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4. BADEN-BADEN 1990
ОглавлениеDeutschland strebt der Wiedervereinigung zu. Die Noch-DDR stellte in ihrer ersten demokratischen Wahl am Sonntag, dem 18. März, die Weichen unübersehbar in diese Richtung. An diesem Tag wählte die Kurstadt zeitgleich Ulrich Wendt, 44 Jahre alt, gelernter Jurist, Stabsstellenleiter des Regierungspräsidiums Karlsruhe von 1978 bis 1981, Bühler Oberbürgermeister von 1981 bis 1989, seit 1988 Landtagsabgeordneter des Wahlkreises Baden-Baden, im ersten Wahlgang zum neuen Stadtoberhaupt.
Zum 1. Juni 1990 trat er sein Amt an. Sein Vorgänger Dr. Walter Carlein blickte auf eine erfolgreiche 24-jährige Amtszeit zurück. Auf Basis des Stadt- und Kurort-Entwicklungsplans wurde systematisch und zielgerichtet von der grünen Einfahrt in Baden-Oos, der Landesgartenschau mit Schlossbergtangente, der Innenstadtsanierung als Fußgängerzone, der Umgestaltung des Leopoldsplatzes und letztlich mit dem Jahrhundertbauwerk Michaelstunnel 1989 ein veritabler Durchbruch erzielt. Die Kurstadt befreite sich im zentralen Bereich vom Durchgangsverkehr, an dem sie zu ersticken drohte. Die Realisierung der Caracalla-Therme gab der Bäderstadt einen weiteren Schub. Der Krankenhausneubau in Balg, als Meisterstück damals seiner Zeit weit voraus, bewährt sich bis heute als Zentrum des mittelbadischen Klinikums.
Mit der landesweiten Gebietsreform in Baden-Württemberg hatte die Stadt Anfang der 70er-Jahre mit den Reblandgemeinden Steinbach, Neuweier, Varnhalt sowie Sandweier, Haueneberstein und Ebersteinburg die 50.000-Einwohnergrenze überschritten und gewann wichtige Gemarkungsflächen, auch als größter kommunaler Waldbesitzer Deutschlands, hinzu. Ihr vorausgegangen war ein „mittelbadischer Befreiungskampf um Sein oder Nichtsein“. Baden-Baden, bis dahin Stadtkreis wie Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, sollte vom Landkreis Rastatt geschluckt werden! Das lässt sich an gefühlter Grausamkeit nur mit einem Höllenfeuer à la Hieronymus Bosch vergleichen, schlimmer noch als der Abstieg von der Landesliga in die Kreisklasse. Der junge Walter Carlein meisterte das vereint mit dem Baden-Badener Landtagspräsidenten Camill Wurz in buchstäblich letzter Sekunde. Vom Balkon des Theaters wurde es verkündet. Die Baden-Badener applaudierten begeistert, als Ludwig Braun lauthals „Freiheit!“ in die Menge rief. Es fehlte nur noch die Marseillaise.
Leider entwickelte sich die Bäder- und Kurverwaltung, die von den Spielbankgeldern gespeist und mit Kurhaus, Casino, Bädern, Kongressen, Theater, Orchester und Gartenanlagen das internationale Herzstück bildete, krass formuliert, vom Sorgenkind zum Spaltpilz. Diese BKV wurde hälftig von Stadt und Land getragen. Sie hatte glanzvolle Momente erlebt, litt in den 80er-Jahren aber zunehmend unter andauernden Streitigkeiten. Die Übernachtungszahlen, sozusagen die Pulsschlagkurve Baden-Badener Vitalität und seit den 70er-Jahren stagnierend, ließen im Auf und Ab jenseits der konjunkturellen Zyklen keine durchgreifende Besserung erkennen.
Alles kreiste letztlich um die zentrale Frage: Wem gehören die Casinoerträge von Rechts wegen, der Stadt oder dem Land? Das sogenannte „Stern Gutachten“ eines renommierten Verfassungsrechtlers, von Walter Carlein kurz vor seinem Ausscheiden in Auftrag gegeben, wurde wahrscheinlich nur deshalb gehütet wie der heilige Gral, weil es Kanzleitrost statt handfester Rechtsgrundlagen liefern konnte. Und so war es auch, wie der neue OB nach Einsicht mit dem städtischen Justiziar und späteren Ersten Bürgermeister Werner Hirth notgedrungen konstatieren musste. Leider war es nach der Gesetzeslage eindeutig „Landesgeld“.
Weil Geld auch in der Politik weniger dem Beharren auf vermeintlichem Recht, sondern der Chance neuer Wachstumsimpulse mit beflügelnder Perspektive folgt, sei hier ein auf den ersten und zweiten Blick bewusst provozierender Rekurs gestattet. Die „Geldquerele“ Stadt-Land war auch deswegen so delikat, weil es die Nazis waren, die im faschistischen Durchgriff der Stadt im Oktober 1933 wieder das Glücksspiel-Monopol ermöglichten, das ab 1935 von der 1934 gegründeten Bäder- und Kurverwaltung geführt wurde. Sie beendeten damit die Casino-lose Zeit nach dem Ausscheiden der ruhmreichen Bénazets im 19. Jahrhundert, die in Folge des Deutsch-Französischen Krieges 1871 mit der Reichsgründung begann. Preußisch dominiert, wurde die „hedonistische Casino Säule“, der Motor sämtlicher sogenannter „Santé-Plaisir-Städte“, kurzerhand beseitigt. Französische, beschwingte Lebensart wurde verbannt. Konsequent folgte dafür mit kaiserlichem und großherzoglich badischem Segen mit den neu erbauten, prachtvollen Friedrichs- und Augustabad die Stärkung der Bäderstadt. Als Taufgeschenk brillierten die Namen des Großherzogs und der Kaiserin in der Sommerhauptstadt Europas. Auf der Strecke blieb der Refinanzierungskreislauf des „sündigen Spielbankgeldes als Waschanlage“ für Gesundheit und Kultur. Übrigens ein eminent wichtiger Merkposten für die mit der Bezeichnung KURSTADT einhergehende „leicht-sinnige“ Verkürzung des Baden-Badener Potenzials. Es kann mit dem Blick zurück wie voraus ganzheitlich wohl nur mit KULTUR vereint und gebündelt werden. Im kongenialen Sinn umfasst sie damit den SWF/SWR als mediale Kraft, die mit Kur nichts verbindet, wohl aber mit einem erstklassigem Sinfonieorchester von Gielen bis Currentzis, einem New Pop Festival, das elektrisiert. Es sind altersunabhängig „juvenile Impulse“ für und aus einer Stadt, die die bundesweite, internationale Wahrnehmung braucht und wendet, um nicht mehr leichterhand in die Schublade als „Altersheim der Reichen“ geschoben werden zu können.
Auslaufmodell mit Blick auf vergangene Größe oder mit allem, was man erworben hat, was man ist, zu neuen Ufern aufzubrechen über den „point of no return“ mit höchster Dosis, mit Risiko, mit Wunden und Kompromissen und ohne Kaskoversicherung. So habe ich es empfunden. Hier grüßen aus „zukünftiger Ferne“ das Festspielhaus und als aktueller Kontrast 2020 eine Leitwerbung, die man seitens der erfolgreichen Kur & Tourismus GmbH noch optimieren könnte. Kur an erster Stelle ist unstrittig eine wirtschaftlich beachtliche, quantitative Größe. Sie ist zugleich prägender Teil unserer Geschichte. Sie spiegelt sich heute in qualitativ hochkarätiger Bäderkultur. Aber diese Kombination ist mit dieser Erstnennung „Kur“ kein Einzelstellungsmerkmal allein von Baden-Baden. Kurorte, Kurstädte mit Thermen und wirklich erstklassigen Kur- und Spa-Angeboten gibt es zahlreiche. Dies wird hinsichtlich seiner Attraktivität primär mit Schutz, Ruhe und Rehabilitation verbunden. Es setzt allein kein signifikantes Signal für einen Sehnsuchtsort unserer Herkunft, Vielfalt und Klasse. Es setzt kein Ausrufezeichen als Platz internationaler Begegnung, keines als Hidden Place-Topadresse für Kommunikation und Networking, wie zum Beispiel die Baden-Badener Unternehmergespräche. Es sollte mehr drin sein in der Headline für das Flaggschiff Baden-Baden mit Festspielhaus, Museum Frieder Burda, LA8, Staatlicher Kunsthalle, neuem Stadtmuseum, von der römischen Geburt bis zu Russen und Franzosen im 19. Jahrhundert mit Brahms, Clara Schumann, Berlioz, Turgenew und Dostojewski sowie im 20. Jahrhundert mit Furtwängler oder dem „Badener Fest“ als Mekka der modernen Musik mit Hindemith, Bartok, Milhaud, Weil und Brecht. Natürlich sind Thermen, Bäder, Kurstadt als „Herz-Stück“ unverzichtbarer, zentraler Teil der Vermarktung, aber weder das gewachsene Ganze noch – entscheidend fürs Marketing – der psychologische Treiber. Baden-Baden als die neu erwachte dynamische Kultur- und Bäderstadt wäre doch eine exzellente Reihenfolge.
Diese Bausteine für eine durchschlagende Wende nach vorne darf man im Hinterkopf behalten, wenn es in den Neunzigern um „Zerschlagung alter Strukturen“, vitale Impulse bis hin zur „Sinnstiftung“ für neue kulturelle wie auch private Ressourcen geht.
Doch zurück zum Ende der Carlein-Ära.
Das Stuttgarter Parlament hatte immer weniger Neigung, die landesweit schwierigen Verteilungskämpfe jeweils zu den anstehenden Doppelhaushalten zugunsten der Stadt zu gestalten. Baden-Baden drohte mit seinem Alleinstellungsmerkmal als internationaler Imagefaktor „lobbymäßig“ zu vereinsamen. Als es wieder mal in einer CDU-Landtagsfraktionssitzung darum ging, das geschichtlich erworbene Spielbankmonopol Baden-Badens mit seiner Dependance Konstanz vor den Gelüsten Dritter, vorrangig der Landeshauptstadt Stuttgart, zu bewahren, brachte es ein politisches Schwergewicht auf den Nenner: „Ihr benehmt euch wie ein Bordellbesitzer, der keinen Konkurrenten in seinem Beritt will“. Das sagte alles über die Stimmungslage. Diese Polaritäten spiegelten sich natürlich in der BKV im Vorstand bei Dr. Sigrun Lang wie bei den beiden Verwaltungsratsvorsitzenden wider: für das Land Ministerialdirektor Benno Bueble aus dem mächtigen Finanzministerium, für Baden-Baden OB Walter Carlein im jährlich wechselnden Rhythmus. Ulrich Wendt war ab 1988 als Landtagsabgeordneter für seinen Wahlkreis involviert. Keine leichte Situation für alle.
Zum Knall kam es dann Ende der 80er-Jahre durch die sogenannte Monaco-Pleite.
Der Versuch der BKV, an der Côte d’Azur eine Thermalbäder-Depandance zu etablieren, endete in einem finanziellen und bundesweiten medialen Fiasko. Offensichtlich wurden mit öffentlichen Geldern umfangreiche „Millionen-Verträge“ zweisprachig fixiert und besiegelt, die sich unter der Lupe des Landesrechnungshofes mit jährlichen siebenstelligen Verlusten als Fass ohne Boden entpuppten. Die Landesregierung sah sich unter den Argusaugen ihrer höchsten Prüfungsinstanz gezwungen, vor allem die Spielbankmittel drastisch zu kürzen. Es drohte der Gau: der Rückzug des Landes aus der Kurstadt. Rückzug bedeutete nicht nur Verlust an Geld, es ging um Renommee und Internationalität, existenzielle Fragen von der Hotellerie bis zum Einzelhandel. Es drohte politischer Liebesentzug für eine Diva, die die Grenzen ihrer Einzigartigkeit aus der Landesperspektive überzogen und damit sträflich aufs Spiel gesetzt hatte. Frankophile badische Lebenslust kollidierte mit schwäbischer Rigorosität sowie einem eisigen Ostwind, und zwar parteiübergreifend. Der Leitsatz des damaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth „Baden-Baden ist uns lieb und teuer“ – meist mit einem spitzbübisch wohlwollenden Blick garniert, war dabei, in das „Noi, mir gäbet nix“ zu kippen. Zwischen den Verwaltungsratsvorsitzenden und Vorstand Sigrun Lang wurde die Verantwortung hin- und hergeschoben. Letztlich erhielt die ehrwürdige BKV einen zweiten Vorstand – Günter Götz. Kurz darauf kündigte Sigrun Lang ihren Vertrag und schied aus.
Der Scherbenhaufen war Realität. Er war gespenstig in der Perspektive für die ganze Stadt. Mit der Lähmung der BKV als eine der beiden Baden-Badener Herzkammern drohten automatisch auch Folgerisiken für die ganz „normale Bürgerstadt“. Der traditionell leider schwache Wirtschaftsstandort für Industrie und produzierendes Gewerbe lief nun zusätzlich Gefahr, auf die Bereiche Dienstleistung, Einzelhandel und Hotellerie überzugreifen. Es war höchste Zeit für einen Kurswechsel an Haupt und Gliedern, einem wirklichen Neustart. Das war die Herausforderung für den Neuen im Rathaus, dem ehemaligen Jesuitenkloster, als er sein fast quadratisches, hohes Zimmer mit den beiden bodentiefen Flügelfenstern und dem beeindruckenden weißen Kamin betrat. Er mochte es sehr. Er sollte da auf einem verdammt heißen Stuhl Platz nehmen.
MONTAG, 30. MÄRZ 2020
DIE CORONA-INFIZIERTEN-ZAHL FÜR DEUTSCHLAND GEHT ÜBER DIE 60.000 HINAUS. DIE SITUATION IN NEW YORK, SYMBOL DER AMERIKANISCHEN STÄRKE, OFFENBART EINE ACHILLESFERSE: ÜBERFÜLLTE, SCHLECHT AUSGERÜSTETE KRANKENHÄUSER UND KEIN SOZIALES NETZ ZUM AUFFANGEN BREITER BEVÖLKERUNGSSCHICHTEN. BEI UNS BLEIBT ES EHER LÄNGER WIE KURZ BEI KONTAKTSPERREN. ERSTE EXITSTRATEGIEN ZUM WIEDERANKURBELN DER WIRTSCHAFT WERDEN EVALUIERT. MEHR UND MEHR ZEICHNET MAN EINE LÄNGERE ZEITACHSE IN WELLENBEWEGUNGEN, DIE NOCH DER KONKRETISIERUNG BEDÜRFEN. NOCH IST DIE STIMMUNG IM LAND, ZWISCHEN REGIERUNG UND GESELLSCHAFT, ERFREULICH KONSTRUKTIV.