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2. Na? Gestempelt?

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Da waren viele Menschen auf dem römischen Bahnhof, die mir vor die Füße liefen, sehr viele, Familien mit Kindern, die schrien, Mütter die noch lauter schrien, und Väter, die jetzt wirklich keine Lust mehr hatten; Zuganzeigen, die nicht funktionierten, Zuganzeigen, die keine Abfahrten, sondern, als wollte ich nur ankommen, nur die Ankünfte kundgaben, Lautsprecherdurchsagen, Bahnsteig- und Gleisänderungen, von 17 nach 4 und wieder zurück zu 17, die Lautsprecher sagten 18, ein Mann rammte mich mit seinem speckigen Baumwollpullibauch und rief: „Taxi! Taxi!“, und ein anderer übertönte ihn mit „Hotel, Hotel“.

Am Ende saß ich schließlich im Zug und hatte vergessen zu stempeln. War da wirklich einer dieser kleinen Stempelautomaten? Dort hinter der riesigen Marmorsäule?

Es war nun schon das dritte Mal, dass ich nicht gestempelt hatte. Ich musste also eine Schulung besuchen, einen Kurs mit dem Titel „Vorbereitung auf die Benutzung von Zügen der Italienischen Eisenbahn“.

Ich hatte eigentlich ein modernes, klimatisiertes Glasgebäude erwartet mit Lounge und freundlicher Empfangsdame, so wie heute bei Schulungen allgemein üblich. Stattdessen befand ich mich in einem staubigen, baufälligen Altbau in der Nähe des Bahnhofs. Es war stickig heiß, die Farbe blätterte von den Wänden und überall klebte Kaugummi. Als ich den Schulungsraum betreten wollte, war die Tür blockiert. Ein muskulöser, nach Schweiß riechender Koloss stand davor und hatte mir den Rücken zugewandt. Sein Kopf war kahl geschoren und mehr noch als Schultern hatte er Tätowierungen, die grünlich blau schimmerten. Ich traute mich nicht, ihn anzutippen, sondern sagte mehrmals: „Entschuldigung“, jedes Mal ein bisschen lauter, bis er sich endlich umdrehte, mich sah und zur Seite trat.

Ein paar Leute saßen schon auf ihren Stühlen. Irgendjemand machte gerade einen Witz, woraufhin alle lachten. Er hieß Giorgio und war aus Neapel.

Dann kam die Lehrerin herein, eine nette Lehrerin mit dunklen Locken und sommerfrisch glänzender Haut. Sie hatte einen Stempelautomaten unter dem Arm: „Das ist natürlich nur eine Attrappe“, sagte sie und grinste verschmitzt in die Runde. Ihre kleinen, weißen Zähne leuchteten dabei aus ihrem sonnengebräunten Gesicht heraus.

Die Lehrerin schraubte den Stempelautomaten auf ein Stativ und wir mussten alle einmal stempeln.

„Sehr gut!“, sagte die Lehrerin, „sehr gut!“, als ein Mann aus Turin die Fahrkarte in den Automaten führte. Er war schlank, hochgewachsen und hatte eine nasale Stimme.

Ein älterer Mann aus den Abruzzen stopfte die Karte so in den Schlitz, dass der Automat nicht mehr aufhörte zu klicken. „Nein, so doch nicht“, schimpfte die Lehrerin. „Da ist doch schon die Körperhaltung vollkommen falsch.“

Danach kam das Rollenspiel: Jeder musste einmal vorbeigehen, ohne zu stempeln. Er wurde anschließend gleich von der Gruppe zur Rede gestellt, wie er sich denn dabei fühle. Wir mussten uns möglichst realistisch verhalten: „Sagen Sie mal, Sie sind doch da jetzt ohne zu stempeln durch.“

„Ja, und ich fühl mich auch richtig schlecht“, sollten wir sagen. Der Mann aus Turin verdrehte sogar die Augen, als würde ihm schwindlig. Nur Giorgio aus Neapel sagte, es ginge ihm richtig gut.

Dann wurde das Rollenspiel wiederholt. Diesmal stand der kahlrasierte Koloss aus Rom mit den Tätowierungen hinter dem Stempelautomaten. Wir durften selbst entscheiden, ob wir stempeln wollten. Die Lehrerin meinte allerdings, aus pädagogischen Gründen sei es besser, nicht zu stempeln. Als Erster ging der Mann aus Turin an dem Automaten vorbei, pfeifend, als würde er an etwas anderes denken. Sofort bekam er von dem kahlrasierten Koloss einen Schlag in den Bauch. Der Mann aus Turin fiel zu Boden und wälzte sich. „Sehr gut!“, sagte die Lehrerin, „Sehr gut.“

Nach einer Weile wälzten wir uns alle am Boden vor Schmerzen. Nur die Lehrerin las Zeitung. Nachdem der Koloss aus Rom inzwischen zehnmal ohne zu stempeln an dem Automaten vorbeigegangen war, standen wir beim elften Mal alle auf und fielen über ihn her, bis auch er endlich am Boden lag.

Nur der Mann aus Turin, der lag auf der Lehrerin.

Als am nächsten Morgen die Lehrerin hereinkam, hatte sie eine Zeitschrift unter dem Arm: „Gleisänderung“ stand darauf in großen roten Buchstaben. „Nur wer das richtig beherrscht, kann auch stempeln“, sagte die Lehrerin und strich sich ein paar Locken aus dem Gesicht. „Ich habe Euch außerdem das Standardwerk einmal mitgebracht.“ Sie knallte zwei ausgefranste Bände auf das Pult: „Gleisänderung Teil 1 und 2“ Der eine Band hatte 550 Seiten, der andere 600. „Wenn's jemanden interessiert“, sagte sie und schaute erwartungsvoll in die Runde. Nur der Mann aus Turin meldete sich. Er wollte die Bücher zu Hause einmal durcharbeiten.

Wir trainierten, widersprüchliche Informationen geschickt gegeneinander abzuwägen. Da gab es Anzeigetafeln, Lautsprecherdurchsagen und Eisenbahner. Sie alle informierten uns. Die Lehrerin hob den Zeigefinger: „Wenn also die Zuganzeige «Gleis 17» sagt und der Eisenbahner neben Ihnen «Ich weiß nicht», dann hat der Eisenbahner recht. Bleiben Sie auf alle Fälle stehen.“ Sie hob den Zeigefinger noch höher: „Kommt aber ein Zug, nichts wie hin.“ Sie schob dabei ihre Zunge über ihre Oberlippe, denn diese Regel war wichtig. Dann sah sie dem Mann aus Turin in die Augen.

Es meldete sich aber nur der Mann aus den Abruzzen: „Und wenn kein Eisenbahnangestellter da ist, kann man dann auch den Fahrplanaushang konsultieren?“

Wirklich eine blöde Frage. Alle lachten. Auch ich musste lachen. Hatte doch die Lehrerin gleich ganz am Anfang des Kurses gesagt: „Den Fahrplan könnt ihr vergessen.“

Der Mann aus den Abruzzen bekam die Aufgabe, hundert Mal zu schreiben: „Den Fahrplan kann ich vergessen.“

Höhepunkt des Kurses war die Einladung des Computerspezialisten des Bahnhofs Roma Termini. Er war verantwortlich für alle Gleisänderungen in Rom und Umgebung. Er hatte eine Journalistenweste an, und kaum war er hereingekommen, setzte er sich aufs Pult, das eine Bein fest auf dem Boden, das andere in der Luft baumelnd, und jeder wollte von ihm ein Autogramm. Ich habe von ihm natürlich auch eines bekommen.

Zuerst erzählte er aus seinem Leben: Fußballweltmeisterschaft 1990. Es war ein heißer Tag im Juni, Sonderzüge aus ganz Europa, und gerade da brach das Computersystem zusammen. Und er, mit seinem eigenen Rechner im Büro, musste auf einmal das ganze System managen, bis hinauf nach Mailand.

Wir alle saßen da, schweigend, und lauschten seinen Worten. Danach durften wir Fragen stellen. Es meldete sich aber nur der Mann aus den Abruzzen: „Was soll ich machen, wenn ich am Bahnhof in Pescasseroli stehe und der Zug kommt nicht.“

Der Spezialist zuckte die Schultern: „Pescasseroli? Wie viele Gleise hat denn das überhaupt?“

„Zwei“, antwortete der Mann aus den Abruzzen und fuhr mit der Hand durch den Raum, die Schienen entlang, um anzuzeigen, da sind sie doch die Gleise, von dort kommen sie, in die Richtung verschwinden sie.

Der Spezialist sah ihn verächtlich an: „Wissen Sie, guter Mann, bei mir geht's los ab 10 Gleisen aufwärts.“ Er senkte den Kopf ein wenig, als schaue er über den Rand einer nicht vorhandenen Brille, und sah den alten Mann an: „Alles klar? Sonst noch Fragen?“

Diesmal meldete sich der Mann aus Turin: „Was ist, wenn ich in Florenz den Zug mit der Nummer 286 von Gleis fünf abfahren lasse statt von Gleis 9?“

Das Gesicht der Lehrerin hellte sich auf: „Sehr gut. Eine sehr gute Frage“, und schaute gespannt den Redner an.

Der zog seine Journalistenweste aus und hängte sie über die Tafel. Dann setzte er sich wieder auf das Pult: „Nichts einfacher als das“, begann er. „Sie gehen natürlich nicht den direkten Weg. Machen Sie bloß nicht den Fehler, den 286er direkt von 9 auf 5 zu setzen. Wir haben hier noch ein paar andere Züglein zu platzieren, nicht wahr?“ Er blickte in die Runde und lachte ein kurzes HAHAA. „Sie gehen also folgendermaßen vor: Sie setzen den 70 0 94er von 6 auf 17, das natürlich nur theoretisch und vorübergehend. Klar?“

„Klar!“, riefen wir alle. Jetzt wurde es spannend. Der Mann aus Turin rieb sich die Hände und lächelte der Lehrerin zu, die aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her rutschte.

Man konnte sehen, der Redner verstand sein Handwerk: „Den 46 7 88er von 3 auf 32. 32 gibt's natürlich nicht, ist der Taxistand, muss später dann auf 15. 15 wird aber frei, indem wir den 33 17 25er auf 5 setzen.“

Am Ende fuhr unser Zug von Gleis 370.468 ab. Das war eindeutig hinter dem Taxistand. Da war ein Fehler in der Berechnung, denn das war schon weit hinter den Bergen.

Der Spezialist war verärgert. Er nahm seine Journalistenweste von der Tafel, ging ohne sie anzuziehen zur Türe, sagte: „Ihr seid alles Idioten“, und verschwand.

Eine peinliche Situation. Alle sahen zu Boden. Die Lehrerin fing an zu weinen. Schluchzend sagte sie zu dem alten Mann aus den Abruzzen: „Diese blöde Frage mit den zwei Gleisen in Pescasseroli hätten Sie sich auch sparen können. Das war ein Spezialist für 10 Gleise aufwärts.“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Der Mann aus Turin sprang auf und gab ihr ein Taschentuch. „Danke“, schniefte sie.

Um sie zu trösten, rechneten wir ganz freiwillig ein paar Gleisänderungen durch. Der Mann aus Turin sagte, wir sollten noch ein paar Verspätungen einbauen: drei Züge mit drei Stunden und die restlichen mit zwei.

Irgendwann lachte die Lehrerin wieder. Sie stand auf, ging zur Tafel und rechnete das Beispiel durch. Am Ende fragte sie: „Wer von Euch hat das richtige Ergebnis?“ Wir alle dachten natürlich, der Mann aus Turin. Der Einzige aber, der richtig lag, war der kahlrasierte Koloss mit den Tätowierungen: Gleis minus 117, das hatte nur er.

Am letzten Tag waren wir alle ein bisschen traurig, hatten wir uns doch so gut aneinander gewöhnt. Wir tauschten die Adressen aus und sagten, wir würden uns ganz sicher bald besuchen. Der Koloss aus Rom, den niemand sehen wollte, sagte: „Ihr werdet Euch schon noch an mich erinnern.“

Und in der Tat. Manchmal bekomme ich plötzlich Magenkrämpfe. Doch weiß ich natürlich sofort, was los ist, und nichts kann mich mehr aus der Ruhe bringen, kein Taxifahrer, kein Hotelier und keine Gleisänderung. Ich ziehe meine Fahrkarte aus der Hosentasche und stemple sie. Und siehe da, schon geht's mir wieder gut.

Na? Gestempelt?

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