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I. Einberufung zum Wehrdienst
ОглавлениеGeboren bin ich, Ulrich Wilhelm Slawinski, im Inflationsjahr 1923 in Siegen als jüngstes Kind der Familie Friedrich Slawinski. Nach dem Mittelschulabschluss 1940 folgte ein zweijähriges Praktikum vom 1. April 1940 bis 31. März 1942. Während dieser Zeit wurden alle, die nicht Hitler-begeistert waren, der HJ1-Feuerwehr zugeteilt. Wir mussten abwechselnd nachts Wache schieben, falls es zu Luftangriffen kommen sollte. Im Januar 1942 erkrankte ich an einer schweren Rippenfellentzündung. Es wurde schon längere Zeit gemunkelt, unser Jahrgang würde im April eingezogen. Mein Vater schrieb auf Grund meiner Erkrankung an das Wehrbezirkskommando, mich wegen des schlechten Gesundheitszustandes zurück zu stellen. Die Antwort vom 19. März 1942 lautete: „Ihr Sohn wird mit seinem Jahrgang zum aktiven Wehrdienst einberufen!“ Ich war nach meinen beiden Brüdern Friedrich und Lothar sowie meinem Schwager Herbert der vierte aus unserer Familie, der zum Wehrdienst eingezogen wurde. Mein Vater gehörte keiner Partei an. Alle meines Jahrgangs bekamen im März bereits ihren Einberufungsbescheid, ich erst am Samstag, dem 10. April 1942. Darin stand: „Sie werden zu einer kurzfristigen militärischen Übung am 18. April 1942 eingezogen!“ Nur noch eine Woche!
Es waren 750 junge Leute aus dem Kreis Siegen, die sich morgens um sieben Uhr beim Wehrbezirkskommando in Siegen, Friedrichstraße, zu melden hatten. Mit einem Sonderzug fuhren wir über Wetzlar und Gießen nach Marburg an der Lahn. Dort ging es in die alte Jägerkaserne.
Wir waren mit 26 Mann auf einer Stube! Beim Einkleiden hatte man mir ein Paar ausgetretene Schuhe verpasst. Mit diesen musste ich nachmittags beim Sport einen 10-Kilometer-Lauf machen. Dazu herrschte hochsommerliche Hitze. Meine Füße waren geschwollen und die Fußsohlen voller Blasen. Aber als Soldat muss man ja durchhalten, wie später an der Front! In den folgenden acht Tagen gab es einen Wetterumsturz. Wir bekamen kühles Maiwetter. Da ich durch die Rippenfellentzündung im Januar noch sehr empfindlich war, musste ich immer mit einem Rückfall rechnen. Der kam auch in Form von Kehlkopfkatarrh. Wir hatten morgens eine Stunde Schulung. Hauptmann Hilpisch fragte etwas und zeigte auf mich. Ich stand auf, um seine Frage zu beantworten, konnte aber nicht eine Silbe herausbringen. Hauptmann Hilpisch sagte: „Der Kerl kann ja gar nicht sprechen. Setzen!“
10. Mai 1942 – Es gab Schießübungen. Ich hatte Glück und schoss 34 Ringe, zweimal 12 und einmal 10. Als erster Siegerländer bekam ich auf diese Weise Sonntagsurlaub. Um 15 Uhr ging mein Zug ab Marburg Hauptbahnhof, den ich humpelnd erreichte. Etwa um 18 Uhr kam ich im Heimatbahnhof Geisweid an, brauchte aber eine Stunde vom Bahnhof bis nach Hause, ein Weg, den man normalerweise in 10 Minuten zurücklegt. Ich ging nur auf den Fersen. Alle waren entsetzt, als sie meine Füße sahen. Am Sonntag musste ich schon den Zug um 16 Uhr zurück nach Marburg nehmen, da ich um 22 Uhr in der Kaserne zu sein hatte und der nächste Zug erst um 22.30 Uhr in Marburg angekommen wäre.
In der nächsten Woche machten wir Geländeübungen in Cyriaxweimar, südwestlich von Marburg. Da ich wegen meiner kaputten Füße behindert war, scheuchte man mich extra. Keiner der Kameraden machte den Mund auf, um mich zu rechtfertigen. Nach einem weiteren 30-Kilometer-Marsch mittags in einer Gluthitze rund um Marburgs Osten hinkte ich in der letzten Reihe derart nach, dass Unteroffizier Brust mir das Gewehr abnahm und es für mich trug! Anschließend wurde gefragt, wer fußkrank sei. Ich war nicht der einzige. „Ab ins Krankenrevier!“ Eine Woche vor Pfingsten. Der Sanitäter konnte mir die Haut unter den Füßen abziehen. Meine Mutter hatte sich zu Besuch über Pfingsten angemeldet. Da ich ja eine Woche im Revier gelegen hatte, konnte ich nicht mit ihr in die Stadt gehen. Mein Bruder Friedrich kam auch überraschenderweise nach Marburg, um mich zu besuchen! Da wir Slawinskis dieselbe Fußform hatten, gab er mir seine Stiefel – sie passten – nur hätten sie eine halbe Nummer größer sein können. Aber ich habe den nächsten 40-Kilometer-Fußmarsch in der Woche nach Pfingsten mitgemacht ohne Beschwerden. Alle Vorgesetzten waren fassungslos und konnten nicht begreifen, dass ich keinerlei Fußbeschwerden hatte! Tags darauf Stiefelappell. Oh weh, die Stiefel meines Bruders sahen noch so neu aus und hatten keine Nägel unter den Sohlen. Jeder Stiefel sollte laut Vorschrift mit 32 Nägeln versehen sein. Wehe, es fehlte einer! Was nun? Guter Rat war teuer! Die Stiefel zum Benageln abgeben war nur in der Mittagspause möglich! Da in unserem Kasernengebäude auch noch eine „Genesungskompanie“ untergebracht war, lieh ich mir dort von einem älteren Kameraden gegen eine Schachtel Zigaretten dessen Stiefel aus. Ich dachte, hoffentlich merkt keiner beim Appell etwas, wenn er diese alten ausgetretenen Stiefel sieht. Aber alles ging glatt.
Der Zufall wollte es, dass ich Dienst in der Gerätekammer hatte. Unteroffizier Lissi, dem die Gerätekammer unterstand, sah wohl in mir den geeigneten Soldaten. Er erkundigte sich bei mir nach irgendwelchen körperlichen Einschränkungen wie Herzfehler, Asthma… Ich berichtete, dass ich Herz- und auch Atembeschwerden hätte! Er daraufhin: „Gehen Sie morgen früh sofort zum Arzt ins Krankenrevier und lassen sich untersuchen, alles weitere veranlasse ich.“ Am nächsten Morgen, Samstag, dem 20. Juni, meldete ich mich beim Revierarzt. Der horchte mich ab: „Luft holen, nicht atmen!“ Ich hielt die Luft an; dann hieß es: „Donnerwetter, der Kerl holt ja gar keine Luft, ab in die Poliklinik!“ Diese befand sich damals schon in der Deutschhausstraße. Dort wurde ich gründlich untersucht. Es wurde auch ein EKG gemacht. Dann ging Oberarzt Dr. Irle hinaus und kam und kam nicht wieder. Neugierig, wie ich schon immer war, sah ich mir das EKG an und dachte: „Oh weh, alles gleichmäßig, keine Unregelmäßigkeiten, jetzt ruft der Arzt gewiss ein Kommando, das mich als Simulant abholen soll.“ Mit klopfendem Herzen wartete ich den ganzen Vormittag bis kurz vor zwölf Uhr. Dann kam die Stunde der Wahrheit. Sofort ins Lazarett! Mir fiel ein Stein vom Herzen. Da mein Vater mich an diesem Wochenende besuchen wollte, fragte ich: „Hat es nicht bis Montag Zeit?“ „Nein, das Bett ist schon freigemacht!“ Dieser Arzt hatte ein furchterregendes Gesicht, ähnlich dem einer Bulldogge, aber dahinter verbarg sich ein guter Kern. Nun eilte ich zurück in die alte Jägerkaserne; dort brüllte man schon: „Wo bleibst du denn? Du sollst die Latrine schrubben. Heute am Samstag ist unsere Stube mit Revier reinigen dran!“ Ich sagte: „Ihr müsst das ohne mich machen! Ich muss ins Lazarett!“ Ich ging erst noch in den Speiseraum, um mein Mittagessen einzunehmen; es war mittlerweile 13 Uhr. Es gab Nudelsuppe mit Kartoffeln. Ich habe mich das erste Mal in den neun Wochen Kaserne satt gegessen. Als Innendienstleistender hatte ich beim Umräumen im Vorratskeller Fässer mit Gurken entdeckt, in denen es nur so von Maden wimmelte! Da war mir der Appetit vergangen. Es stellte sich heraus, dass ich 7,5 kg abgenommen hatte. Wie ich später erfuhr, hatte man den „Spieß“, die Mutter der Kompanie, wegen Veruntreuung von Lebensmitteln degradiert und wohl inhaftiert.
Nach einem kurzen Gang durch die Stadt meldete ich mich im Reservelazarett 1, der medizinischen Klinik, an. Wir lagen dort mit 22 Soldaten in einem Saal; für heutige Begriffe unvorstellbar, aber ich denke immer gern an diese Zeit zurück. Abends stand ein Mann im dunkelblauen Anzug am Fußende meines Bettes, sah mich kurz an und ging wieder weg. Ich nahm an, dass es ein Besucher gewesen war. Da wurde ich von meinem Bettnachbarn informiert, dass es sich hier um den Chefarzt handelte! Er trug, da er wohl kein Anhänger des Dritten Reiches war, keine Uniform, sondern immer den Dunkelblauen! Er kam kurz darauf wieder, erkundigte sich nach meinen Beschwerden und untersuchte mich. Ich fragte: „Bekomme ich keine Arznei?“ „Nein, Sie bekommen hier nach alter Marburger Art dreimal täglich für zwei Stunden einen Brustwickel und essen Sie so viel Sie können! Sie haben nasse Rippenfellentzündung!“ Das Wasser wurde verschiedene Male punktiert! Jeden Abend wurden alle bettlägerigen Soldaten zur Sicherheit wegen Fliegeralarm ins Hauptgebäude gefahren.
Nach etwa drei Wochen schrieb mein Vater, mein Bruder Lothar sei durch einen Bauchschuss schwer verwundet worden, sodass man mit allem rechnen müsse! Dann hatten
meine Eltern ihren Besuch angemeldet! Just an dem Tage, es war vielleicht der 20. Juli, kam morgens ein Brief von meiner Schwägerin aus Wien: „Nun hat unser lieber Lothar alles überstanden!“ Für mich brach eine Welt zusammen; ich konnte es nicht fassen! Und schon ging die Tür zum Saal auf und meine Eltern traten ein, ganz in schwarz gekleidet. Mein Puls war so hoch, dass ich am Abend nach 18 Uhr immer noch 146 Pulsschläge zählen konnte! Mein treusorgender Vater hatte auch eine Unterredung mit Oberstabsarzt Dr. Habs wegen meines Gesundheitsbefunds. Seine Meinung: „Ihr Sohn wird nur noch arbeitsverwendungsfähig werden und nicht mehr zum Kriegsdienst tauglich sein, weil Lunge und Rippenfell miteinander verwachsen sind. Damit er keine Tbc bekommt, schicken wir ihn noch in ein Kurlazarett für Lungenkranke. Der Antrag liegt schon dem Generalarzt in Kassel zur Genehmigung vor.“
Dr. Habs machte Urlaub, oh weh! Wer würde ihn vertreten? Es war Oberarzt Dr. Irle! Ich dachte, wenn das gut geht! Vielleicht ist er so eingestellt, schnell alle gesund zu schreiben, um zu glänzen? Nun kam Dr. Irle! Ich war der Elfte in der Bettreihe, jeder hatte ein Schild am Kopfende des Bettes mit Namen, Geburtsdatum, Dienstgrad und darunter die Fiebertafel und so weiter. Er blieb vor meinem Bett stehen und fragte: „Slawinski, sind Sie der verhungerte Ziegenbock, den ich hierher eingeliefert habe?“ „Jawohl, das bin ich.“ Irgendwie stellte sich dann in der nächsten Zeit heraus, dass Dr. Irle einer der bekanntesten Siegerländer Familien entstammte. Da ich über den Familienstamm Irle im Bilde war, kam dann durch die Blume heraus, dass er auch mit der Irle Brauerei verwandt war. So hatten wir von nun an ein gutes Verhältnis!
Jeden Morgen kamen etwa ein Dutzend Medizinstudenten, um an uns Untersuchungen durchzuführen. Erst kamen sie noch in Zivil, nach drei Wochen dann in Uniform als Sanitätsunteroffiziere. Einmal wurde festgestellt, mein Herz wäre zwei Zentimeter nach links verschoben. Schließlich war ich die Bemalung auf meinem Körper mit blauen und roten Farbstiften leid und erklärte den Studenten, sie dürften an mir keine Untersuchungen mehr vornehmen, ich sei so schwer krank, dass ich sonst einen Rückschlag bekommen und es mit mir noch schlimmer werden würde. Von da an hatte ich Ruhe.
Die tragischste Erinnerung an meine Zeit im Lazarett war die Einlieferung eines 35 Jahre alten Familienvaters von zweijährigen Zwillingen. Er litt an Darmverschluss und ist bei vollem Bewusstsein innerlich verbrannt. Die Ehefrau saß hilflos da, und die Kinder wollten mit dem Papa spielen. Ich kann das Bild des Grauens nicht auslöschen!
Nachdem ich länger als sechs Wochen das Bett gehütet und auch mein Normalgewicht von 70 kg erreicht hatte, bat ich immer wieder darum, bei sonnigem Wetter an die frische Luft gehen zu dürfen. Endlich hieß es: „Heute dürfen Sie eine Stunde an den Lahnwiesen spazieren gehen.“ Ich war glücklich. Aber ich schaffte es nicht mehr ganz zurück, wohl auf ebener Erde, aber nicht die Treppen hinauf! Die Krankenschwestern erklärten mir: „Das Bett zehrt!“
Meine Eltern hatten einmal bei einem Besuch versehentlich einen kürzeren Weg in die medizinische Abteilung durch die Chirurgie genommen. Als mein Vater dort das Elend mit den Verstümmelungen gesehen hatte, äußerte er sich, es wäre besser tot zu sein, als ohne Arme oder Beine leben zu müssen.
1Hitler-Jugend