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7. ZWISCHENZEITEN 1991 – 1992 MEINE ENGSTE WEGGEFÄHRTIN URSULA LAZARUS

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Die Zeit des „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ neigte sich definitiv dem Ende zu. Die beiden großen Linien einer möglichen grundlegenden Wende in und für die Stadt strömten parallel, forderten strategiebasiertes Handeln, erhöhten Energie- und Zeitaufwand, befanden sich aber in gänzlich unterschiedlichen Stadien.

Die Festspielstadt mit Opernhaus war eine „traumhafte“ visionäre Idee, die Ermano Sens-Grosholz mit dem Comité immer wieder befeuerte. Die Frage, ob diese Vision nach dem Bonmot von Altkanzler Helmut Schmidt „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ als Blase platzen würde oder ob sie durch ein solides, sprich tragfähiges Konzept, flankiert von schwergewichtigen Namen als erstes Keimblatt in der politischen Landschaft wurzeln könnte, war die Wegegabelung, die es als Erstes zu meistern galt. Ich persönlich hatte mich entschieden, die zweite Variante im positiven Sinn voll auszuloten. Sie begann – es war wohl Frühsommer 1992 – bei einem Mittagessen mit dem ehemaligen „Staatsrat für Kunst“ Professor Wolfgang Gönnenwein in Baden-Baden, der sich kurz zuvor telefonisch aus dem Nichts, aber wohl nicht ohne Wissen des Vorstandsvorsitzenden der Jenoptik AG, MP a.D. Lothar Späth, ankündigte. Er zeigte starkes Interesse und wollte mit all seinen Möglichkeiten einsteigen, um Chancen zu testen. Dazu kamen erste Treffen mit Dr. Werner Kupper aus Zürich, als Treuhänder des Herbert von Karajan-Nachlasses, die, unterfüttert mit Schweizer Tugenden, entscheidend für uns werden sollten. Sein Interesse an Baden-Baden, so konnte man damals nur erahnen, lag wohl darin, neben dem Hauptengagement in Salzburg, eine weitere Option zu erkunden. Das Ganze mündete ein gutes Jahr später in die bahnbrechende Begegnung mit Lothar Späth am Sonntag, dem 10. Oktober 1993, auf Schloss Solitude, bei der in „knisternder Produktivität“ die Königsidee geboren werden sollte.

Die Neuordnung der BKV dagegen lag nicht als Idee in der Ferne. Die BKV musste quasi am lebendigen Leib operiert werden. Der gesamte Organismus mit 400 Mitarbeitern sollte dabei für den internationalen Standort motiviert bleiben und weiterhin trefflich funktionieren. Das war für sich allein schon eine psychologische Herausforderung, je tiefer sich öffentlich-rechtliche Daseinsberechtigung verselbstständigt hatte. Dazu kam, dass der neue Alleinvorstand Günter Götz mich zunehmend und massiv ärgerte. Er erweckte sehr selbstbewusst den Eindruck, dass ihn die sich anbahnende Neuordnung nicht sonderlich scherte. Er suchte geschickt die Hohlräume unterhalb der politischen Ebene, um Sand ins Getriebe zu streuen. Zwei Tage vor einer pompös geplanten Verwaltungsratssitzung der BKV mit Damen 1991 in Meran provozierte er mich erneut bei einer Vorbesprechung durch sein eklatantes Desinteresse an Reformnotwendigkeiten. Die Koffer waren schon gepackt. Ich zog als Verwaltungsratsvorsitzender die Reißleine. Die Reise wurde gecancelt. Die Zeit von Günter Götz neigte sich dem Ende zu. Schließlich verließ er wenig später die BKV. Ich hatte Zähne gezeigt. Es zahlt sich nicht aus, jemanden zur Jagd tragen zu müssen. Es war allein der Sache geschuldet.

Umso mehr war ich darauf aus, mit dem Land durch mehr Vertrauensbildung die Neuordnung zu beschleunigen. Wir erinnern uns, dass der Haushaltsentwurf 1991/92 des Finanzministers Guntram Palm als Reflex auf die Monaco-Pleite eine drastische Reduzierung der Spielbankerlöse androhte. Das konnte zum Glück in höchster Instanz durch persönliche Intervention des Ministerpräsidenten abgefangen werden. Dabei stand ich mit meinem penetranten Nachbohren und Lothar Späths immenser Belastung auch vor dem Hintergrund der anschwellenden sogenannten „Traumschiff-Affäre“ wiederholt auf sehr dünnem Eis. Danach, bei einem Treffen Ende 1990, empfahl er beiden Seiten dringlich, dem Finanzministerium in Person von Benno Bueble, der Stadt und ihrem OB, sich „hinzusetzen“, um zukunftsweisend stabile Grundlagen zu legen. Wenn Lothar Späth „dringlich“ sagte und meinte, dann verengten sich beim Frontalblick seine Pupillen und die schmal gepressten Lippen schlossen jeden Zweifel aus!

Für die Stadt sah ich gemeinsam mit Ursula Lazarus, der CDU-Fraktion und den Freien Wählern im Gemeinderat, wachsende Entschlossenheit, die Alt-BKV und ihre fortschreitende Kannibalisierung zu beenden. Die SPD hatte sogar schon im Schulterschluss mit ihrer Landtagsfraktion eine rechtlich abgesicherte Landesfinanzierung für eine weitgehend kommunalisierte BKV konzeptioniert. Bereits im Wahlkampf hatte ich die offensichtliche und provozierende Dysfunktionalität zwischen Stadt und Land immer wieder in ein Bild gegossen. Nötig, weil – bis heute übrigens – die meisten Baden-Badener zwar wissen, dass es da um viel Geld geht, aber nicht genau warum, weil es vielen einfach zu kompliziert ist. Das machte es übrigens auch Teilen der hotelnahen FDP mit dem Bundestagsabgeordneten Olaf Feldmann, der zugleich auch HOGA-Geschäftsführer war, und den Alt-Badenern unter dem Karlsruher Professor Mürb so einfach, der Öffentlichkeit über Jahre hinweg immer wieder gegen alle Fakten vorzuspiegeln, es sei die Stadt, die bei einer Neuordnung Millionen in Wirklichkeit ihr gehörender Spielbankgelder verlieren würde.

Das Wendt-Bild war so: In der Lichtentaler Allee fährt eine Zweispännerkutsche mit zwei Kutschern, einer für das Land, einer für die Stadt. Jedem von ihnen gehört ein Pferd. Nach den Statuten müssen sie jährlich Zügel und Peitsche wechseln. Dabei wird die Richtung geändert und es gibt Hü-Hott-Politik. Man fährt Umwege und verschwendet Hafer. Deshalb ist es für Baden-Baden insgesamt besser, sich zwei Einspännerkutschen anzuschaffen. Eine für das Land und eine für die Stadt und die Arbeitsteilung, also die Fahrtrouten, so zu organisieren, dass man schneller und sogar mit weniger Futter seine abgestimmten Ziele für das gemeinsame Ganze erreicht.

Konkret bekam das ab Anfang 1992 zunehmend Konturen, nachdem Dr. Wolfgang Bernhardt mit dem klaren Auftrag, die Neuordnung operativ in Angriff zu nehmen, in die Verantwortung kam. Er fand ein kostspieliges Roland Berger-Gutachten vor, das hohe Einsparungseffekte von bis zu jährlich 11 Millionen DM in Aussicht stellte. Dies erwies sich später zu Recht als illusorisch. Die Leitlinie allerdings, ein Mix von Teilkommunalisierung und Privatisierung vor allem Verpachtung, wurde politisch übernommen. Die verbleibende Verantwortung Stadt-Land war in ihrer öffentlich-rechtlichen Ausprägung noch nicht hinreichend konkretisiert.

Und dann gab es den Alles-oder-nichts-Punkt. Er musste bei der politischen Schlacht, die es zu schlagen galt, das Erzübel der Alt-BKV dauerhaft tilgen. Da mit der Monaco-Pleite jeder Kredit verspielt war, hatten wir auch die Mehrheit beim Haushaltsgesetzgeber, also im Landtag, verspielt, die damals bis Mitte 1992 noch eine knappe absolute CDU-Stimmenmehrheit war, danach aber in den Händen der schwarz-roten Koalition lag. Es gab diese Mehrheit, wenn alles bei den alten Strukturen geblieben wäre, real aber nur in der einen Richtung, nämlich immer weniger Geld, Hahn zu für Baden-Baden! Unsere Stadt brauchte also eine garantierte Langfristlösung im Sinne eines Generationenvertrages, bei der sich das Parlament über eine Haushaltsermächtigung praktisch selber davon befreite, alle zwei Jahre diese Gelder und ihre Berechtigung für Baden-Baden im Futterneid beherrschten Haushaltsfieber zur Disposition zu stellen.

Warum aber sollten das Land, seine Regierung und sein Parlament das eigentlich tun wollen? Wenn man das Einmaleins der Politik verstanden hat, weiß man, dass nur der überhaupt eine Gewinnchance erhält, bei dem beide Seiten auch mittel- bis langfristig etwas davon haben könnten. Und, weil wir alle Menschen sind, wenn die Chemie, die Atmosphäre wieder saubere Luft zwischen den Partnern ermöglicht. Wenn man sich letztendlich wieder in die Position, die Interessenlage des jeweils anderen hineinversetzen will und kann. Wir hatten Ende der 80er-Jahre dieses Kapital in Stuttgart verspielt. Aber wo stand geschrieben, dass man mit einem guten Plan, mit Aufbruchstimmung, mit Synergien für beide Seiten, nach dem Zweikutschenprinzip, wer Hafer spart, arbeitet effizienter, nervende Streitigkeiten nicht beenden und gemeinsam reüssieren könnte? So klang unsere „Neuordnungshymne für das gelobte BKV-Land“, mit wem auch immer wir hierüber zu sprechen hatten.

Ich war in der Landes-CDU immer noch eine frische Kraft, hatte bei der letzten Landtagswahl 1988 mit fast 60 Prozent das zweithöchste Ergebnis überhaupt erzielt. Als frischgewählter OB in Baden-Baden durfte ich gewiss auch Rückenwind erhoffen. Noch in der Bühler OB-Zeit konnte ich im engsten Schulterschluss mit Lothar Späth 1986 die Rettung des Schlosshotel Bühlerhöhe mit Max Grundig durchziehen. Seitdem kannte er mich und schenkte mir Vertrauen. Nach seinem Ausscheiden im Januar 1991 durfte ich voll auf Günther Oettinger setzen, dem Baden-Baden wirklich am Herzen lag, der ähnlich tickte wie Lothar Späth. Und die Tatsache, dass ich 1992 mein Versprechen einlöste, das Landtagsmandat bei nahezu sicherer Wiederwahl zurückzugeben, um mich ganz auf Baden-Baden zu konzentrieren, hatte mir in Stuttgart Anerkennung beschert. Und dann gab es da noch eine Geheimwaffe: Ursula Lazarus, die Mitte 1992 meine Nachfolgerin in Stuttgart wurde, entwickelte eine derartige Charme-Offensive, der weder der neue Ministerpräsident Erwin Teufel noch der neue Fraktionsvorsitzende Günther Oettinger widerstehen konnte. Letzterer nannte sie noch 20 Jahre später bei öffentlichen Veranstaltungen „die genialste und unabweisbarste Wegelagerin, die ihm jemals begegnet sei“ und wenn es um Baden-Baden ginge, mit feinster Sensorik ausgestattet. Sie wäre stets zur richtigen Zeit genau an den richtigen Stellen gestanden, wo man ihr und ihrem freundlich entwaffnenden Blick wehrlos ausgeliefert war. Was Erwin Teufel anbelangte, sei angemerkt, er kannte sie nicht nur im politischen Geschäft. Sie lebte, sie praktizierte die Haltung katholischer Christen im Alltag. Er war Menschenkenner genug, um ihr zu Recht sein ganzes Vertrauen zu schenken.

Um einen neuen langfristigen Generationenvertrag mit vom Spielbankerlös unabhängigen Verträgen aus der Taufe zu heben, sollten Ursula Lazarus und ich während einer zweijährigen „Dschungeldurchquerung“ zu einem unzertrennlichen Duo werden. Das war nicht nur dem hohen Außendruck geschuldet. Auf eine wirklich ideale Art und Weise waren wir gänzlich gegensätzlich, aber wir durften und dürfen bis heute uns uneingeschränkt aufeinander verlassen. Sie, die Frau mit gepflegtem Ambiente, in sich ruhend und dies auch ausstrahlend, eine Physikerin und Mathematikerin, die Zahlen wie Menschen bewegte. Sie schielte nicht auf Karriere-Chancen, sie diente authentisch überzeugend, ab 1975 34 Jahre im Gemeinderat, davon exakt zwei Jahrzehnte als CDU-Fraktionsvorsitzende und nochmals fast zwei Jahrzehnte als Landtagsabgeordnete in Stuttgart. Hinter diesen Jahrzehntzahlen in Doppelfunktion stehen frühes Aufstehen, spätes Heimkehren, termingefüllte Wochenenden, ebenso diszipliniertes wie strukturiertes Arbeiten und ein weitestgehender Verzicht auf Privatleben.

Meine Person, der wahre Jakob, wird sich im Folgenden noch offenbaren, und meine Lebenserfahrung zeigte mir immer wieder, dass, je grundverschiedener zwei Menschen sind, je weiter ihre Pole auseinander liegen und je vertiefter sie das intern zusammenfügen, sie umso mehr bewegen können. Je weniger man sich gleicht, desto weniger kann der eine dem anderen etwas wegnehmen. Energieverlust durch Konkurrenzierung gibt es nicht, dafür volle Kraft voraus nach dem Motto „getrennt marschieren, vereint schlagen“. Der Erfolg gehört beiden, die Niederlage aber auch. Was zu beweisen war!

HEUTE, DONNERSTAG, 2. APRIL

NOCH IMMER STRAHLT DIE SONNE VOM BLAUEN HIMMEL. DIE INFEKTIONSZAHLEN BEI UNS STEIGEN ÜBER 70.000, DIE STERBLICHKEITSRATE LIEGT BEI ÜBER 700 MENSCHEN, MEIST ÄLTERE, ZUNEHMEND AUS ALTENPFLEGEHEIMEN. DIE INTERNATIONALEN ZAHLEN PURZELN IN PUNKTO VERGLEICHBARKEIT DURCHEINANDER. NIRGENDS GIBT ES BELASTBARE PARAMETER, AUCH WEIL VÖLLIG UNTERSCHIEDLICH WO, WIE, WANN, WARUM ÜBERHAUPT DER CORONA-TEST DURCHGEFÜHRT WIRD. WAS MICH EMPÖRT IST, DASS UNSERE SÜDLICHEN NACHBARN ITALIEN, SPANIEN VIEL ZU WENIG UNTERSTÜTZUNG VON DEUTSCHLAND ERHALTEN. ES KANN SICH FÜR EUROPA TÖDLICH RÄCHEN – BISHER – ZU CORONA-BONDS ODER KREATIVEN ZWISCHENMODELLEN IM CLUB DER NORDLÄNDER „NEIN“ ZU SAGEN. MIR FEHLT HIER NICHT NUR DAS HERZ, SONDERN POLITISCH WIE ÖKONOMISCH DIE STRATEGISCHE WEITSICHT.

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