandlung des Themas Potenz am liebsten darauf zurückziehen würde, auf meine sonstigen körperlichen Vorteile zu verweisen, wie Fastgardemaß, weder O- noch X-Beine, weder Hörgerät noch Brille, beziehungsweise letztere nur zum Studium des Kleingedruckten verwendend, weder Gicht noch Arthrose. Sehe aber auch, dass ich bald am Ende der Liste angelangt sein werde, selbst wenn es mir gelänge, sie um einige weitere, noch zu prüfende Vorzüge aufzustocken. Dann aber werde ich wieder auf Anfang zurück sein. Bleibt noch, über Lebenslauf und Beruf zu reden. Ob aber mein Beruf, der eines freien Mitarbeiters am Museum, sie nachhaltig beeindrucken wird, ist mehr als fraglich.
Gesetzt den Fall, die verschiedenen Wenns und Abers halten uns nicht davon ab, dass wir, die Person, mit der ich verabredet war, und ich, uns gegenseitig Sympathiegefühle bekunden, und angenommen auch, es ist mir gelungen, die Klippe des Themas Potenz zu umschiffen – mit der ehrlichen Absicht jedoch, ihr, der Klippe, beim zweiten oder dritten Treffen mich zumindest auf Sichtweite zu nähern, auch auf die Gefahr hin, damit Schiffsbruch zu erleiden – dann würde ich ohne Umschweife ein weiteres Treffen vorschlagen. Es ist somit an ihr, ja oder nein zu sagen. Wenn die Dinge aber so liegen, dass sie andeutet, dass sie gegen weitere Treffen nichts einzuwenden hätte, ich aber zurückhaltend bin, etwa aus dem Grund, dass ich glaube, aus ihren Bemerkungen Kinderwunsch herausgehört zu haben, bin ich in Schwierigkeiten. Die Affäre könnte also ein sofortiges Ende nehmen, oder nach zwei bis drei Treffen zu Ende gehen, oder, bei Nichtäußern dieses Wunsches, zu einer langanhaltenden Beziehung werden.
Zweifellos ist in heutiger Zeit die Inanspruchnahme einer Partnerschaftsplattform die verbreitetste Form der Kontaktaufnahme. Wenn ich mich dem anschließen würde, würde das für mich jedoch bedeuten, dass ich, ebenso wie die gesuchte Partnerin, ausgewählte Daten dem Internet anvertrauen müsste. Diese vermeintliche Versachlichung der Aufnahme einer Beziehung widerstrebt mir, weil ich der Wahrung des Datenschutzes misstraue. Zudem fragen einerseits die auszufüllenden Fragebögen der Vermittler kaum spezifische Daten ab, so dass die Zahl in Frage kommender Partner bei erster Durchsicht erheblich werden könnte, andererseits geben die Fragen potentielle Ausschlusskriterien vor, wie Alter und Familienstand, die dazu führen könnten, dass das von mir wahrheitsgemäß ausgefüllte Formular unberücksichtigt abgelegt würde, bestenfalls unter Wiedervorlage rubriziert würde. Ganz abgesehen davon, dass mir aus meinem näheren Umfeld ein verbürgter Fall bekannt ist von einer – bislang – erfolglosen Kampagne, wobei, meines Wissens, nach sechs Begegnungen keine Partnerin gefunden wurde, stattdessen der Suchende von einer Psychologin betreut wird.
Es gab eine Zeit, da griffen Partnersuchende, die auch nach längerem Suchen nicht fündig geworden waren, zu Bleistift und Radiergummi, um den Text einer Partnerschafts- oder Heiratsanzeige zu verfassen. Später traten an Stelle von Stift und Radiergummi Schreibprogramme. Die Texte blieben die gleichen. Früher wie später: es wurde kein großes Aufheben von der Aktion gemacht, weil man nicht zur Kategorie der Töpfe gerechnet werden wollte, die einen Deckel suchen. Das wurde wie soziales Versagen gewertet. Verbreitet wurden die Texte als Anzeigen in der lokalen, regionalen oder auch überregionalen Presse. Aus verschiedensten Gründen ist diese Form von Hilferuf aus der Mode gekommen, gleichsam aus der Zeit gefallen, wird als Instrument alter Schule betrachtet, und auch als Instrument derjenigen, die nicht vernetzt sind. Dennoch: das Aufgeben von Anzeigen hat einen entscheidenden Vorteil, gegenüber der Inanspruchnahme elektronischer Medien: keine potentiellen, ungebetenen Mitleser, weil ein Verlagshaus das Verteilerkreuz ist, und vor allem, weil ich als Autor den Kurztext subjektiv zu gestalten vermag, und gezielter das Interesse beim Partnersuchenden Leser hervorzurufen vermag. Uber Zahl der Rückmeldungen, über Erfolgschancen, und über Risiken weiß ich natürlich wenig. Meine Einschätzung, die meinen eigenen Anzeigenversuch charakterisieren könnte: mäßiges Interesse, Erfolgschancen ebenfalls mäßig, aber sicher höher als bei der Partnersuche unter Zuhilfenahme von Zufall und Internet. Indessen würde ich Gefahr laufen, und das Risiko eingehen, dass die Anzeige ohne Rückmeldung bleibt, vor allem, wenn ich bei der Textgestaltung am Markt vorbei geschrieben habe.
Sicherlich ist das von mir in Betracht gezogene Risiko, am Markt vorbei geschrieben zu haben, das alles entscheidende Kriterium, das über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Mithin sind Text und Gestaltung alles, ist die Person – fast – nichts, es sei denn, sie selbst, in diesem Falle ich, wäre nicht mehr vermarktungsfähig, und selbst Gestaltung würde nicht mehr helfen. Meine Schlussfolgerung ist, dem Kurztext muss die nötige Sorgfalt gewidmet werden. Das setzt voraus, dass ich ein Konzept habe. Endgültig würde ich solch einen Text nach Rückkehr vom Rehabilitationsaufenthalt verabschieden, aber Vorformulierungen sind sicher angebracht. Einen Arbeitsplatz zu diesem Zweck habe ich schon: das Parkcafe. Inzwischen hat nämlich Regen eingesetzt, vermutlich langanhaltender Landregen, von dem diejenigen, die den hiesigen Wetterbericht verfassen, nichts geahnt hatten. Mit anderen Worten: ich sitze hier fest. Taxis sind hier eigenartigerweise kaum registriert. Möglicherweise, weil es der ganze Stolz von Kurgästen ist, alle Strecken im Kurort zu Fuß zu bewältigen, und die Kurgäste sich ansonsten auf die Fahrdienste der Kliniken verlassen.
Die Räumlichkeiten des Parkcafes sind Kurortgemäß. Große Fensterscheiben, die den Blick in den Park freigeben, den Eindruck von Großzügigkeit vermitteln. Das Mobiliar ist von antiquierter Eleganz, Edelholz. In diesem Ambiente einen Text zu entwerfen, wäre ein Versuch wert. Sowieso habe ich mich schon auf einem der Tische ausgebreitet, so als wäre ich gerade mit der Fertigstellung eines Kunstlexikons befasst.
Wenn mit der nötigen Sorgfalt angegangen, sind Anzeigen wie Bewerbungen. Und dafür gab es, als schriftliche Bewerbungen noch Aussicht auf Erfolg hatten, Anleitungen: Richtig Bewerben, oder Wie bewerbe ich mich erfolgreich? Ob das auch für Anzeigen galt, kann ich nicht mit Gewissheit sagen, bin jedoch sicher, in Zeitungen mit Anspruch vergleichbare Anleitungen zum Verfassen von Anzeigen gelesen zu haben. Die liegen mir nicht vor, jedoch kann ich bei Anzeigen Anleihe nehmen, die für die Wochenendausgaben verschiedenster Zeitungen in Auftrag gegeben worden waren. Ich bediene mich der im Cafe verfügbaren Zeitungen. Da das Cafe sich seinem Ruf verpflichtet fühlt, sind das nicht wenige. Ich sammle alle greifbaren Zeitungen, sogar Zeitschriften, staple sie, zum Verdruss einiger Gäste, vor allen Dingen eines Gastes, der aber nur am Wetterbericht interessiert ist, und den ich schnell und kurzfristig zufriedenstellen kann. Die Inventur der Zeitungsseiten mit Anzeigen ist ernüchternd. Vor allem Verkäufe und Ankäufe, wie Häuserangebote, Notverkäufe von Antikmöbeln. Kaum Anzeigen persönlichen Inhalts. Zwei Zeitungen sind bereit, Kontakte zu vermitteln. An die halte ich mich. Literarisches Niveau haben die Anzeigen nicht, sollen sie wohl auch nicht, sondern nur einem Zweck dienen. Zudem, als Anfänger auf dem Gebiet, sollte ich mich zurückhalten mit vorschneller Beurteilung. Aus dem Aufbau der gelesenen, oder besser analysierten Suchanzeigen skizziere ich für mich rasch eine entsprechende Abfrage-Struktur:
Wer bin ich? – Was will ich? – Wen will ich? – Was biete ich? – Was soll der Partner bieten? – Welche Perspektiven schweben mir vor? – Zahl der Wörter: begrenzt. Wenn ich korrekt gezählt habe, erreicht die Zahl der Wörter bei den analysierten Anzeigen nicht mehr als dreißig bis fünfunddreißig.
Nach zahlreichen vergeblichen Versuchen, und nach auffällig hohem Papierverbrauch, Lorbeeren würde ich mit meinen Schreibversuchen nicht erwerben, hat mein Anzeigentextentwurf, zumindest gemäß meinem Empfinden, eine lesbare Form. Unter Berücksichtigung der skizzierten Struktur und unter Berücksichtigung dessen, was ich kommunizieren möchte, ist mein Text, wie nicht anders zu erwarten, mit neunundsechzig Wörtern rahmensprengend. Ich lese mir den Text, soweit die Cafeverhältnisse das erlauben, laut, eher halblaut, vor:
Sechzigjähriger, freiberuflich tätig, finanziell unabhängig, aber ohne Haus und Vermögen – sucht Partnerin zum kennen und lieben lernen – Sie soll anmutig, schlank, und Nichtraucherin sein, Alter bis fünfzig, Größe bis 180 cm, selbst noch im Beruf stehend, ohne Kinder (oder falls, dann erwachsene Kinder) und ohne Kinderwunsch – Ich liebe Reisen, Sprachen, und meinen Beruf (Kunst-orientiert), bin an allem Schönen interessiert, lebe gesundheitsbewusst – Erwünscht: ähnliche Interessen, zärtliche Zuwendung – Spätere Heirat nicht ausgeschlossen.
Schon im Hinblick darauf, dass ich zu viele Wörter brauche, um meine Qualitäten, und auch Wünsche, zusammenzufassen, bedarf der Text der Redaktion und Revision, muss insbesondere komprimiert werden und, soweit überhaupt möglich bei der Kürze, Interessenten-orientierter werden. Mein zweiter Versuch orientiert sich vor allem an der Einhaltung der Wörterzahl, wird dadurch ein Fehlschlag. Ich trage ihn mir wieder selber vor, halblaut, zum Schluss kleinlaut.
Jung gebliebener Freiberufler, ohne Haus und Vermögen – sucht Lebensgefährtin – schlanke, bis 180 cm große, kinderlose, maximal fünfzigjährige, beruflich engagierte Nichtraucherin erhält Vorzug – selbst interessiert an Sprachreisen – erwünscht: Zärtlichkeit und ähnliche Interessen – Heirat möglich.
Die mangelhafte Qualität des gekürzten Textes, immerhin habe ich den ersten Textentwurf auf die Hälfte reduziert, sagt alles. Beide, der Text und ich, wurden sicherlich auch Opfer meiner unübersichtlichen Zettelwirtschaft, vielleicht auch Opfer meiner Vorliebe, Arbeiten ins Cafe zu verlegen. Ich werde den Entwurf ruhen lassen, und, wie geplant, nach Rückkehr von der Rehabilitation den endgültigen Text gestalten.
In allem, was wir tun, wenn wir vor einem Neuanfang stehen, gleichgültig, ob gezwungenermaßen oder freiwillig, blicken wir allzu gerne nur nach vorn. Zurückschauen könnte uns ins Stolpern bringen. Jeder, der diese Binsenweisheit beherzigt, wird einen Fehltritt vermeiden. Entsprechend dieser Maxime ist mein Ansinnen fast verwegen, eine letzte, kaum alltäglich zu nennende Möglichkeit der Partnersuche auszuschöpfen, indem ich alte Beziehungen wieder aufleben lasse. Das umso mehr, als mein Ziel ist, eventuell auf eben diesem Weg wieder eine Zweierbeziehung herzustellen. Vermutlich jedermanns spontane Bedenken: ein Neuanfang mit alten Bekannten – wie soll das gehen? Ich will nicht leugnen, dass ich einen ernsthaften Versuch unternehmen möchte, die Beziehungen zu einer oder auch zwei Partnerinnen aus früheren Zeiten wiederzubeleben. Kritisch betrachtet ist dies, um wieder in Sachen Zweierbeziehung Tritt zu fassen, wie ein letztes Auswerfen der Angel, bevor alle Fische vorbei- und davongeschwommen sind. Das Risiko, gleichgültig, um welche ehemalige Lebenspartnerin es sich handelt, dass der Versuch zum Fehlschlag wird, ist unübersehbar. Dennoch: was verliere ich schließlich dabei: meine Selbstachtung, oder die Achtung, die mir meine früheren Partnerinnen eventuell bis jetzt, wenn auch aus der Ferne, noch entgegenbringen? Was ist das gegen die Möglichkeit, eine Lebenspartnerin zu gewinnen, oder besser, wiederzugewinnen? On revient toujours à son premier amour. Mit dieser in Frankreich beheimateten Redewendung könnte ich vermutlich am ehesten vertrauenserweckend argumentieren gegenüber denen, deren Liebe ich wiedergewinnen will – selbst wenn diese der Opernwelt zuzuordnenden Redewendung sicher nie auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft wurde. Dass ich den Hinweis bei gleich zwei ehemaligen Partnerinnen, und gleichzeitig, in Anwendung bringen will, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, übertrifft vermutlich selbst französische Gepflogenheiten, man könnte sagen, ist ein kaum verzeihlicher faux-pas, frei übersetzt: ist, zwischenmenschliche Beziehungen betreffend, bedenklich. Möglicherweise aber doch nicht, wenn ich meine Unternehmung so gestalte, dass ich die beiden früheren Lebenspartnerinnen, Marie und Lucie, nacheinander anspreche, natürlich in der Absicht, mit dem ersten Versuch, wenn der erfolgreich war, die Aktion zu beenden. Abgesehen davon, dass es bei paralleler Gestaltung zu Verwechslungen kommen könnte, wie sie gerne von Boulevard-Komödien thematisiert werden. Es ist, das liegt in der Natur der Sache, nicht auszuschließen, dass Marie oder Lucie, oder beide, mehr amüsiert als interessiert, mich darauf hinweisen könnten, dass der Hinweis auf die erste Liebe eine argumentative Krücke sei, da ich keineswegs ihre erste Liebe war. Auch ansonsten sind zahllose Argumente denkbar, mir mit meinem Ansinnen die Tür zu weisen.
Bei nüchterner Betrachtung bliebe die Möglichkeit, die ich nicht beeinflussen kann: es ist nicht undenkbar, dass, wie ich, zumindest eine meiner früheren Lebensgefährtinnen, mit einem Tief in ihrem Leben kämpft, oder auch mit einem Tief in ihrer Ehe, wenn sie denn zur Zeit verheiratet ist, ich also nicht unbedingt kurz und bündig abgewiesen würde. Allerdings, die Wahrscheinlichkeit, dass alles so geschieht wie erdacht, scheint gering, die damit verbundene Erfolgsaussicht noch geringer.
Die Szenarien, die naheliegen, habe ich gedanklich nunmehr durchgespielt. Die simple Frage, die sich anschließt: und jetzt? Man könnte, nach Ökonomen-Art, prüfen: Wie sah, materiell, der bisherige Aufwand aus? Ist der neue Aufwand gerechtfertigt? Wie ist die Relation von Risiko und Aussicht auf Erfolg? Was ist der Gewinn? Diese Fragen mögen, wegen ihrer radikalen Sachlichkeit, dem Thema nicht gerecht werden, sagen mir aber, insbesondere die Frage nach dem bisherigen Aufwand, dass ich mir in Erinnerung rufen muss, wie beide gescheiterten Beziehungen abgelaufen sind: unter welchen Umständen, und mit welchen Begründungen wir auseinandergegangen waren, und inwieweit diese ihre Vorgeschichten hatten, rationaler oder emotioneller Art.
Ein flüchtiger Blick aus dem Parkcafefenster reicht, um festzustellen, dass der vermutete Landregen andauert, also ist dies eine fast einmalige Gelegenheit, Revue passieren zu lassen, wie alles begann, und wie alles endete. Anmerken sollte ich hierzu, das heißt zur zweiten Hälfte des Satzes, dass die Formulierung nicht von mir ist, sondern die eines engen Freundes, der sich am Tage seiner Scheidung mit mir in das dem Gericht gegenüberliegende Restaurant begab, und unser auf mehrere Stunden ausgedehntes Mittagessen benutzte, seine Ehe, wie er sagte, Revue passieren zu lassen, vom vielversprechenden Anfang bis zum bitteren Ende.
Marie war meine erste große Liebe, chronologisch betrachtet. Das erste Mal sahen wir uns in Paris. Romantischer hätte eine Beziehung nicht ihren Anfang nehmen können. Sie – gestrandete Touristik-Studentin – geleitete deutsche Touristen Gruppen durchs Quartier Latin. Ich hingegen war eigentlich nur auf der Durchreise und war lediglich einem spontanen Bedürfnis gefolgt, Boulevard-Saint-Michel-Luft zu atmen, selbst wenn sie sich mehr aus Abgasen denn frischer Luft zusammensetzte. Sie war dort, auf dem Boulevard Saint Michel, an der Spitze einer Gruppe, um dieser die Sehenswürdigkeiten beiderseits des Boulevards zu erläutern. Sie verwies insbesondere auf das Gebäude rechterhand der Gruppe, das Musée de Cluny. Alle schauten nach rechts, konnten aber nichts Sehenswürdiges ausmachen. Ich konnte mit dem Hinweis aushelfen, sie sollten besser nach links schauen, um zu sehen, was sie sehen sollten. Sie schauten nach links. „Aha, links, ja, das Haus da.“ Die junge Dame hatte schlicht den Anfängerfehler begangen, die Richtung aus ihrer Sicht und aus der ihrer Gruppe zu vertauschen. Einige aus den hinteren Reihen, das sind diejenigen, die traditionell bei Führungen hinterherhinken, in jeder Beziehung, gaben sich nicht zufrieden. „Wo nun, rechts oder links? Eins geht nur. Rechts ist überall rechts. Selbst in Paris.“ Klugerweise beruhigte sie ihre Zuhörerschaft in dem sie vorschlug, in Zukunft nur noch Ortsangaben aus Sicht ihrer Zuhörer zu machen. Jetzt diskutierten die Teilnehmer untereinander, wobei es mir fast so schien, als wollten sie über den Vorschlag abstimmen – was mir Zeit gab, die junge Dame zu fragen, wann und wo ihre Führung enden würde. „In zehn Minuten an der Sorbonne. So Gott will.“ Immerhin trafen wir uns dann nach zwanzig Minuten im Bistrot nahe dem Haupteingang der Universität. Unser Gespräch hatte insbesondere die Schwierigkeiten zum Inhalt, Touristen-Gruppen interessiert zu halten und zufriedenzustellen, aber ich erfuhr auch, dass ihr Name Marie war und welche Umstände dazu geführt hatten, dass sie Deutsche Gruppen in Paris betreute. Unser Gespräch endete damit, dass sie anbot, ihr freies Wochenende zur Verfügung zu stellen, und ich anbot, mein Auto zur Verfügung zu stellen, um an die Loire zu fahren, genauer an den Fluss Cher, mit seinem Renaissanceschloss Chenonceaux.
Der gemeinsame Besuch des Schlosses übertraf bei weitem meine Erwartungen, die ich an die Schlossbesichtigung gestellt hatte. Wer son et lumière kennt, weiß um dessen suggestive Wirkung. Wir durchmaßen einige Male die Große Galerie des Schlosses, die über den Fluss führt. Begleitet wurden wir von Cembalo-Musik der Zeit. Wir konnten uns nicht einigen, ob es sich um ein Werk von Lully handelte, gaben uns dennoch der Illusion hin, wie Gäste am Hofe Henri II zu lustwandeln – Marie bestand auf dem Gebrauch dieser Vokabel – und wir waren glücklich. Auch Schlossgarten und Schlosspark verführten zum lustwandeln, und überhaupt war alles sehr verführerisch. Wir blieben über Nacht, blieben bis zum Montagmorgen. Wir versicherten uns gegenseitig des Gefühls, ein wundervolles Wochenende verbracht zu haben. Dem tat auch der morgendliche Wochenanfangsstau vor und in Paris, in den wir zwangsläufig geraten waren, kein Abbruch.
Nachdem mit Chenonceaux der Anfang gemacht war, beschlossen wir, alle Möglichkeiten zu nutzen, uns auch weiterhin zu treffen. Das schien, und war auch, aufregend, jedoch mit der Zeit nicht übermäßig effizient – wenn man in dem Stadium des Kennenlernens überhaupt von Effizienz reden darf. Die Lösung: Mein Zuhause in Deutschland wurde Maries Anlaufpunkt, wann immer sie ihre Touristikführungen beendet hatte. Nachdem das etabliert war, ging es allerdings mit unserer Beziehung sozusagen bergab. Ihre Reisen dauerten immer länger, sie kam immer seltener. Sie schrieb Karten, auch schon mal Briefe. Ich beschaffte mir eine mit Pappe unterlegte Weltkarte und steckte Fähnchen, mit Datum versehen, um nicht den Überblick zu verlieren. Bevor sie einflog, kündigte sie dies an, so dass ich alle notwendigen Vorbereitungen traf. Als sie dann eintraf, merkte Marie an, dass sie unter jet-lag-Folgen leide, und ich konnte meine verschiedensten Pläne für gemeinsame Stunden begraben.
Schließlich erhielt ich die Mitteilung, dass sie für immer in den Vereinigten Staaten von Amerika zu bleiben gedenke. Dann aber, nach einem Jahr, kam sie unangemeldet, und wie gerupft, zurück. Sie wirkte auf mich, als hielte sie das letzte Fähnlein meiner Reiseroutenmarkierung in der Hand, und als sollte sich dieses bei mir verhaken. Ich war aber uninteressiert, weil inzwischen anderweitig liiert. Und das Bett war auch belegt.
Zur Art und Weise der Beendigung unseres Verhältnisses ist nicht viel hinzuzufügen. Marie kann mir nicht vorwerfen, ich trüge die Schuld an der Trennung. Immerhin könnte dieser Umstand, was bei unserer Trennung nicht absehbar war, hilfreich sein für den von mir angestrebten potentiellen Neuanfang. Zu erkunden, unter welchen Umständen Marie heute lebt, scheint mir lohnend. Es sei denn, sie hat einen Neuanfang schon vor langer Zeit mit einem anderen Partner versucht. Wie Marie auf die Mitteilung reagieren würde, unser Neuanfang sei mit der Hypothek meiner operationsbedingten Impotenz belastet, vermag ich nicht einzuschätzen.
Erinnerungen aufzufrischen ist, anders als ich dachte, anstrengend, kann auch schmerzlich sein. Alle währenddessen parallel laufenden Gedankenströme verbiete ich mir weiterzuverfolgen, ich würde mich emotionell überfordern. Ich lege also eine Pause ein, wie nach harter Arbeit. Nutze das Unterbrechen denn auch zum Bestellen des vermutlich fünften Bechers Kaffee, und eines Taxis, das aus dem Nachbarort angefordert werden muss, um in etwa zwei Stunden einzutreffen.
Lucie war ebenfalls eine Reisebekanntschaft. Ziel meiner Reise waren die Cevennen Südfrankreichs. Viel Landschaft, wenig Leben. Mein einziger Grund, die Kurzreise zu buchen, war: die Reise machte Station in Castres, einer abgelegenen Stadt die, abseits der südfranzösischen Touristikrouten, gemeinhin nicht aufgesucht wird. Für mich bot die Teilnahme an der Reise die Möglichkeit, das dortige Musée Goya zu besuchen. Was die Mitreisenden bewogen hatte, an dieser Reise teilzunehmen, weiß ich nicht. Immerhin aber lernte ich Lucie kennen. Sie war, wie die Mehrheit der Teilnehmer, im Schuldienst, sprach aber weniger über Schülertorheiten als ihre Kolleginnen und Kollegen. Das Reiseprogramm war abwechslungsreich – soweit eine Reise in diese gottverlassene Region abwechslungsreich sein kann. Es sollte offenbar jedem Teilnehmer etwas geben. Am letzten Tag der Reise wurde von uns ein ländliches Weingut des Languedoc besucht. Dort wurden wir nicht nur bewirtet und zur Weinverkostung geladen, sondern uns wurden auch die Vorzüge des Languedoc-Weines nahe gebracht, und wir wurden in die lokalen Anbaumethoden eingeführt. Auch die Weinverkostung wurde wortreich begleitet. Sie unterschied sich darin nicht von Weinproben konkurrierender Europäischer Weinanbaugebiete. Ich erinnere mich lediglich an eine Charakterisierung des Weines, nämlich dass er mild im Abgang sei. Da Lucie und ich uns aus Anlass der Weinprobe näher gekommen waren, sind mir weitere Details entgangen.
Zurück in Deutschland, vertieften wir unsere Beziehung und mieteten bald eine gemeinsame Wohnung. Wir richteten uns gemäß unserer Bedürfnisse ein, was sich zeitaufwändig gestaltete. Dann verbrachte ich viel Zeit mit der Nachbereitung des Museumsbesuches und erkundete weitere Quellen zum Verständnis der Caprichos der Goya-Sammlung in Castres. Lucie hingegen strebte zu neuen Ufern. Sie bereitete ihre nächste Reise vor, besser gesagt, unsere nächste Reise – deren Zweck und Ziel sie mir sodann erläuterte. Ich erlaubte mir, einen Deutschen Alleinunterhalter zu zitieren. „Urlaub – der Chef sagt: wann, die Frau sagt: wohin.“ Lucie fand das nicht amüsant. Denn ich hatte völlig übersehen, dass erneut Ferien nahten. Ich hätte es wissen müssen: Lehrer-Ferien und Reisen sind wie eineiige Zwillinge. Da machten die unsrigen keine Ausnahme. Warum Reisen? hatte ich schon mal gefragt. Nicht nur, weil Reisen bildet, der Hinweis auf Goethe fehlte natürlich nicht, sondern vor allen Dingen, um sich neue Kulturkreise zu erschließen. Es hat einiger Reisen bedurft, bis ich ahnte, was gemeint war, als wir im dreiviertel Takt einer aragonesischen Jota mitzutanzen uns bemühten. Mit der Affinität zu Sprachen verhielt es sich ganz ähnlich. Sprachen zu lernen, war imperativ. Lernt man Sprachen, beugt man frühzeitiger Demenz vor – ein Gedanke, der mir, im heiratsfähigen Alter, also erlaubtermaßen, fremd war. Bevorzugtes Lernobjekt in dieser Hinsicht war bei Lucie und ihresgleichen das Italienische. Warum Italienisch? Es verbindet sprachliche Eleganz mit grammatikalischer Prägnanz. Der Hinweis auf die Lateinischen Wurzeln fehlte natürlich auch nicht. Da waren meine bereits zuvor erworbenen Kenntnisse des Spanischen, gar noch mit Hilfe einer jungen Spanierin in Spanien, wenig adäquat, man könnte auch sagen, nicht hoffähig. Zumal ich von Lucie damit konfrontiert wurde, dass Matschos jener Zeiten erklärt hätten, im fremdsprachigen Ausland erlerne sich die dortige Sprache nur wirklich im Bett. Ich war nicht amüsiert. Was sollte ich dazu sagen? Ich wählte die Form der ablenkenden Belehrung, das hieß, legte Wert auf die Feststellung, dass die korrekte Bezeichnung „majo“ sei, und neuere Wortschöpfungen wie Matscho nur Verballhornungen seien. Majo im Alltagsspanischen sei die Pejorativ-Form, um einen bestimmten Typus Mann zu charakterisieren, zu übersetzen etwa mit Schönling – eine der Lektionen, die ich bei meiner jungen Spanierin gelernt hatte. Ich glaube, dass diese eine der wenigen Belehrungen war, die in ihrer Gegenwart über meine Lippen gekommen war. Erläuterungen und Belehrungen waren eigentlich ihr Fach.
Die Zeit, die wir miteinander verbrachten, ließe sich charakterisieren mit „Keine besonderen Vorkommnisse“. Wer um die Labilität von Zweierbeziehungen im frühen Stadium weiß, weiß auch, dass diese Mitteilung, die aus dem Jahresbericht eines Industriekonzerns entnommen sein könnte, nichts Gutes verheißt. Mit der Zeit nämlich ließ das Interesse aneinander nach, wir verbrachten Zeiten getrennt, zu denen wir etwas gemeinsam hätten unternehmen können, womöglich aus Angst vor alltäglichen Streitereien – denen wir damit aus dem Weg gingen. Wir besprachen kaum noch gemeinsame Vorhaben, lebten uns, wie man so sagt, auseinander. Irgendwann las ich in einer Zusammenfassung einer umfangreicheren Arbeit – für ihre Wissenschaftlichkeit wage ich nicht einzustehen – , Untersuchungen hätten ergeben, dass diejenigen, die den Lehrerberuf ergreifen oder ergriffen haben, sich, im Vergleich mit anderen Berufausübenden, häufiger durch ein gewisses Dominanzverhalten auszeichneten. Das war natürlich fatal. Ich hätte das besser nie gelesen. Denn fortan registrierte ich bei Lucie und ihrem Tun vermeintliche oder tatsächliche Dominanz. Natürlich sagte ich mir, die Schlussfolgerungen einer solch gearteten Arbeit ließen schon Zweifel an der Auswahl der Testpersonen aufkommen – welcher Lehrer würde von sich sagen, er sei dominant – , oder es beruhte alles gar nur auf indirekter Recherche, indem man Schüler befragt hatte. Dennoch: es war als hätte ein mir Unbekannter mir schleichendes Gift eingeflößt. Das Ende unserer Beziehung kam schnell. Mein Vermögen zu kommunizieren ließ zusehends nach, der Grund war natürlich für Lucie nicht ersichtlich. Wir trennten uns.
Die Trennung von Lucie war, so wie sie geschah, aus späterer Sicht, sicher unbedacht. Lucie könnte mir, noch heute, vorwerfen, dass ich, für sie, ohne sichtbaren Grund die Trennung herbeigeführt hatte. Das würde natürlich eine Wiederannäherung erheblich erschweren, sofern sie daran überhaupt interessiert ist. Ihr Nichtinteresse könnte mit den Umständen unserer Trennung zu tun haben, wenn nicht mit einer möglicherweise zwischenzeitlich eingegangenen neuen Partnerschaft. Überdies ist Lucies Reaktion auf die Neuigkeit, dass ich operationsbedingt meine Potenz verloren habe, für mich völlig unvorhersagbar. Das alles sollte mich aber nicht davon abhalten, den Stand der Dinge zu erkunden, soweit es Lucies gegenwärtige Lebensumstände und Gemütsverfassung betrifft.
Mit Beendigung der Überlegungen, ob und wie ich meine zweite große Liebe wiedergewinnen könnte, scheinen mir alle Möglichkeiten in Sachen Partnersuche ausgeschöpft. Das Gesamtergebnis meiner Überlegungen lässt zu wünschen übrig. Ich sammle meine Notizblätter ein. Sie sind bedeckt nicht nur von mäßig geordneten, schriftlich festgehaltenen Gedankensplittern, sondern auch von Strichmännchen, Fragezeichen, gestrichenen Zeilen, Pfeilen quer über das Blatt, um neue Zusammenhänge zwischen den Sätzen aufzuzeigen, und sind vor allem nur selten numeriert, mal beidseitig beschrieben, mal einseitig. Fast müsste ich sagen: von Struktur keine Spur, erkenne aber dennoch eine intuitiv skizzierte Ordnung, erkenntlich an römisch eins bis römisch fünf, über die Blättersammlung verteilt. Ihre Bedeutung: es ist die Identifizierung der verschiedenen Möglichkeiten des Partnerfindens, so wie sie mir in den Sinn kamen. Die könnte ich nach Priorität, oder gemäß erhofftem Eintreten der Ereignisse, oder nach Erfolgsaussicht ordnen, und hätte einen Leitfaden für weiteres Vorgehen. Bislang ist das Warten auf Zufallsbekanntschaft noch römisch eins. Der Logik gehorchend könnte ich es auch dabei belassen, da die potentiellen Partnerinnen, die lieben lassen, diejenigen wären, die am wenigsten Probleme mit meiner Impotenz haben sollten. Dagegen sträube ich mich aber, gefühlsmäßig, auf das Heftigste. Also weit nach Hinten schieben. Fast gleichzusetzen mit der Möglichkeit, mittels Partnerschaft-Plattformen aktiv zu werden, mit all ihren Risiken. Wie römisch zwei, vier, und fünf in die Rangordnung gehören, ist noch zu entscheiden. Aber ich weiß, dass sie auf keinen Fall zu einer einzigen, gemeinsamen, zeitgleichen Möglichkeit, mit mehreren potentiellen Partnerinnen, verschmelzen dürfen, aus verschiedensten Gründen.