Читать книгу Weit war der Weg zurück ins Heimatland - Ulrich Slawinski - Страница 10
II. Kriegsgefangenschaft
Оглавление1. August 1944 – Nachdem uns mehrmals etliche Iwans gefragt hatten: „Wo Offizier?“, und wir immer wieder kopfschüttelnd verneint hatten, gaben sie sich zufrieden. Wir waren nun „Woina Plenni“, Kriegsgefangene. Man trieb uns unter großer Eskorte am Ufer des Sans entlang; denn die sowjetischen Soldaten suchten vergeblich eine Brücke über den Fluss. Vielleicht war sie von zurückziehenden deutschen Truppen gesprengt worden oder es gab tatsächlich keine in dieser Gegend. Überall sahen wir die noch schwelenden Reste abgebrannter Häuser. Die Front konnte also vor noch nicht so langer Zeit hier gewesen sein. Wir Gefangene gingen je zwei Mann im Abstand von etwa zwei Metern nebeneinander; vor uns zwei Rotarmisten, die rückwärts gingen und uns angstvoll beobachteten, rechts und links von uns je einer mit Maschinenpistole, hinter uns ebenfalls zwei Posten, die auf uns aufzupassen hatten. Wir durften nicht ein Wort sprechen oder flüstern.
Gegen Mittag kamen wir in ein größeres Dorf, das dermaßen mit Militär besetzt war, vor allem mit Panzern, Fahrzeugen und Soldaten, dass ich an unseren Führer denken musste. Schon zwei Jahre vorher hatte er behauptet: „Die Rote Armee ist am Boden zerschmettert.“ Wir sahen auf unserem Marsch, dass unmittelbar nach Frontverschiebungen ganze Scharen von Uniformierten kamen und die gesamte Kriegsbeute, die aus Metall bestand, aufsammelten und ins Hinterland abtransportierten.
Die Kommandostelle in diesem Ort lehnte es ab, sich um uns Gefangene zu kümmern. So wurde der Schweigemarsch weiter fortgesetzt bis schätzungsweise 14 Uhr, als wir an eine Furt durch den San gelangten. Hier gab es einen sogenannten „Äppelkahn“, etwa fünf bis sechs Meter lang, mit Bänken in der Mitte. Wir wurden genötigt, uns hinter zwei Meter hohe Strohhaufen, die am Rande der Felder aufgetürmt waren, hinzusetzen, aber immer getrennt. Da saßen wir nun, rings um uns herum Hunderte von Rotarmisten. So wie sie ankamen, zogen sie sich splitternackt ohne irgendwelche Hemmungen aus, obwohl etliche Krankenschwestern oder andere weibliche Personen dabei waren. Wir Deutschen hätten uns meiner Ansicht nach nicht in Gegenwart deutscher Krankenschwestern ausgezogen. Alle Soldaten waren kahl geschoren und am ganzen Körper enthaart. So etwas kannten wir nicht. Wir sollten uns auch ausziehen. Aber wir weigerten uns, denn wir dachten: „Wer weiß, was sie uns antun; vielleicht entmannen sie uns oder dergleichen.“ Es war ihnen schon zuzutrauen, da man ja genug gehört und gesehen hatte. Sie quälten uns mit ihren Fragen bezüglich Alter, Frau und Kindern. Jeder, der neu hinzukam, ob Ukrainer, Weißrusse, Tatar oder Mongole, stellte die gleichen Fragen. Es wurde geredet mit Händen und Füßen und im Grunde war es dasselbe Thema wie unter deutschen Soldaten: Nach den deutschen Frauen wurde gefragt, ob deren Antlitz schön, ihre Oberweite entsprechend sei… Wer ein paar Worte in deutscher Sprache verstand, übersetzte sie ins Russische. Man merkte dann an den Gebärden der Zuhörer, dass sie es begriffen hatten. Dann kam auf einmal ein junger Sergeant, ein Bürschchen von 17 Jahren, der konnte auch etwas Deutsch sprechen. er war wohl Komsomolze1, einer der zuverlässigsten Genossen! Er wusste mehr als alle anderen zusammen über unser weiteres Schicksal, das auf uns zukommen würde: „Die Alten nach Haus. Die Jungen arbeiten in Fabrik.“
Die russischen Soldaten badeten nun ungeniert im San, dann rollten sie ihre Uniformen zusammen, nahmen sie auf die Schulter und schwammen durch den San, der an dieser Stelle circa 100 Meter breit war. Am anderen Ufer angekommen, ließen sie sich in der Sonne trocknen, zogen die Uniformen an und sammelten sich wieder zur Hundertschaft. Wir dachten: „Ein Bad hätte uns auch gut getan.“ Aber wir hatten uns ja grundsätzlich geweigert, uns vor den besonders kräftigen Russen zu entblößen.
Was taten nun die Russen, um uns heil über den San zu bringen? Sie benutzten besagten Äppelkahn. Immer zwei von uns, so weit wie möglich voneinander getrennt, mussten den Kahn besteigen. Ich war einer der Ersten, die von zehn starken Iwans, rings um das Boot verteilt über den San schwimmend, hinüber transportiert wurden. Der Kahn leckte und so mussten unsere Feinde auch noch das Wasser ausschöpfen, während ich mir vorkam wie ein König. Im Inneren habe ich mich amüsiert über ihre Angst, wir ausgehungerten Gefangenen könnten vielleicht noch eine Granate dabei haben. Als endlich alle Sechs am anderen Ufer angekommen waren, wurde der Marsch fortgesetzt; wir wieder unter strenger Bewachung eskortiert, vor uns und hinter uns jeweils eine Hundertschaft, singend. Einer stimmte an, die anderen fielen ein.
Bei untergehender Sonne wurde nun zügig marschiert. Bisher hatte es weder etwas zu essen noch zu trinken gegeben. Irgendwann, vielleicht um sieben Uhr abends, hieß es: „Halt!“ In unserer Kolonne war auch ein Panjewagen. Wir nannten ein solches Gefährt auch Schokoladenwagen, denn seine Form war wie die eines Stückes Schokolade mit einer Mulde, nur umgekehrt. Der Pferdehalter war ein schon älterer Mann. Ich fragte ihn nach „chleb“. „Budit“2, antwortete er mir und gab uns etwas Brot; er hatte selbst auch nicht viel. Ich staunte über die primitive aber doch praktische Art, das Pferd zu versorgen: Der Mann langte aus dem Schokoladenwagen eine Sense hervor und fing an, das Gras am Straßenrand zu mähen. Dann warf er es auf den Wagen, während sich das Pony am Straßenrand seinen Bauch vollschlug. Weiter ging es bis gegen 22 Uhr. Wir konnten die Zeit nur schätzen, da der Russe uns die Uhren ja abgenommen hatte.
Man gab uns Gefangenen Zeichen, uns auf eine große Sumpfwiese zu begeben, nachdem man erst 12 Soldaten als Bewacher am äußeren Rande der Wiese postiert hatte. Alle unsere Hoffnung schwand, als wir das sahen, denn wir wurden aufgefordert, uns mit den Händen auf dem Rücken einzeln in den Kreis zu begeben. Ich kam mir vor wie Albert Schlageter3 auf der Golzheimer Heide bei Düsseldorf vor seiner Hinrichtung. Wir mussten uns also einzeln auf diese Sumpfwiese hinlegen, auf der es von Mücken und Schnaken nur so wimmelte, ständig von entsicherten Maschinenpistolen bedroht. Ich zweifelte an Gott und der Menschheit. Was hatten wir persönlich verbrochen? Nachdem wir uns in den Schlaf gezittert hatten, kam der nächste Morgen. Die Sonne meinte es gut mit uns. Sie tat so, als wäre nichts geschehen. Sie schien wie immer, egal ob auf Feind oder Freund. Es war, als ginge sie das alles nichts an. Sie hatte ja recht, sie war für alle da. Wir waren also doch nicht erschossen worden, sondern wurden unter Bedrohung aufgefordert aufzustehen und uns wie am Vortag in die russische Kolonne einzufügen; wieder mit großem Abstand voneinander und mit strenger Bewachung.
Der Marsch in die Gefangenschaft erfolgte unter dem Gespött der polnischen Bevölkerung von Jaroslau durch Anspucken, Bewerfen mit Steinen, Dreck und Scheiße und dem Gebrüll: „Hitler kaputt! Alles über Deutschland!“ Die polnischen Freischärler, vorher Untergrundbewegungen beziehungsweise Partisanen, liefen in neuen polnischen Uniformen umher! Woher hatten sie diese nach fünf Besatzungsjahren? Die Russen mussten uns vor den Gewalttätigkeiten der Polen schützen. Wir wussten ja nichts von dem Attentat auf Hitler. Wir waren sauer auf ihn, der uns diesen Krieg eingebrockt hatte. Denn wir mussten diesen nun ausbaden.
Auffanglager, Nähe Grodno/Polen, 02. August 1944 bis 12. August 1944 Zwischen 14 und 15 Uhr erreichten wir ein Notlager in der Nähe von Grodno. Das war eine Scheune, etwa 12 Meter breit und acht Meter tief. Sie war von einem Stacheldrahtzaun umgeben, den ein aus dem fahrenden Zug entwischter KZ-Angehöriger, wie dieser uns später selbst erzählte, aufgestellt hatte, in der Hoffnung, dadurch Vorteile zu erlangen. Denn wie wir später auch immer wieder feststellen mussten, galt der Mensch einzig und allein nur als Arbeitskraft etwas. Zunächst wurden wir zum Verhör in ein polnisches Bauernhaus gebracht. Man fragte nach unserer Einheit und, da wir als Nachrichtenleute einen Blitz auf dem Ärmel trugen, ob wir zur SS gehörten. Hier gab Unteroffizier Raufeiser, wie schon erwähnt, seine Kartentasche mit Karte und Kompass ab mit der Bemerkung, dass damit der Roten Armee schneller zur Beendigung des Krieges und zum Sieg verholfen werden sollte. Dann wurden wir zur Scheune gebracht. Davor wurde gerade Suppe gekocht in einem Benzinfass, aus dem man einen Boden entfernt hatte. Es stand auf ein paar Steinen. Ein paar Köpfe Weißkohl und Wasser, das war alles. Dann gab es Essen, für uns aber nicht! Denn wir waren ja die Neuen, denen erst am nächsten Tag Essen zustand. Am nächsten Tag bekamen wir also erstmals etwas zu essen: Ein Stückchen Brot so groß wie eine Streichholzschachtel. Da wir keinerlei Gefäß zum Essen fassen besaßen, bettelten wir bei anderen Eingesperrten. Ich glaubte, der Sprache nach einen Bayern angesprochen zu haben. Es war aber ein Jugoslawe. Er wollte mir seinen Pott leihen, wenn ich ihm die Hälfte der Suppe gäbe. Was blieb mir anderes übrig? Die Brühe roch und schmeckte nach Kaninchen-Pisse – widerlich! Am nächsten Tag schmeckte sie schon besser. Hunger ist also doch der beste Koch.
1Mitglied der Komsomol, eine 1918 gegr. kommunist. Jugendvereinigung (14 bis 26 Jähriger) in der Sowjetunion.
2Es wird sein.
3Albert Leo Schlageter (1894-1923), Offizier, während der Ruhrbesetzung von den Franzosen wegen Sabotage erschossen