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Prolog EINE VISION FÜR BADEN-BADEN

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Heute, 22. März 2020, ein sonniger Sonntag lacht durch die Fensterscheiben. Hier am Fuße des Merkurs, am Saum von Wiesen und Wäldern, tickert „Spiegel online“ die deutschen Corona-Infektionszahlen. Wir bewegen uns auf die 25.000 zu. Alles ist unwirklich. Noch nie erlebt. Keine sicheren Prognosen, für wen auch immer, auf unserem Globus. Doch so viel scheint unausweichlich: Viele Wochen, noch eher lange Monate in Quarantäne liegen vor uns.

Was mich betrifft, könnte das die letzte Chance sein. Tausendmal probiert, tausendmal ist nichts passiert …

Immer wieder seit jetzt 22 Jahren, seitdem ich mit 53 die Verantwortung für diese Stadt ab- und übergeben habe und immer wieder darüber schreiben wollte. Aber was genau und wie und für wen und warum überhaupt?

Eine blitzsaubere Dokumentation mit hundert Fußnoten der 90er-Jahre für das Stadtarchiv? Eine Serie „Wie es damals wirklich war“ in einer der beiden Lokalzeitungen? Ein Roman über eine besonders eruptive Phase der Baden-Badener Lokalpolitik mit allem, was dazu gehört? Mit kleinen „Einsprengseln“ vielleicht in Richtung TV-Serie „Kir Royal“? Am besten mit Tarnnamen bei finsteren Schubladen und bei übergriffigen Untiefen, um juristischen Nachspielen den Sauerstoff zu nehmen, aber das Interesse anzuheizen – ebenso feige wie förderlich! Etwas, was man zum Beispiel auf Sylt, in Salzburg oder Bayreuth genauso gut lesen könnte. Eben, weil sich die psychologischen Mechanismen gleichen könnten. Oder eine Ansammlung ausgewählter Essays berufener Autoren, die diese Phase der jungen Stadtgeschichte als Zeitzeugen erlebt oder gar mitgestaltet haben? Oder eher Poesie und Lyrik? Oder, oder …

Und dann, nachdem alles ungeschrieben im „geistigen Papierkorb“ landete, schälte sich heraus, was es werden könnte. Eine Expedition in das letzte Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts, das wie eine Wasserscheide zur Nachkriegszeit gravierende Veränderungen einforderte. Alte Städte mit all ihren angehäuften Schätzen drohen zu verknöchern, in Selbstbespiegelung zu versinken, wenn sie nicht gerüttelt und geschüttelt, nach vorne gedacht und neu ausgerichtet werden. In Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman „Der Leopard“ gipfelt eine analoge Situation in dem Zitat: „Alles muss sich ändern, damit sich nichts ändert“. Was sich auf den ersten Blick wie Nonsens liest, öffnet sich danach als klarer Quellteich. Zwischen dem Entweder-oder von Bewahren und Verändern grüßt die richtige dritte Alternative: der verbindliche Auftrag zur vitalen Wiedergeburt durch das Beschreiten neuer Wege.

Genau das war die Ausgangssituation, wie ich sie 1990 für Baden-Baden sah und spürte. Schluss mit dem Aussitzen vermeintlicher Besitzstände. Nichts wie ran an eine neue Vision mit konkreten fundamentalen Herausforderungen!

Klagen wir über das damals desaströse Verhältnis zwischen dem Land Baden-Württemberg und der Stadt Baden-Baden? Verklagen wir uns sogar vor Gericht, oder sind wir bereit, auf den Trümmern der veralteten Bäder- und Kurverwaltung eine tiefgreifende, langfristig angelegte Neuordnung mit mehr Effizienz zu etablieren, strategisch, operativ und finanziell?

Ist es Größenwahn, als Stadt mit gerade mal 53.000 Einwohnern das weltweit viertgrößte, künstlerisch privat zu finanzierende Opernhaus der Welt mit gut 2.500 Plätzen aus der Taufe zu heben? Oder handelt es sich um ein „radikal richtiges Projekt“, das mit Hochkultur das internationale Image sowie den Tourismus als Wirtschaftsprogramm für Arbeitsplätze und Steuereinnahmen entscheidend stärken könnte?

Ist es nicht ein brutaler Verstoß gegen die Ruhe im „Weltkurort Baden-Baden“, wenn man sich zugleich darauf konzentriert, ein prosperierender Wirtschaftsstandort in direkter Nachbarschaft eines leistungsstarken Flughafens zu werden?

Ist es die richtig gewichtete Marketingstrategie, uns an erster Stelle als Kur- und Bäderstadt zu positionieren? Oder ist unsere charakteristisch gewachsene Vielfalt mit Festspielhaus, SWR, Museum Frieder Burda, Staatlicher Kunsthalle, neuem Stadtmuseum, LA8, Theater, Philharmonie, Brahms-, Turgenew-Gesellschaft sowie weiteren vorzüglichen Institutionen nicht vielversprechender unter dem Dach einer spannenden Kulturstadt zu präsentieren?

Stimmt es wirklich, dass die „normalen“, angestammten Baden-Badener Bürger zu oft den Kürzeren ziehen, weil zu einseitig auf den internationalen Standort gesetzt wird? Oder gibt es ein Leitbild, wie beide Seiten fair und anteilig in einer Zugewinngemeinschaft profitieren könnten?

Ich werde versuchen, liebe Leserinnen und Leser, Ihnen darauf eine Antwort zu geben.

Der Versuch, für das bisweilen komplexe Werden, Wachsen und Wollen unserer kleinen Stadt, ein striktes, chronologisches, nach Fakten und Ergebnissen gegliedertes Vorgehen zu zimmern, hat viel Schweiß gekostet.

Schnell wurde mir klar, dass die autobiografischen, naturgegeben emotionalen Sichtweisen von den produzierten Fakten und Ergebnissen nicht zu trennen sind. Es wäre anderenfalls weder lebensnah, ehrlich und gewiss weniger spannend geworden. Natürlich steht am Anfang einer Neuausrichtung eine Vision mit Strategie und klaren Zielen. Aus dieser geordneten Struktur erwachsen aber immer wieder neue Situationen, Chancen wie Hindernisse, Impulse und Motive. Diese emotionale Seite ist neben der Vernunft der Treibstoff für politisches Handeln. Aus diesem Spannungsbogen heraus habe ich geschrieben. Genau so sind daraus stadtgeschichtliche Ergebnisse geworden.

Die öffentliche Person Oberbürgermeister Wendt wächst bei hohem Widerstand mit seinem privaten Wesen zusammen. Wer alles geben will, kann das nicht verhindern. Wenige enge Weggefährten habe ich deshalb meinen Entwurf gegenlesen lassen. Es ging mir um Rat, Maß und Mitte, besonders bei den brisanten Themen. Die einen sahen in mir mehr den kühl kalkulierenden Macher, die anderen mehr den Menschen mit seinen Emotionen, der die Leser tief in sein Inneres blicken lässt.

Vor allem bei dem Kapitel „Schattenseiten“ galt es, meine Frau und meine Kinder mit hineinzunehmen, weil hier, von wem auch immer, eine massive Vergiftung in die öffentliche Wahrnehmung wie in unsere intimste Privatsphäre getragen wurde, die nachhaltige Wirkung für beide Bereiche hinterließ.

Immer wieder war es nötig, Vergangenes nicht nur inhaltlich, sondern auch im Zeitgefüge richtig zu rekonstruieren. Weil meine wenigen Unterlagen sowie die vorhandenen Terminkalender besonders im „überfüllten Korridor“ zwischen 1993 und 1997 nicht in allen Fällen weiterhalfen, können zum Beispiel bei Begegnungen oder bei der Schrittfolge von Verwaltungsverfahren Jahresschwankungen nicht gänzlich ausgeschlossen werden.

Auch war es geboten, neben der erzählenden Zeitebene der 90er-Jahre sowie kurzen Rückblicken immer wieder an prägnanter Stelle aus der heutigen Sicht 2020, damalige Momentaufnahmen mit der eingetretenen Realität abzugleichen.

Und ja, Corona hatte für den Autor auch sein Gutes. Er nutzte das Refugium daheim im Arbeitszimmer, um parallel zur bisher nie gekannten „Geisterwelt“ draußen, in der zeitlichen Verdichtung von vier Monaten das erste Entwurfskonzept niederzuschreiben. Die Corona-Zeitzeiger sind lediglich statische Wegmarken mit Kurzanmerkungen, die Rückschlüsse auf den Autor ermöglichen könnten. Mit dem Geburtsdatum Juni 1945 als Vertreter der allerersten Nachkriegsgeneration hat man als Demokrat eine Verpflichtung und als Deutscher einen europäischen Kompass. Dass Bücher in der Zeit zwischen Abschluss des Manuskripts und der Veröffentlichung teils von der Realität überholt werden, träfe dann wohl auf diese „Corona-Haltestellen“ und auf den Epilog zu, bei dem mir meine innere Stimme sagt, dass unser Festspielhaus die Corona-Krise meistern muss und wird.

Wohlan, ich bin mir bewusst, dass diese Vermessung der Baden-Badener 90er-Jahre den Autor spiegelt. Mein Maßstab war: Die Liebe zur Stadt sollte eine ehrliche, suchende und zielführende sein.

Und auf einer Metaebene sehe ich bildlich vor mir, wie die „echten“ Baden-Badener in ihrem Oostal dafür arbeiten, damit die Gäste und Residenten als bekehrte, aufgeklärte Baden-Badener auf ihren verschiedenen „Chaiselongues im Grünen Salon“ genesen, musizieren, lauschen, schreiben oder lesen, diskutieren, genießen, spielen und riskieren – entrez s’il vous plait!

Baden-Baden wagen

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