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6. EINE BEGEGNUNG – EINE WAHNSINNSIDEE BÜRGERSTADT UND INTERNATIONALER STANDORT
ОглавлениеErmano Sens-Grosholz – der Name passte zu seiner Erscheinung: stattliche Figur, markantes Gesicht, starke Hände und soignierte Garderobe mit ausgesuchten Accessoires vom Scheitel bis zur Sohle. Er hätte als transalpiner Impresario zwischen Italien und Österreich auch das Jahrhundert zuvor verkörpern können. Seine ganze Passion galt einer elektrisierenden Idee für Baden-Baden als zukünftiger Festspielstadt mit einem in jeder Hinsicht großartigen neuen Opernhaus. Kein geringerer als Richard Wagner sollte bereits 1860 am Rande des Fürstenkongresses mit Napoleon dem Dritten für eine solche Option geworben haben. Der Platz im Talgrund sei schon fixiert gewesen, dann allerdings entschwand er nach einem enttäuschenden morgendlichen Rendezvous mit der Prinzessin Augusta von Preußen, der späteren Kaiserin. Es ranken sich viele Spekulationen über die Ernsthaftigkeit sowie die Motive der Beteiligten bis hin zu seiner wenig attraktiven sächsischen Mundart. Dieses ewige Geheimnis wird einem Ondit zu Folge seitdem unter dem Wandbild der Nixen vom Mummelsee bestens gehütet. Immerhin schrieb Richard Wagner 1871 höchstpersönlich, für seine Pläne wäre Baden-Baden der erste Ort außerhalb Bayerns gewesen!
Sens-Grosholz residierte standesgemäß am Leopoldsplatz und hatte gerade das „Comité zur kulturellen Förderung“ aus der Taufe gehoben. Er förderte auch mit eigenem Geld Konzerte und warb mit Feuer und Flamme. Nach erstem Kennenlernen am Rande anderer Events trafen wir uns im Rathaus. Ich war hin- und hergerissen. Das alles war faszinierend, geradezu spürbar verführerisch. Musik, klassische Musik war zweifellos eine naturgegebene Seele dieser Stadt, die über die Jahrzehnte an Strahlkraft verloren hatte. Sens-Grosholz, der als Salzburg-Fan Ermüdungserscheinungen der österreichischen Festspielstadt konstatierte, projizierte alles, was er dort vermisste und mit guten Insiderkontakten als Option erkannte, nach Baden-Baden. Das freute mich und imponierte mir. Aber ich war kein Kenner dieser Szene, keiner, der dank eigener Expertise die Tragfähigkeit dieser hochkarätigen Idee hätte validieren können. Zeitgleich plagte die Stadt die ebenso fundamentale wie auf den Nägeln brennende BKV-Problematik, die ihre Wirtschafts- und Finanzstruktur bedrohte. Wenn ich eines in den verflossenen zwölf Jahren in Lokal-, Regional- und Landespolitik gelernt hatte, dann, dass dieses Metier kein Wunschkonzert ist. Die Baden-Badener Realitäten zeigten eine relativ hohe Verschuldung bei eher unterdurchschnittlicher Steuerkraft. Also vertröstete ich ihn. Es galt, Zeit zu gewinnen. Die Idee aber blieb als starker Reiz. Es sollten zwei, drei Jahre später aus ganz anderer Richtung neue Impulse dazustoßen.
Würde ein „normaler Bürger“ diese Geschichte bis hierher lesen, würde er zu Recht fragen: Und wo finden WIR statt? Die Stadt zählt rund 4.600 Menschen, die sich unterhalb der Armutsgrenze bewegen. Das sind 4.600 zu viel. Wer zugleich an eines der größten Opernhäuser der Welt denkt für eine Stadt mit 53.000 Einwohnern, wer nur an die BKV denkt für die Welt der Reichen und Privilegierten, muss der nicht jedes Augenmaß und jegliche Bodenhaftung verloren haben? Wo bleibt Gerechtigkeit, das soziale Gewissen? Solange Schulen, Kindergärten, Kitas, Jugendmusikschulen, Alleinerziehende, Vereinsförderung, Schlagloch-Straßen, Lärmschutz in Wohngebieten, Umweltschutz beschleunigen, behindertengerechte Stadt und vieles, vieles mehr Priorität haben muss, darf man da überhaupt an solche „Spinnereien“ denken? Wo bleiben die sechs 1972 hinzugekommenen Stadtteile im Rebland, Rheintal und auf dem Berg? Von den in der Hitlerzeit zwangseingemeindeten Ortschaften Balg und Oos ganz zu schweigen. In dem bodenständigen Geroldsau bis Malschbach, Lichtental mit Oberbeuern bis Schmalbach stellten sich exakt dieselben Fragen. Man muss das so drastisch sagen. Sehr vielen angesichts ihrer individuellen Sorgen und nicht auf Rosen gebetteten Baden-Badenern ist das Hemd näher als die Hose. Nicht aus Über-Mut, sondern wegen ihres eigenen Über-Lebens.
Diese überalterte Stadt beheimatete auch viele wohlhabende, gebildete Töchter und Söhne, die, weil es ideell wie materiell auch viel zu verlieren gab, ihrem Wesen nach oftmals strukturkonservativ verwurzelt waren – und immer noch sind. Es sind Menschen, die in der Bewahrung der gewachsenen Einmaligkeit Baden-Badens das Ein und Alles sehen und keinerlei Abstriche, auch keine persönlichen, in Kauf nehmen wollen.
Einmal traf ich mit den Damen eines Karten spielenden Clubs zusammen, renommierte Namen mit viel Takt und Stil meist aus ererbtem, guten Hause. Seit gefühlten Urzeiten zelebrierten sie in einem wunderschönen Raum des Kurhauses ihr reizvolles Gesellschaftsspiel. Das sollte ihnen keinesfalls genommen werden. Im Rahmen der werdenden Neuordnung der BKV zeichnete sich aber ab, dass für die Saalnutzung, die bisher sehr günstig war, zukünftig etwas mehr gezahlt werden müsste, so wie für alle anderen Säle und jedermann auch. Ich warb für Verständnis, das Gespräch wurde aber immer frostiger und mündete in Grundsatzfragen. Es wurde überdeutlich, was ich oben beschrieb, es bestand keinerlei Bereitschaft für jedwede Veränderung oder Flexibilität. Ein wenig verließ mich meine Contenance. Ich vergriff mich in einem Bild, weil ich schon zu viele Briefe erhalten hatte, in denen über den Lärm von spielenden Kindern, bellenden Hunden geklagt und auf das „heilige“ Kurrecht auf Ruhe gepocht wurde. Das ging mir frontal gegen den Strich. Eine meiner Schwächen – Ungeduld, ungebremste Passion – brach sich Bahn, aber es musste raus!
Mein Bild war, die Damen und ich sitzen an einem wunderschönen, sonnigen Septembertag auf der Bank unweit des hoch sprudelnden Felsenbrunnens bei der großen Hängebuche gegenüber der Staatlichen Kunsthalle. Weil alles genau so ruhig und friedlich war und immer so bleiben sollte, wie gewünscht, schliefen wir ein. Als wir aufwachten, war der Hintern auf der Bank festgefroren, die Nasenspitze weiß. Das braune Buchenlaub hatte uns rundum „eingeschneit“. Sie starrten mich an. Und ich: „Das haben wir verdient. Wer sich nicht bewegt, stirbt. Die Ruhe wird zum Friedhof. Unsere Stadt auch!“. Peng - ich hatte bei den Damen auf Lebzeiten „verschissen“ und leider einer guten Sache einen schlechten Dienst getan!
Wie sprengt man betonierte Positionen? Tempelwächter der reinen Lehre können wirklich alles „wissen“, aber vermögen keine Zukunft zu gestalten.
Immer, wenn im Oostal starke Veränderung, Innovation oder Zukunftsorientierung eingefordert wurde, kam das harte Nein beinahe schon reflexhaft. Dann hagelte es Leserbriefe. Bürgerinitiativen, die stets sagten, was sie nicht wollten. Wenn sich so etwas allerdings in der Summierung über Epochen aneinanderreiht, kommt irgendwann der kritische Punkt, an dem man „aus der Zeit zu fallen droht“. Die Baden-Badener Übernachtungszahlen wie die Gewerbesteuereinnahmen stagnierten seit Jahrzehnten. Dass jede Chance ein Problem birgt, das bedrohlich ist und deshalb beseitigt werden muss, oder dass in jedem Problem eine ureigene Verantwortung zum Handeln, Gestalten, zur Innovation und zur Lösung liegt – das war das „to be or not to be“ im Oostal.
Natürlich gab es in Baden-Baden Verluste an Identität, die aus heutiger Sicht unverzeihlich sind. Der Abriss des Maison Messmer, der Abschied vom Augustabad grenzten an Selbstverstümmelung. Wenn man könnte, würde man es rückgängig machen. Aber es gibt auch Beispiele, die Brücken schlagen. Die Firmenzentrale von Karlheinz Kögel, in Glanzzeiten Teil des legendären Grand Hotels „Stephanie les Bains“, dann bis zur Neuordnung 1995 Sitz von rund 400 Mitarbeitern der öffentlich-rechtlichen Anstalt BKV zeigt als architektonisches Bindeglied zwischen Lichtentaler Allee und Augustaplatz, wie man nach der Befreiung von Asbest, liebevoll sorgfältiger Renovierung große Vergangenheit mit Wirtschaft, Medien, Arbeitsplätzen und Ertrag für alle verbinden kann. Fast 30 Jahre Deutscher Medienpreis von Bundeskanzler Helmut Kohl, den Staatspräsidenten Mitterand, Jelzin, Clinton bis Barack Obama, lassen grüßen – nur einen Steinwurf entfernt vom legendären Fürstenkongress 1860 mit Kaiser Napoleon III., dem preußischen Prinzregenten und späterem Kaiser Wilhelm I. sowie den wichtigsten deutschen Königen und Großherzögen. Oder nehmen wir das zeitgeschichtlich spannende und baulich sensibel integrierte LA8 des Unternehmers und Mäzenaten Wolfgang Grenke. Das vormalige schwedische Palais ist ein Geschenk für neue digitale Generationen.
Genau vor diesen Fenstern und Zeitsprüngen öffnet sich die trennende Wasserscheide der 90er-Jahre, die mit der Radikalität der Zerschlagung überalterter Kurortstrukturen und der Verlockung einer „größenwahnsinnigen Idee“ namens Festspielhaus schemenhaft die Härte zukünftiger Herausforderungen erahnen lässt. Und um die Dehnfugen der Stadt mit dem Doppelnamen und dem Januskopf noch etwas zu vertiefen, folgt ein kleiner Rekurs zu den Wurzeln der zwei Seelen in einer Brust.
Sichtbar thronte ab dem 12. bis zum 15. Jahrhundert das Schloss Hohenbaden als Stamm- und Regierungssitz über der kleinen Stadt Baden, vormals Badon. Die Markgrafen, aus dem geografisch weitgespannten Geschlecht der Zähringer stammend, nannten sich deshalb „von Baden“, also über der Stadt Baden residierend. Die Stadt wurde so zur Keimzelle des ganzen Landes. Als sich die katholische Markgrafen-Linie im 17. Jahrhundert und ihr evangelischer Teil in Durlach/Karlsruhe konfessionell verzweigte, nannten sie sich „Markgrafen von Baden-Baden“. Und selbst als die Residenz vom Neuen Schloss am Florentiner Berg 1705 à la Versailles nach Rastatt wanderte, blieb es bei dem Doppelnamen.
Anlässlich des Rastatter Kongresses 1798/99 machte die Markgrafenschaft europaweit Schlagzeilen, und die illustren Teilnehmer liebten es, in Baden-Baden zu promenieren und das Leben zu genießen. Dieser beginnende Wandel als internationaler Treffpunkt verstärkte auch den Reiz, sich mit dem Doppelnamen ein verkaufsförderndes Einzelstellungsmerkmal zu Baden bei Wien und Baden bei Zürich zu schaffen. Alle drei Städte lebten von Gästen, bekamen Residenzler, die ihre prächtigen Sommersitze bauten und in einem Buen Retiro ein entspanntes Leben führten. Viele von ihnen wuchsen über sich hinaus und wurden mit oftmals auch unternehmerischer Energie Mäzenaten ihrer zweiten Heimat. Es waren großzügige, weitblickende Geber, keine Nehmer. Die Bénazets inspirierten weitere große Namen und trugen Baden-Baden im 19. Jahrhundert auf ungeahnte Höhen. Die „Ureinwohner“ waren die Dienstleister, vom Bäcker, Winzer, Metzger bis zum Personal. Es war eine Symbiose, eine ganz natürliche Zugewinngemeinschaft. Nicht nur für das Land, auch für die Stadt vermehrten sich die Steuereinnahmen. In der lebenslustigen Thermalstadt an der Oos sprudelte zugleich eine starke private Quelle. Es könnte sein, dass diese Kraft zu ganz anderen Zeiten wieder den entscheidenden Unterschied als Symbol für Aufbruch und Aufschwung setzen könnte. Baden-Baden getragen von drei Säulen: Stadt, Land und einer Bewegung bewegter Menschen. Und subkutan würden dann erneut die Unterströmungen zwischen Engelskanzel und Teufelskanzel an der Wolfsschlucht ihre Sogkräfte entfalten – man wird sehen.