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Vorwort

Das Schlechte belastet den Menschen, weshalb er es möglichst nicht wahrnehmen will. Weil Menschen aber überall Schlechtes tun, wird die Kunde über diese Taten verbreitet. Und da heute die elektronischen Medien Informationen über das Schlechte auch noch in Bildern schnell, manchmal überflüssig schnell, transportieren – wie Hunderttausende von Toten bei Stammesfehden in Afrika, wie die als »ethnische Säuberung« verharmlosten Massenmorde im Bürgerkrieg des ehemaligen Jugoslawien, wie der aus den eigenen Reihen geplante Mord an einem Präsidentschaftskandidaten in Mexiko, wie brennende Ausländerheime in Deutschland –, wünschen sich viele Zuschauer gute Nachrichten. Gute Nachrichten gibt es auch, doch verbreitet werden sie meist nur dann, wenn sie die eklatante Umkehr einer bisher schlechten Lage vermelden.

Wenn zwei gerade zehn Jahre alte Kinder in Liverpool einen Zweijährigen aus Langeweile brutal totschlagen, fragt sich mancher, ob die Moral, die gutes Handeln bestimmen soll, noch existiert. Als Moderator eines Nachrichtenmagazins, dessen Inhalt weitgehend von negativen Ereignissen in dieser Welt bestimmt wird, mache auch ich mir – notgedrungen – immer wieder Gedanken über den Zustand dieser Welt.

Die meisten Menschen in den Industrieländern erfahren den Widerspruch zwischen ihrem Alltagstrott und dem vom Fernsehsessel aus wahrgenommenen Bösen, das sich tatsächlich ereignet hat, allabendlich. Dieser Gegensatz hat in der westlichen Welt zu dem geführt, was Meinungsforscher ein »Orientierungsdefizit« nennen, das auf einen Wandel der Werte zurückzuführen sei. So meint fast die Hälfte der Deutschen, die Welt nicht mehr zu verstehen. Als Ursache wird angegeben, daß die individuelle Freiheit überbewertet, Normen abgewertet und Gemeinschaftsinteressen vernachlässigt würden. An die Stelle einer verbindlichen Ethik und allgemeingültiger Verhaltensmuster sei eine »weiche«, der jeweiligen Situation angepaßte Moral getreten.[1] In den Vereinigten Staaten, aber auch in Frankreich ist die Diskussion über Ethik und die Werte in einer Gesellschaft schon weit früher entfacht worden als in Deutschland, doch auch bei uns wird die Notwendigkeit immer stärker spürbar.

Gibt es da noch Neues zu sagen? Schließlich befaßt sich die Philosophie spätestens seit Aristoteles mit der Frage des Guten; Kant hat mit dem kategorischen Imperativ die Diskussion besonders in Deutschland bestimmt; von Hegel bis Habermas hat jeder Philosoph versucht, sich der Ethik auf seine Weise zu bemächtigen. Und seit knapp hundert Jahren haben sich auch Soziologie, Psychologie und Pädagogik, ja selbst die Sprachtheorie der Ethik und der Moral angenommen.

In dem nachfolgenden Essay möchte ich mich nicht mit Philosophen und Wissenschaftlern messen. Ich nutze jedoch einige ihrer Erkenntnisse, um – als Journalist, der täglich mit »schlechten« Nachrichten arbeitet – an konkreten Beispielen praktischen Fragen nachzugehen. Fragen, die sich ergeben, weil politisches und gesellschaftliches Handeln häufig nicht von ethischem oder moralischem Wollen geleitet wird: Wie belastet dieser Werteverlust unsere Zeit, und welche Orientierungshilfe brauchen wir in einer Welt, die sich im Umbruch befindet?

Hamburg, im Sommer 1994

Ulrich Wickert

Der Ehrliche ist der Dumme

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