Читать книгу Weit war der Weg zurück ins Heimatland - Ulrich Slawinski - Страница 9

Das Aus der 340. Grenadierdivision

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„Slawinski, Sie sind demnächst mit Urlaub dran; danach habe ich Sie für einen Unteroffizierslehrgang vorgesehen“, so der Stabsfeldwebel Köckert. Das hieß, ich würde dann zu einer Schützenkompanie versetzt und als Infanterist eingesetzt werden. Ich sprach darüber mit Peter Heister, einem Funker und guten älteren vertrauenswürdigen Kameraden, in Zivil Seifensiedermeister bei den Dalli-Werken in Stolberg bei Aachen, Josef von Görresstraße. Er riet mir, nach dem Urlaub niemanden an den Lehrgang zu erinnern. Peter Heister war damals etwa 28 Jahre alt, verheiratet und kannte den Ost-Krieg mit Winterrückzug von Woronesch zur Genüge. Ich schrieb meinen Eltern, dass ich wohl zur Erdbeerernte zu Hause sein werde.

Invasion im Westen: Urlaubssperre an allen Fronten! Wir hatten Quartier in Chmelnio, circa 20 Kilometer östlich von Lemberg, 20 Kilometer westlich von Brody1 in Galizien, das vor dem Ersten Weltkrieg noch zu Österreich gehört hatte; darum war die Bevölkerung besonders freundlich zu uns. Ein älterer Mann erzählte mir im Vertrauen: „Hier ist schon einmal ein Krieg entschieden worden. Hier sind noch die Betonbunker des Ersten Weltkrieges, wo ihr jetzt eure Stellung habt!“ Ich erwähnte das Gespräch in einem der nächsten Briefe verschlüsselt nach Hause. Wir hatten zuerst Quartier in dem Haus einer Familie, deren Sohn sich zur „Waffen SS“ gemeldet hatte und nur circa 15 bis 20 Kilometer von zu Hause im Brody-Kessel eingesetzt war.

Der Name Brody ist bekannt. Seit April befanden wir uns auch in diesem Raum. Wir bekamen den Befehl, Hals über Kopf Stellungswechsel zu machen, mussten alles liegen und stehen lassen und bekamen neue Schnellfeuergewehre. Irgendwo standen bei Nacht und Nebel Güterwagen bereit zum Transport, um hier im Großraum „Brody“ die linke Seitenflanke zu sichern. Die Front links von uns war mit dem Rest einer Division besetzt. Besetzt hieß damals: Alle 200 Meter ein Soldat, alle 500 Meter ein Maschinengewehrstand. Dazwischen gab es Laufgräben, in die hatte man an Drähten leere Konservendosen aufgefädelt, die klapperten, falls feindliche Spähtrupps die Gräben stürmten oder hineinfielen! Im März 1944 war ein Führerbefehl durchgekommen: „Keinen Meter zurück, sondern Einigeln!“ Ich dachte: „Oh weh!“

Es war jetzt Juli und so heiß, dass wir nur morgens früh oder am späten Nachmittag unserem Leitungsbau nachgehen konnten. Die Kinder des Dorfes suchten Walderdbeeren und boten uns das volle Marmeladenglas für fünf Mark an. Die Beeren waren in den feuchten Wäldern dicker als in unseren heimischen Wäldern.

Vom 11. bis 14. Juli 1944 sollte ein Bautrupp, bestehend aus einem Pferdegespann mit Fahrer und zwei Fernsprechern – wir waren ja eine bespannte Einheit – im rückwärtigen Gebiet nicht mehr benötigte Fernsprechleitungen abbauen. Ich musste und wollte mit, da ich Malheur mit den Zähnen hatte und sich bei der Division eine Zahnstation befand. Im Nachhinein denke ich, dass ich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt eine Zahnbehandlung nötig hatte, war wohl eine Fügung des Schicksals. Da ich aber von zu Hause aus zu Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit erzogen worden war, konnte ich nicht einfach noch einen oder zwei Tage wegen der Zahnbehandlung dranhängen. Wer hätte mir das nachweisen können, falls ich es getan hätte? Unsere Ausbeute war nicht allzu groß, da Leitungsbauer der Division hier bereits tätig gewesen waren. Während der Fahrt nach Lemberg über Radcichow hörten wir schon immer ständigen Gefechtslärm, die Erde vibrierte und es dröhnte. Dazu kamen die Bombenangriffe der Roten Armee.

Auf der Rückfahrt von Lemberg nach Chmelnio, wo sich unsere Erdbunker befanden, wurden wir immer wieder aus sowjetischen Flugzeugen beschossen. Wir konnten die grinsenden Gesichter der Bordschützen sehen. Mehrmals mussten wir in Fliegerdeckung gehen, durften uns nicht bewegen, lagen getrennt voneinander. Nach etlichem quer Überfliegen der Straße hatte der Iwan wohl angenommen, er hätte uns erwischt oder seine Munition war alle.

In Chmelnio angekommen hieß es: „Sofort Munition empfangen und zurück Richtung Westen, der Russe hat den Regimentsgefechtsstand überfallen!“ Wir fuhren mit unserem Gespann wieder gegen Westen zurück für einen Gegenstoß. Unser damaliger Regimentskommandeur, Major Ahnert, war gefallen. Sein Bursche, ein Hiwi, hat sich damals geäußert: „Wenn gute Chef tot, ich will auch nicht mehr leben!“ Er erschoss sich mit dessen Pistole.

Wir versuchten den Gegenstoß, mussten aber der Übermacht der „Roten Armee“ weichen und um unser nacktes Leben laufen. Ich hielt mich an Leute unseres Pionierzuges. Der Russe hatte wohl für den Tag sein Ziel erreicht und bezog Stellung. Die Front blieb stehen, die Soldaten bezogen Stellung wie immer. Alle ahnten nicht, dass das nur ein Scheinangriff gewesen war, denn die Wirklichkeit sah anders aus, wie wir später feststellen mussten!

Es begann zu dunkeln, etwa um 22:30 Uhr. Da erschien ein Vorposten – sehr aufgeregt – und machte Meldung über große Truppenbewegungen vor der Stellung in Richtung Wald. Dort marschierten etliche Kolonnen. Der Russe marschierte in Hundertschaften, das heißt eine Reihe mit fünf Mann bildeten eine „Piertiorka“2 und das zwanzigmal hintereinander. Der Ausdruck wird im späteren Gefangenenbericht noch öfters vorkommen. Man glaubte dem „Schützen Arsch vom Waldrand“ nicht und wies ihn ab mit der Bemerkung: „Sie sind wohl besoffen, Sie haben Gespenster gesehen. Auf dieser Karte gibt’s keine Wege. Wo sollen die Russen denn herlaufen?“ Es gab wohl Wege durch die Wälder in den Pripjet-Sümpfen; sogar Schienen für die Feldeisenbahn zum Holz abfahren. Meine Gedanken sind heute: „Sollte man der deutschen Wehrmacht vielleicht mit Absicht unvollständiges Kartenmaterial von Seiten der Besetzten untergeschoben haben???“ Denn wie wir auf unserem später folgenden Fluchtversuch aus Gesprächen mit Deutsch sprechenden Bewohnern erfuhren, gab es dort vier Arten von Partisanen, und zwar polnische und ukrainische gegen Russland und auf der anderen Seite solche gegen Deutschland!

Mir haben später in Sibirien Ukrainer die Frage gestellt: „Warum habt ihr die Ukraine nicht selbständig gemacht? Dann hätten wir mit euch um die Befreiung vom Kommunismus gekämpft!“

Am anderen Morgen kam ich mit den Pionieren zurück, weil ja angeblich die Front wieder stand! Mein inneres Gefühl hatte mich gewarnt, aber die Angst, den „Kettenhunden“ der Feldgendarmerie in die Hände zu fallen und erschossen zu werden, war groß. Ich meldete mich bei Unteroffizier Raufeiser, der darauf sagte: „Slawinski, wenn wir hier raus sind, bringe ich Sie vors Kriegsgericht!“ Dies wollte er tun, weil ich bei der Absetzbewegung in den Pionierzug unserer Regimentsstabskompanie geraten war. Mit diesem Menschen kam ich am 1. August in Gefangenschaft, wo er beim ersten Verhör seine Kartentasche mit Inhalt den Sowjets übergab mit der Bemerkung, sie könnten diese gut gebrauchen, um den Krieg siegreich zu beenden. Er als Besitzer des Deutschen Kreuzes in Gold meldete sich als Erster zum „Nationalkomitee Freies Deutschland“. Ich war entsetzlich enttäuscht von solch einem ehemaligen Vorgesetzten, von Beruf Friseur aus Königsberg, von wo auch unser ehemaliger Regimentskommandeur Oberst Herbst stammte; ein feiner besonnener Mensch, der schon den Ersten Weltkrieg mitgemacht hatte.

Das Schauspiel, das sich nun am 15. Juli 1944 unseren Augen bot, sah aus wie ein Aufmarsch aus dem Bilderbuch oder am Tag der deutschen Wehrmacht! Der Iwan kam etwa 300 bis 400 Meter von uns entfernt von der anderen Hangseite in aller Ruhe in Hundertschaften rechts vor uns aus dem Wald und teilte sich jeweils in Gruppen von 20 Soldaten in Schützengräben bzw. Laufgräben. Bei dem ersten Erscheinen der Russen hieß es: „Nicht schießen, wir müssen sparen, lassen sie herankommen und schießen dann.“ Der Aufmarsch nahm kein Ende. Man konnte glauben es wäre ein Wespennest, in das man hinein sticht. Unser Hauptmann Windten, Kommandeur vom zweiten Bataillon, 18 Jahre Soldat, hatte kurz vorher seinen Urlaub von drei Wochen genommen, kam aber nach einer Woche wieder und meldete sich beim Regimentskommandeur zurück. Der war sehr erstaunt, dass Windten schon wieder da war. Dessen Antwort: „Meine beste Erholung ist bei meinen Grenadieren im Graben!“ Mir wäre das nicht passiert! Was aus ihm geworden ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Wir mussten ihn schwer verwundet zurücklassen.

15. Juli – Wir mussten der Übermacht weichen und zogen uns unter schweren Verlusten in die Stadt zurück, das heißt der Russe trieb uns durch die Gassen von allen Seiten. Er hatte uns inzwischen auch von Südosten umzingelt. Der einzige Fluchtweg ging Richtung Südwest. Am Ortsausgang lag der Bunker des Feldmarschalls Model, tief unter der Erde, in Blockbauweise gebaut, alles fein und sauber. Es gab dort Wohnraum, Arbeitszimmer, Küche, Schlafraum sowie Unterkünfte für das Wachkommando, die Adjutanten und so weiter. Der Bunker war unbewohnt, uns zum Nutzen. Es regnete und wir hatten ein Dach über dem Kopf. Wie sollte es weitergehen? Den ganzen Tag über retteten sich Soldaten in den Bunker. Sie berichteten von sowjetischen Panzerschützen, die mit grinsenden Gesichtern Jagd machten auf einzelne Deutsche und sie dann kaltblütig zerquetschten!! So auch meinen guten Kameraden Willi Becker aus Köln, verheiratet, ein Kind, ein Junge. Dem etwa Dreijährigen hatte er von den Ponys erzählt, die unsere Wagen zogen. Der kleine Junge hätte auch gern so ein Pferdchen gehabt, was ihm sein Papa für den nächsten Urlaub versprochen hatte. Damals gab es das Lied „Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen…“.

Spät am Nachmittag versuchten wir, uns einzeln zum 300 bis 400 Meter entfernten Wald zu retten. Es war wie beim russischen Roulette, im Laufschritt hinlegen, sich tot stellen, robben, Sprung in die nächste Deckungsmöglichkeit. Ich hatte es geschafft. Wenn es ums Überleben geht, kann man viel. Ich glaube im Nachhinein, dass nur jeder Dritte den rettenden Wald erreichte. Es kann aber auch sein, dass die Russen ihr Tagesziel erreicht hatten, denn wir beobachteten, dass sie sich am Rande der Stadt einschanzten. Im Wald waren Fahrzeugspuren zu sehen und wir glaubten, es wären die der Unsrigen. Deshalb fühlten wir uns sicher, gerieten aber in eine Sackgasse. Da es mittlerweile stockfinster war, sanken wir total erschöpft, ausgehungert und am Verdursten, in einen tiefen Schlaf!

Als am 16. Juli der Nachrichtenzug und die Truppenreste bei der Division eintrafen, wurde uns mitgeteilt, dass wir seit dem Vorabend 22 Uhr eingeschlossen wären, und zwar durch Panzer bei Busk3, einer Stadt am Bug, wo der Russe die einzige Brücke besetzt hatte. Wir saßen in der Falle! Der Überfall bei Radcichow war also nur ein Scheinangriff gewesen, um uns abzulenken, während der Russe bequem südlich, von uns unbemerkt, den Bug4 bei Busk erreichte. Zum andern war die ganze Gegend ein unermesslich großes Sumpfgebiet mit riesigen Kiefernwäldern. Wir flüchteten mit dem Rest der Division über Feldeisenbahndämme, da die sumpfigen Wälder im Sommer nicht begehbar waren, sondern nur im Winter wie auch in Sibirien. Das Fahren auf den Schwellen war für Pferd und Wagen sehr strapaziös; es gab Achsenbrüche an den erbeuteten Bauernwagen. Die Pferde wurden einfach ausgespannt, der Wagen mitsamt dem ganzen Ladegut den Bahndamm herunter gekippt. Ich konnte nicht begreifen, dass sich unsere Lage innerhalb einiger Stunden so dramatisch verändert haben sollte. Aber es war die absolute Tatsache!

Es war ein wunderschöner Julitag, eine himmlische Ruhe, kein Gewehrfeuer oder Granateinschlag; ein seltsames Gefühl für uns alle, für mich besonders, da ich eine solche Lage das erste Mal erlebte, während alle anderen Soldaten unserer Division schon im Winter 1943 eine Einkesselung erlebt hatten. Nur dieses Mal hatte uns der Iwan ganz schön reingelegt. Er hatte ja das Umzingeln von der deutschen Wehrmacht gelernt! Ein Fieseler Storch5 flog über uns; ich wollte ein sogenanntes Fliegertuch, eine besondere Hakenkreuzfahne, auslegen. Es wurde mir von Seiten unseres Divisionsführers, Generalmajor Beutler, untersagt mit der Bemerkung, es könnte ja ein erbeutetes Flugzeug sein, das der Feind nun zu Aufklärungszwecken benutze. Nach mehr als 70 Jahren ist es schwierig, die Tatsache klarzustellen.

Unsere Stimmung war unter dem Nullpunkt angelangt. Wir konnten es nicht fassen, wie so etwas geschehen konnte. Wir alle schlichen dahin wie zu unserer eigenen Beerdigung. Das Merkwürdigste war: Keine Feindberührung, kein Schuss, nur Totenstille. Wir ahnten, was uns erwartete. Aber keiner wagte es auszusprechen beziehungsweise zu flüstern, denn Sprechen war verboten!

Also zogen wir Meter für Meter durch den Waldrand bis zum Nachmittag, als wir mitten auf einer großen Lichtung in ein kleines Dorf kamen. Merkwürdigerweise war die Bevölkerung sehr reserviert. Wir erhielten den Befehl, alles, was Geräusche verursachen könnte, wie zum Beispiel Brotbeutel mit Kochgeschirr und Feldflasche, sachte abzulegen. Während wir dann wieder im Schutz des Waldes nach Westen zogen, bemerkte ich rechts oberhalb des Dorfes einen russischen Geländewagen mit vier sowjetischen Offizieren. Schießen wurde uns verboten; es wäre vielleicht nur ein Fahrzeug, das sich verirrt hätte. Wir wollten nicht unbedingt auf uns aufmerksam machen.

Gebückt und lautlos setzten wir unseren Weg fort, immer Marschrichtung Südwesten bis zum Abend. Der Weg endete plötzlich und wir befanden uns außerhalb des Waldes an einem Dorfrand. Dort war ein kleiner Bach, den wir dann einzeln schleichend aufsuchten, um uns an dem köstlichen Wasser zu laben. Daselbst tauchten auch einige Gestalten auf; ihre Nationalität konnten wir nicht identifizieren. Sie sprachen deutsch wie eben in Grenzgebieten üblich. Es war 23 Uhr, ich schlief ein, wurde etwa eine halbe Stunde später wach und wollte wieder auf meine Uhr schauen. Sie war weg. Ich konnte nicht begreifen, wie das zugegangen war. Es war sonderbar. Weder meine Kameraden noch ich hatten etwas bemerkt. Die Uhr befand sich immer in meiner Uhrentasche rechts unter dem Hosenbund.

Es war eine Taschenuhr Marke Revue, die mir die Cousine meiner Mutter, die Frau von Juwelier Friedrich Müller, Bahnhofstraße, Siegen, besorgt hatte und die ich nach meinem Fronturlaub Weihnachten 1943 mit in den Krieg nahm. Dafür ließ ich meine silberne mit Gold versehene Taschenuhr, mein Patengeschenk von Emma Lang, Hilchenbach, zu Hause.

Am 17. Juli, morgens früh, etwa 6 Uhr – die Pferde konnten nichts fressen, da auch sie halb verdurstet waren – wägten wir uns in Sicherheit und zogen los! Nach etwa 10 Minuten Hü und Hott gab es auf einmal eine Knallerei und Hurrää-Gebrüll. Wir befanden uns vor der russischen Stellung am Waldrand. Mit einem Angriff unsererseits hatte der Russe wohl nicht gerechnet, denn teilweise lagen die Burschen noch in ihren Schützenlöchern; sie wurden im Nahkampf überrumpelt und bis vor die Stadt Sokal getrieben! Uns Deutschen hatte man plausibel gemacht, hinter dem Bug hätte die 20. Panzerdivision eine feste Stellung als zweite Frontlinie aufgebaut!!! Alle Verwundeten wurden hinter zwei Häusern in Sicherheit gebracht. Wir nahmen an, dass es sich hier nur um eine kleine Vorhut gehandelt hatte, die es zu besiegen galt, um uns über den Fluss in die dort angeblich verlaufende deutsche Frontlinie zu retten. Falsch gedacht! Nachdem wir viermal vergeblich angegriffen hatten, mussten wir uns vor der Übermacht der Russen und ihren zwei Panzern in den Wald zurückziehen. Später in Gefangenschaft berichtete Unteroffizier Raufeiser, er hätte mit Absicht Sokal viermal angegriffen, er hätte doch noch 400 Zigaretten auf einem Fahrzeug gehabt! Mich traf der Schlag. So etwas war Vorgesetzter, den man zu grüßen und zu respektieren hatte! Armes Deutschland! Unsere Verwundeten mussten wir leider zurücklassen. Einen von ihnen namens Judkuhn aus dem Trakehner Gestüt Eitkunen trafen wir Ende August 1944 in Przemyśl6 im Lazarett eines Kriegsgefangenenlagers. Er berichtete, dass ihn die russische Ärztin gut versorgt und behandelt habe. Wir waren damals sehr überrascht so etwas zu hören, weil doch die Nazis uns die Rotarmisten nur als wilde Bestien dargestellt hatten. Auch ich musste feststellen, dass es dort auch menschliche Ärzte gab, worüber ich später im Bericht über meine Gefangenschaft in sibirischen Lagern, Lazaretten bzw. Krankenhäusern berichten werde.

Den kommenden Tag verbrachten wir im Schutze des dichten Niederwaldes, immer auf der Hut, vom Russen nicht entdeckt zu werden. Als es zu dämmern begann, schlichen wir einzeln vom Waldrand Richtung Bug. Vom flachen Ufer aus konnten wir ziemlich gut ins Wasser gehen. Am gegenüberliegenden Ufer war eine Steilküste von vier bis fünf Metern Höhe. Ich trug keine Stiefel, sondern Gamaschen über den Schnürschuhen. Ich hatte mir eine Stelle mit einem Busch ausgesucht, um mich daran hochzuziehen. Alle anderen zogen ihre Uniform aus, ich nicht, weil ich dachte, wenn nun doch unerwartet der Russe kommt, dann bist du angezogen. Ich ging ins Wasser, aber ich ging nicht unter. Ich kam mir vor wie Jesus auf dem See Genezareth. Doch nach drei bis vier Metern sackte ich ab. Das Wasser lief mir am Hals in die Feldbluse hinein, ein schreckliches Gefühl. Nun musste ich schwimmen! Die nasse Uniform hemmte mich. Was musste ich sehen? Vor mir schwamm ein Funker namens Fiedler, an meinem Busch Halt suchend. Oh weh! Jetzt musste ich versuchen, einige Meter weiter Fuß zu fassen, was sehr schwierig war, da man in dem Lehm keinen Halt finden konnte. Nach vielen Ängsten war ich endlich am hohen Ufer angekommen. Einer der älteren Kameraden – Alfred Höfer aus Koblenz, von Beruf Schuhmachermeister, was ihm später von Nutzen sein sollte – der es auch vorgezogen hatte sich auszuziehen, um den Bug zu durchschwimmen, verlor im Wasser einen Schuh. Er tobte, wir hätten seinen Schuh. Er lief zwei Wochen bis zur Gefangennahme mit einem Schuh an dem einen und mit zwei Socken an dem anderen Fuß, der arme Kerl. Mein Handeln war also richtig gewesen.

Am Westufer des Bugs angekommen, hatten wir doch gehofft, jetzt gerettet zu sein, denn hier sollte sich angeblich eine Auffangstellung der 20. Panzerdivision mit Schützengräben und so weiter befinden. Inzwischen war es 22 Uhr und stockdunkel. Wir bemerkten bald Schützenlöcher, die anstatt mit Soldaten mit Wasser gefüllt waren. Keine Spur von deutschen Soldaten! Wir schlichen stumm in Richtung Westen und fanden in einem umzäunten großen Garten ein schönes gepflegtes Holzhaus. Wir nächtigten in dem Haus in der Überzeugung, uns im Vorfeld unserer Front zu befinden. Am nächsten Morgen standen wir beizeiten auf, denn die Sonne schien in unsere Unterkunft, als wäre alles in Butter, wie im tiefsten Frieden. Arglos gingen wir aus dem Haus auf den Weg. Oh Schreck! Was mussten wir sehen? Etwa 300 bis 400 Meter vor uns standen kilometerlange Fahrzeugkolonnen der Roten Armee. Was wir zu der Zeit noch nicht wussten: Die klugen Russen marschierten etwa ab 17 Uhr, wenn die größte Hitze vorbei war, bis zum nächsten Morgen. Es war jetzt etwa 7 Uhr morgens. Die Russen hatten ihren Nachtmarsch beendet und machten nun Rast im Schatten von Bäumen, die den Weg säumten, und schliefen, sodass uns kein Wachposten erspäht hatte. War das Zufall oder Fügung? Wir suchten zunächst Deckung im Schutze von Niederwald und warteten ab, aber es geschah nichts von Seiten der Russen.

18. Juli 1944 – Wir bewegten uns möglichst unauffällig ohne zu sprechen in Marschrichtung West-West-Süd. Die Marschrichtungszahl7 17 oder 18 habe ich nicht mehr im Kopf. Jedenfalls besaß einer der Kameraden einen Marschkompass; ich selbst hatte auch einen kleinen einfachen Kompass, weshalb man mich erst belächelt hatte, nun aber froh war über den Besitz desselben, als wir unsere Fluchtgruppe teilten. Durch Niederwald ging das Suchen nach deutschen Verteidigungslinien weiter bis gegen Mittag. Wir hatten nun schon tagelang nichts zu Essen gehabt, aber noch viel schlimmer war der Durst, den wir jetzt so richtig zu spüren bekamen. Auf einmal sahen wir eine verdreckte graugrüne Menschenmasse auf uns zukommen. Sollten es wieder Russen sein? Wir näherten uns vorsichtig auf vielleicht 200 Meter. Dann erkannten wir sie als die Unsrigen. Ein zerlumpter Haufen, das ganze Regiment 695 bestehend aus nur insgesamt 96 Mann, davon allein 30 vom Nachrichtenzug. Nun erfuhren wir auch, was sich am Abend vorher zugetragen hatte. Der Rest des Regiments war der Übermacht der Russen bis zum Bug gewichen, wo Generalmajor Beutler um 24 Uhr in der aussichtslosen Lage ausrief: „Rette sich, wer kann!“ und sich kopfüber in den Bug stürzte, gefolgt von den Landsern8 und den Russen, die ein fürchterliches Gemetzel abhielten, denn sie kannten kein Pardon. Den General haben wir nicht mehr zu sehen bekommen.

Einer der Offiziere wusste wohl von dem neu geplanten Divisionsgefechtsstand, in dessen Bereich wir uns nun laut Karte befänden. Ein paar Landser, die ein Gartenland mit Möhren entdeckt und sich welche genommen hatten, wollte dieser Offizier wegen Plünderns bestrafen. Aber daraus wurde nichts mehr.

Wir hatten nur den einen Wunsch, wieder bei unserer Einheit zu sein, die angeblich etwa sechs Kilometer westlich von uns sein müsste. Wir gingen also wieder nach dem Kompass, der Nachrichtenzug zuerst, ich selbst voraus. Es ging aber durch einen versumpften Birkenwald. Erst war der Sumpf noch flach, aber nach circa 200 Metern musste ich wie ein Pferd gehen, weil die Wurzeln im Moor die Füße festhielten. Auf einmal hieß es im Flüsterton: „Zurück! Wir sind verkehrt.“ Jetzt war ich der Letzte! Oh weh! Das war schlimmer als vorher. Denn während ich vorher praktisch auf dem Moor ging, sank ich nun in den Fußstapfen meiner Kameraden mit jedem Schritt tiefer ein. Ich stand Todesängste aus und befand mich schließlich noch allein im Moor. Heute denke ich, es war wie es im Gedicht heißt: „Ich locke den Schläfer, ich zieh ihn hinein…“ Endlich war auch ich wieder auf festem Boden.

Wir schlugen eine neue Richtung ein, weiter südlich. Der Sumpf war auf der Karte gar nicht eingezeichnet. Während die anderen ihre Stiefel auszogen, um das Moorwasser auszuschütten, konnte ich mit meinen Schnürschuhen schon wieder losziehen. Die neue Richtung führte uns auf eine Waldlichtung. Rechts des Weges standen zwei wunderschöne Bauernhäuser mit Vorgärten nebeneinander. Ganz idyllisch standen sie da wie im Frieden. Kein Lärm, nichts war zu hören. Die Sonne schien vom strahlend blauen Himmel. Ich dachte: „Gerettet! Gott sei Dank!“ Aber oh Schreck! Beim zweiten Haus saß ein sowjetischer Offizier und rasierte sich und ein zweiter kam gerade aus dem Haus. Ich nichts wie kehrt und zurück in den Wald! Der Russe ist da! Aber scheinbar hatte er uns auf dem grasbewachsenen Weg nicht bemerkt. Es geschah nichts. War es wieder die Fügung einer höheren Macht?

Wir zogen also weiter durch den Wald bis zum Dunkelwerden. Dann erreichten wir ein versteckt liegendes Haus. Da sie vor dem Gebäude ein paar Soldaten gesehen hatten, gingen die Angehörigen der Regimentskompanie hinein. Als sie wieder herauskamen, hatten sie ein Kommissbrot9 für 96 Mann. Mehr hätten die Leute der Division auch nicht gehabt. Mir war die Sache irgendwie mysteriös.

Neue Anweisung: Ruhig verhalten, nicht rauchen, nicht sprechen, nicht flüstern, die Marschrichtung beibehalten! Diese führte durch einen Tannenwald. Da es stockfinster war, sollten wir uns alle am Koppel10 des Vordermannes festhalten. Wir Nachrichtenleute gingen voraus. Ich war vielleicht der Zwanzigste. Die hinter mir gingen zogen immer mehr, da wir ja nicht im Gleichschritt marschierten, sondern uns vorsichtig durch das Gestrüpp, das am Boden lag, mit den Füßen vorwärts tasten mussten. Es war gewiss schon Mitternacht, als ich feststellte, dass keine Hand mehr an meinem Koppel war, denn das Ziehen war immer weniger geworden. Hatten wir die anderen hinter uns verloren oder waren sie heimlich umgebracht worden? Ich hatte jedenfalls Angst, den Anschluss an den Vordermann zu verlieren. Dann hieß es im Flüsterton von einem zum andern: „Hinlegen! Wir sehen nichts mehr und müssen den Morgen abwarten.“

19. Juli – Morgens früh, sechs oder sieben Uhr wurden wir wach und stellten fest, dass wir uns an einem Waldrand befanden. Wir peilten die Lage an und gewahrten vor uns eine große Lichtung von etwa 300 Metern Durchmesser, mittendrin eine Insel aus Laubbäumen, am äußeren Rande des Waldes hinter der Insel Geschütze der Roten Armee! Unser Gedanke: „Dann sind wir circa 500 Meter hinter der russischen Front.“ Die Geschütze standen auseinander, also noch kein fester Frontverlauf. So versuchten wir erst einmal, immer einzeln, die Waldlichtung zu erreichen, wir, die Jüngsten und Schnellsten, zuerst, um dann eventuell den anderen Feuerschutz zu gewähren. Wir hatten das Wäldchen fast erreicht, als wir plötzlich zurückgerufen wurden, denn irgendwelche Russen waren doch auf uns aufmerksam geworden. Zurück im Walde angekommen und dort Schutz suchend, lief ich einem noch schlaftrunkenen Russen fast in die Arme. Der führte sein Pferd am Zaum auf einem sogenannten Trampelpfad, deren es kreuz und quer alle sechs bis acht Meter eine ganze Menge im Walde gab. Ein Glück für mich, dass der Mann vor sich auf die Erde schaute ohne mich wahrzunehmen. Zufall oder Fügung? Das war noch nichts! Aber jetzt hetzten etliche Iwans auf Pferden über all die kleinen Pfade, welche wir in der Nacht nicht wahrgenommen hatten. Es war eine Treibjagd sondergleichen. Handgranaten wurden vom Gegner geworfen, es wurde mit Maschinenpistolen gezielt oder blindlings geschossen. Das währte den ganzen Vormittag bis man keine Todesschreie bzw. das Röcheln der Schwerverwundeten mehr hörte. Ich glaube, mich noch nie so tief in Gras und Moos gedrückt zu haben! Vor mir ein russischer Reiter mit gezückter Maschinenpistole, er war so nah, er hätte mich sehen müssen. Ob er mich für tot hielt? Ich weiß es nicht.

19. Juli nachmittags – Der Sturm vom Vormittag hatte sich gelegt. Was war nun zu tun? Als einer der Jüngsten fragte ich Unteroffizier Adolf Gangelmeier, einen österreichischen Funkunteroffizier. Seine Antwort: „Das muss jeder selbst entscheiden.“ Ich war wieder einmal von einem Vorgesetzten enttäuscht. Am Abend setzten wir uns mit 14 Mann leise in Bewegung. Die russische Artillerie war abgezogen. Es war recht dunkel, zu unserem Vorteil. Aber wir hatten nichts zu essen! Wasser fanden wir in den Fahrspuren der Pferdewagen. Es schmeckte nach Benzin und Pferdepisse! Die Folgen davon habe ich etwas später zu spüren bekommen.

20. Juli – Wir, noch 14 Mann, hatten uns tagsüber in ehemaligen alten Betonbunkern verborgen, von Polen stets beobachtet!

21. Juli abends – Wir hatten einen Bahnübergang passiert, waren gerade einzeln über die Straße, als vor uns plötzlich ein russischer Lkw auftauchte. Wohl aus Sparsamkeit leuchtete nur die linke Lampe. 100 Meter von uns blieb das Ding stehen, es hatte eine Panne und wir im Scheinwerferlicht! Hatte uns die Besatzung gesehen oder nicht? Wir blieben liegen, wie lange weiß ich nicht mehr. Es müssen zwei oder drei Stunden gewesen sein. Jetzt mussten wir dringend aus dem Scheinwerferlicht verschwinden, denn wenn der Lkw anfuhr, hätte man uns in jedem Fall gesehen! Es gab ein leises „Ssst“ und auf ging´s. Aber, oh weh, ich konnte nicht aufstehen. Beide Beine waren eingeschlafen, weil ich, was ich damals noch nicht wusste, völlig ausgetrocknet war. „Das ist das Ende“, dachte ich. Ich durfte nicht rufen, sonst hätte ich uns alle in Gefahr gebracht. Ich robbte wie eine Eidechse, waren es 20 oder 30 Meter? Ich betete vor Angst! Meine Beine wurden langsam wieder „wach“, waren aber ohne Gefühl, das kam erst später zurück. Ich ging wie auf Stelzen. Die anderen hatten mein Fehlen in der Dunkelheit gar nicht bemerkt.

22. Juli – Den Tag über hatten wir uns in Feldern versteckt und zwar immer zu zweit, möglichst weit verstreut. Falls wir entdeckt würden, so doch nur zwei von uns. Denn wir hörten den ganzen Tag lang Stimmen von Frauen, die mit der Ernte des Getreides beschäftigt waren. Bei Anbruch der Dunkelheit versuchten wir, uns im Dorf etwas zu essen zu besorgen. Oh weh! Das Dorf war schon von der Roten Armee besetzt. Während sich die Soldaten in Quartieren ausruhten, standen draußen die Posten auf Wache. „Stoi, kto idiott?“ „Halt, wer kommt da?“, ertönte auf einmal eine Stimme dicht vor uns rechts aus einem Toreingang. Wir ergriffen sofort die Flucht nach links durch einen Wassergraben. Ach, du Schreck! Auf der anderen Seite befand sich auf der Uferkante ein Stacheldrahtzaun. Ich war Erster. Mein Gewehr blieb aber im Stacheldraht hängen. So ließ ich es los, um mein Leben zu retten. In dem Augenblick schossen die Wachposten Leuchtraketen hoch, und wir lagen alle flach, dem Erdboden möglichst gleich, um nicht entdeckt zu werden. Ich vermute, dass die Wachen von dem plötzlichen taghellen blau weißen Licht geblendet wurden, sodass sie uns als Menschen nicht erkannten. Sonst wären wir ja früher unseren Feinden in die Hände gefallen. Sobald die Helligkeit nachließ, versuchten wir in größter Eile uns robbend und in jede mögliche Versenkung verkriechend davonzumachen. Wieder hatten wir nichts zu Essen und zu Trinken gefunden!

23. Juli – Nach einer Nachtwanderung sahen wir vor uns ein einzelnes Haus links an der Straße. Wir gingen darauf zu und da ich inzwischen geringe russische Sprachkenntnisse erworben hatte, ging ich hinein. Ein Pan11 kam mir entgegen in Hemd und Unterhosen aus selbst gewebtem groben Leinen. Er machte durch Halten des Zeigefingers an die Lippen Zeichen, dass wir nicht sprechen sollten. Dann gab er uns etwas Brot und winkte uns hinaus, nachdem er uns klargemacht hatte, dass Russen im Haus waren. Er hat uns nicht verraten! Es sollte noch ärger kommen. Wir wendeten uns ab auf die andere Straßenseite, gingen etwas zurück einen Weg hinauf über eine kleine Brücke in Richtung eines Gehöftes. Oh Schreck! Durch dichten Nebel hatten wir nicht erkannt, dass wir einer russischen Reiterschwadron gegenüber standen, die ihrerseits unser leises Herankommen nicht bemerkt hatte und somit keinerlei Notiz von uns nahm, sodass wir unbehelligt unseren Rückzug antreten konnten.

24. Juli – Vom Feind unerkannt, in irgendeinem Wald versteckt, gab es Meinungsdifferenzen. Fazit war: Wir teilten uns auf in zwei Gruppen von je sieben Soldaten. Wir Nachrichtenleute blieben zusammen. Die andere Gruppe mit Feldwebel Hauschild aus Bremen, 1,95 Meter groß, war bis zur Weichsel gekommen, wie wir später im Lager Przemyśl erfuhren. Der Siebte in unserer Gruppe, ein Oberschlesier, war der polnischen wie auch der russischen Sprache mächtig. Wir wussten nie, was er in seinem Kauderwelsch mit Partisanen oder anderen besprach. Wie er erfahren hatte, sollte sich im nächsten Dorfe ein Lager mit deutschen Kriegsgefangenen befinden. Für diese sei der Krieg aus und sie bekämen amerikanische Verpflegung. Er war entschlossen überzulaufen. Normalerweise hatte unser Unteroffizier das Recht, einen Fahnenflüchtigen zu erschießen. Aber es wurde Abstand davon genommen. Er musste nur seine Feldflasche abgeben, sodass wir nun mit sechs Leuten drei Feldflaschen besaßen. Darüber waren wir glücklich. Jetzt mussten wir nur noch Wasser finden. Nach einem weiteren Nachtmarsch löschten wir unseren Durst wieder aus Pfützen.

25. Juli – Wie uns die Partisanen vorausgesagt hatten, durchsuchten russische Reiterpatrouillen das von ihnen zurück eroberte Land nach versprengten deutschen Soldaten. Einzelpersonen sowie kleinere Gruppen wurden sofort erschossen. Was wir verschiedentlich zu sehen bekommen haben, war kein Heldentod. Es war Mord! Totschlag! Eine Versündigung an jungen Menschen, an Geschöpfen Gottes. Wir hatten wieder mal Glück gehabt, dass uns keiner von den Reiterpatrouillen gesehen hatte, obwohl man von einem Pferd aus eigentlich gut erkennen kann, ob ein Getreidefeld platt getreten ist und sich dort versprengte Soldaten in Feldgrau – besonders kontrastreich zum gelben Weizenfeld – abzeichnen. Zu allem Unglück bekam ich wieder Durchfall, mit Schleim und Blut. Jede Viertelstunde musste ich aus den Hosen, was natürlich für alle einen Zeitverlust mit sich brachte.

26. Juli – Wir lagen in einem Niederwald an einer Wegkreuzung. Russische Panzerspähwagen passierten die Wege vor uns und neben uns. Wir hatten noch nichts Essbares gefunden, denn jedes Mal, wenn wir uns am Abend einer ländlichen Ortschaft näherten, fingen die Hunde im Dorf an zu bellen, erst einer, der uns Fremde zuerst gewittert hatte, dann alle anderen. Das bedeutete, falls das Dorf von Russen besetzt war, stand alles sofort in Bereitschaft. Um die Mittagszeit hörte die Fahrerei auf. Auf der anderen Straßenseite stand eine mit Stroh gedeckte Bauernkate. Da wir keine Menschenseele dort ein- oder ausgehen sahen, fasste ich den Mut mit einem jüngeren Kameraden namens Krahwinkel, ebenso Fernsprecher wie ich – wir beide mit einem Stock bewaffnet – über die Straße zu dem hinter einem Gebüsch versteckten Haus zu schleichen, um dort etwas Essbares zu ergattern. Wir hatten sogar Erfolg. An dem Haus angekommen, die Tür stand offen und eine Frau trat heraus, fragte ich wie immer: „Chleb jest?“12 Sie gab uns etwas Brot und gekochte Eier. Glücklich kehrten wir zu unseren Kameraden zurück und teilten die Beute. Jeder bekam ein Ei und ein Stückchen Brot. Wir beide, die die Eier besorgt hatten, bekamen zwei Eier. Alle waren zufrieden, bis gegen Abend der Älteste, Alfred Höfer, 38 Jahre, anfing zu meckern, die Eier seien nicht gerecht verteilt worden. Ich war stinksauer. Schließlich kam heraus, dass Kamerad Krahwinkel noch zwei weitere Eier für sich behalten hatte. Von da an fiel mir immer wieder auf, dass die Älteren stets meinten, sie kämen zu kurz. Das nur so nebenbei. Als wir mit unserer Beute zu den Kameraden zurückkehrten, schaute ich noch einmal nach dem Haus der Spenderin und erschrak. Hinter dem Haus stand ein hochrangiger Offizier der Roten Armee; er hatte wohl nichts von unserem Hausbesuch mitbekommen? War es wieder die Fügung einer höheren Macht?

28. Juli – Wieder einmal wurden wir von einer Deutsch sprechenden Gruppe Ukrainer entdeckt, die uns freundlich gesinnt war und uns auch gut über die Lage des Frontverlaufes unterrichtete. Wir trennten uns von ihnen etwa gegen Mitternacht und gingen im Gänsemarsch in einem Abstand von drei bis fünf Metern. Wir wechselten uns beim Gehen ab, sodass jeder mal als Erster den Weg vortasten musste. Dieses Mal – ich war der Zweitletzte – hatte ich nicht bemerkt, dass Marcel Ritty fehlte. Mit 18 Lenzen war er unser Jüngster, ein Knabe noch, ein Jungengesicht mit roten Backen ohne Bart, ein Elsässer. Hinter Stacheldraht war er jedoch Franzose, obwohl er kein Wort der französischen Sprache verstand. Wo war er? Bei den Ukrainern, die auch ihm das sorglose Leben als Gefangener plausibel gemacht hatten? Von dort, etwa einen Kilometer entfernt, holte ich ihn zurück. Dann konnten wir unseren gemeinsamen Weg fortsetzen. Mich quälte immer wieder der Darm. Ich hatte schon den Entschluss gefasst, mich auch irgendwo zu ergeben, denn ich war ja nur eine Last für die anderen.

29. Juli – Den ganzen Tag hielten wir uns im Niederwald verborgen. An Schlaf war wegen ständiger Geräusche von Kettenfahrzeugen nicht zu denken. Man musste immer damit rechnen, dass ein Waldstück durchsucht würde oder dass sich ein Iwan in den Wald zurückgezogen hätte, um seine Notdurft zu verrichten. Ständig hörten wir Frauen- und Kinderstimmen; also mussten irgendwo im Wald versteckt einzelne Gehöfte liegen. Um etwa 19 Uhr wagten wir uns Richtung Siedlung, denn wenn man später als 20 Uhr wohin kam, war kein Mensch mehr anzutreffen. Die Menschen schliefen entweder wegen der hochsommerlichen Hitze in einer Scheune auf einem Panjewagen13 im frisch gemähten Gras oder außerhalb, versteckt in Kellern oder Erdgewölben. Dies taten sie aus Angst vor den russischen Soldaten, die kein Pardon kannten, wenn sich ihnen ein Mädchen verweigerte. Wir hatten so etwas im Frühjahr schon einmal erlebt, als wir ein Dorf zurückeroberten. Wir fanden den Großvater eines Mädchens, der sich bitterlich weinend über seine Enkelin beugte, die sich vor den Russen versteckt hatte, jedoch entdeckt wurde und weil sie ihnen nicht willens sein wollte, mit Maschinenpistolen total zerschossen worden war.

Noch vor Einbruch der Dunkelheit kamen wir an bewusste Waldsiedlung; das Häuschen lag am Hang eines kleinen Wiesentales. Eine Frau rief, als sie merkte, dass wir versprengte deutsche Soldaten und keine Russen waren, ihre Tochter aus dem Versteck. Ich bat die Frau in der Zeichensprache, mir aus Mehl und Milch eine Suppe zu bereiten. Unteroffizier Raufeiser schalt zwar und meinte, die anderen zu bedienen sei wichtiger, aber die Frau erfüllte zuerst meine Bitte; dann kamen die anderen dran. Ich glaube sogar, dass sie gebackene Eier mit Brot bekamen. Für mich war es jedenfalls die Rettung meines Darmes! Ich denke immer noch mit großer Dankbarkeit an diese Frau, die mich damals geheilt hat. Es war wieder eine Fügung Gottes.

30. Juli – Hunger tut weh! Darum drangen wir gegen Abend in unbewohnte Häuser ein. Im ganzen Dorf war keine Menschenseele zu sehen. Vielleicht hatte der Russe sie mitgenommen und jagte sie vor sich her, unbewaffnet als Vorhut über Minenfelder zu gehen oder als Kugelfang vor dem Feind. Wir wissen es nicht, aber praktiziert wurde es.

31. Juli – Abends in einem polnischen Partisanendorf: Zum ersten Mal hatten wir drei Feldflaschen, also für je zwei Mann eine Feldflasche Wasser. Für uns Sechs gab es ein rundes Landbrot. Der Karte und dem Kompass nach mussten wir bald am Ziel, dem San14, sein. Unteroffizier Raufeiser hatte schon vor einigen Tagen den „Vorangeherposten“ aufgegeben. Peter Heister hatte ihn abgelöst, jetzt war ich an der Reihe. Ich erkannte in etwa 800 bis 1000 Meter Entfernung Weiden und Pappeln; ein sicheres Zeichen, dass dort ein Wasserlauf sein musste: Der San! Unser Ziel! Wir alle waren nach so vielen Nachtwanderungen und nervlicher Belastung erschöpft. Aber ich drängte, so kurz vor dem Ziel nicht aufzugeben. Und wir erreichten den San, eingebettet in Steilufern auf beiden Seiten. Die Deutsch sprechenden Partisanen hatten uns gewarnt, der San würde von Reiterpatrouillen kontrolliert, und zwar halbstündlich, auf der einen Seite flussaufwärts, auf der anderen flussabwärts. Also hieß es genau aufzupassen, um im richtigen Augenblick den San zu überqueren. Von uns Sechsen waren drei Schwimmer, drei Nichtschwimmer. Es sollten jeweils ein Schwimmer und ein Nichtschwimmer zusammen übersetzen; es kam zu keiner Einigung. Wir waren so sehr erschöpft, dass wir beschlossen, uns, wie alle Tage zuvor, im Steiluferwald wieder zu zweit, im Abstand von 10 bis 15 Metern, niederzulassen und zu schlafen. Wir nahmen nicht mal mehr einen Bissen zu uns. Wie immer hörte ich auch dieses Mal dauernd Stimmen und Gelächter. Die Geräuschkulisse nahm dermaßen zu, dass ich mich aufsetzte: Oh Schreck! Was sah ich: Etwa 15 Meter links von mir ein russischer Offizier, der gerade dem Bedürfnis nachkam, seinen Darm zu entleeren. Ich nichts wie auf und raus aus dem Wald! Aber dort kam ich vom Regen in die Traufe. Auf einer großen Wiese befanden sich etwa 1000 Russen. Ich konnte die anderen nicht mehr warnen. Schon waren wir alle umzingelt mit „Rukki Werch!“, was „Hände hoch!“ bedeutet. Ich bekam noch einen Schlag in den Unterleib. Man beraubte uns sämtlicher Dinge, die wir noch in den Taschen hatten. Wir waren nun Gefangene! Ein Genesungshaufen hatte uns erwischt, der bis auf einige wenige unbewaffnet war und nun zu Fuß an die Front marschierte und keine Brücke fand, dafür aber uns: Einen Unteroffizier und fünf Soldaten des Nachrichtenzuges des 695. Regiments der 340. Grenadierdivision.

1Bis 1860 war Brody die drittgrößte Stadt Galiziens (Ukraine) nach Lemberg und Krakau.

2Russisch Fünferreihe

3Busk ist eine ukrainische Stadt ca. 46 Kilometer östlich von Lemberg.

4Bug ist ein Fluss in der Ukraine, Polen und Weissrussland.

5Propellergetriebenes STOL-Flugzeug mit Langsamflugeigenschaften. Wurde aufgrund seines hohen Fahrgestells Storch genannt.

6Przemyśl ist eine polnische Stadt am San in der Nähe der ukrainischen Grenze.

7Ist ein Begriff der Navigation und bezeichnet den Winkel zwischen Nordrichtung und Zielrichtung

8Landser bezeichnet den einfachen deutschen Heeressoldaten

9Kommissbrot ist ein einfaches haltbares Brot zur Versorgung der Soldaten.

10Leibriemen, Ledergürtel

11 Polnisch: der Herr.

12Hast du Brot?

13Wagen für ein kleines russisches Pferd

14Ist ein rechter Nebenfluss der Weichsel in Südostpolen.

Weit war der Weg zurück ins Heimatland

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