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Menschenwürde als Prinzip

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Der Werteverlust, der Wertewandel, die Wertorientierung, die Wertekrise; solche Schlagworte prasseln seit einiger Zeit auf uns nieder. »Eine ganze Nation rutscht gerade auf dem Bauch herum und schaut unters Sofa, ob ihre Werte darunter gekullert sind. Dabei liegen sie auf der Straße, die Werte, das heißt, sie fahren, wenn sie nicht gerade stehen; wir reden natürlich von den Autos«, so macht sich Herbert Riehl-Heyse[13] über den Mißbrauch des ethischen Wertebegriffs lustig. Er zitiert dabei aus der Kundenzeitschrift von Mercedes-Benz, wo Vorstandsmitglied Jürgen Hubbert auf Hochglanz ein Editorial zur Werte-Frage unter dem Titel »Ein ganz neues Wert-Gefühl« veröffentlichte. »Wie darin ausgeführt wird, ist die neue C-Klasse nach der ›Grundphilosophie‹ ›wertvoller, aber nicht teurer‹ ersonnen worden, was besonders ›erfahr- und erlebbar‹ werde, weil ›auf der Werteseite ein spürbarer Zugewinn beim Innen- und Kofferraum steht‹. Das war jetzt natürlich polemisch«, fügt Riehl-Heyse hinzu.

Aber nein! möchte man ihm widersprechen. Das ist doch nur ein mildes Beispiel! Versucht die Werbewirtschaft nicht, den Verlust der gesellschaftlichen Werte wettzumachen durch das Anpreisen von Sach-Werten? Stand nicht in dem Magazin einer Autoverleihfirma über den Fahrbericht mit einem Ford sogar: »Innere Werte«? Eine Werte-Inflation ist plötzlich über uns hereingebrochen. Schließlich war letzthin sogar auf der Sportseite der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom »Wertewandel im Sport« zu lesen, während sich im Feuilleton dieser Zeitung regelmäßig Philosophen, Soziologen und Historiker die Feder reichen, um kompetent über die ethischen Werte zu reflektieren.

Nun ist es ja nicht falsch, wenn die Wirtschaft das Wort »Wert« im materiellen Sinn verwendet, denn das ist seine ursprüngliche Bedeutung. Der Tauschwert eines Objekts war schon meßbar, bevor es Geld gab. Wert bedeutet also zunächst einmal einen Gegenwert für eine Sache. »Das ist es mir schon wert« heißt: Der Zweck eines Handelns wird begründet, indem man an einen Gegenwert denkt. Das Auto, das Kleid sind ihr Geld wert. Neben der materiellen Bezeichnung bestehen andere »Werte« – wie etwa der ästhetische. Er wird in der Konsumgesellschaft immer wichtiger genommen. Kunst basiert teilweise nur auf ästhetischen Werten, die hauptsächlich für das Betrachten da sind und nicht unbedingt in Geld allein aufgewogen werden, denn auch ein Lustgewinn ist ein Gegenwert. Selbst das kann zum Konsum führen – weshalb Illustrierte mehr Auflage machen, wenn sie die ästhetischen Körpermaße und Gesichtszüge eines berühmten Models auf ihrem Titelblatt abbilden.

In jeder Wissenschaft bedeutet »Wert« etwas anderes: Für Mathematiker ist es eine abstrakte Rechengröße ohne Dimension, für Physiker eine konkrete Meßgröße mit Dimension; in der Chemie gilt Wertigkeit als Fähigkeit der Atome eines Elementes, eine Anzahl von Atomen anderer Elemente zu binden; in der Psychologie ist der Wert ein handlungsleitendes Motiv.[14]

Häufig wird im täglichen Leben auch der Satz verwendet: »Ich tue das, weil mein Freund, meine Mutter, mein Mann mir das wert sind.« Das klingt sittlich, mag vorschnell als »ethisches« Verhalten bezeichnet werden, ist es jedoch noch nicht. Denn der Beweggrund des Handelns ist privat. Erst wenn unser Handeln nicht einer Laune entspricht, kann es ethisch sein. Nach dem Motto: Ich tue es, weil es getan werden muß.

Eine ethische Forderung steckt dagegen in dem Satz des amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson, der im allgemeinen John F. Kennedy zugeschrieben wird, weil er ihn beim Antritt seiner Präsidentschaft seinem Volk vorhielt: »Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frag, was du für dein Land tun kannst.« Als im Juni 1992 in Gesamtdeutschland die Frage gestellt wurde, ob der Befragte sich mit diesem Sinnspruch identifiziere, sagten nur 21 Prozent, die Aufforderung Kennedys entspreche ihrer Auffassung, 45 Prozent lehnten diese Idee ab, während 34 Prozent keine Meinung hatten.[15]

In der Ethik wird »Wert« nicht in materieller Bedeutung, sondern in einem übertragenen Sinn verwendet. »Dabei verändert sich der Begriff, denn er bezieht sich nicht mehr auf Sachen, sondern auf den Menschen selbst.«[16] Während ich beim Tauschgeschäft fragen kann: »Was ist es mir wert?«, ist solch eine Frage beim ethischen Wert nicht vorstellbar. Denn der Mensch, auf den sich der Wert bezieht, ist keine meßbare Größe.

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»Wert im ethischen Sinn ist eine Gestalt, in der sich die Würde des Menschen selbst ausdrückt«, definiert der Tübinger Ethiker Dietmar Mieth diesen Begriff. »Sonst könnte sich der Mensch nicht an Werten orientieren.«[17] Betrachtet man das Leben des Menschen, die Freiheit, die sozialen Beziehungen, die Solidarität, die Verantwortung für die Zukunft als Wert, dann verläßt man den Bereich, in dem man etwas berechnen oder materiell messen kann, denn hier gilt die Idee des gelungenen Lebens.

Nun haben Philosophen verschiedener Kulturkreise seit Jahrhunderten darüber gestritten, ob Werte eine subjektive oder eine objektive Grundlage haben. Doch das soll uns hier gleichgültig sein.[18] Gehen wir davon aus, daß in den Werten die Idee des Guten, Rechten, Anzustrebenden[19] liegt. Und diese Werte treten unseren individuellen Trieben und Gelüsten mit einer gewissen Autorität gegenüber. Sie erheben den Anspruch, als verbindlich anerkannt zu werden: Ohne solche Werte kann eine Gemeinschaft nicht existieren, denn sie legen die Richtlinien für das Verhalten des einzelnen in der Gesellschaft fest; sie sind mehr als Gesetze. Werte bestimmen die Moral, indem sie menschliches Handeln individueller Willkürlichkeit entziehen.

Es reicht nicht zu sagen, in den Werten stecke die Idee des Guten, ohne zu definieren, was das Gute ist, wie es die Werte durchdringt und wie diese Werte in einer Gemeinschaft das Verhalten bestimmen können. Da stellt sich uns wieder die leidige Frage der Philosophen, ob das Gute nun universell absolut sei oder nur relativ. Anders ausgedrückt, ob es nur heißt: Das ist überall auf der Welt gut – es wird nur um seiner selbst willen gewollt. Punktum! Oder ob es heißen kann: Das ist gut für etwas.

Wie dem auch sei, wir wollen hier annehmen, daß das Gute nur ein Ergebnis der Erkenntnis sein kann. Da die Erkenntnis in den verschiedenen Zivilisationen jeweils anderen kulturellen und gedanklichen Bahnen folgt, da mit den Zeiten wachsender Aufklärung auch die Möglichkeiten des Wissens größer werden, verändert sich die Ansicht von dem, was gut oder was böse ist. Die Todesstrafe für Gotteslästerer halten wir heute für barbarisch, doch für Aristoteles, den Vater der ethischen Philosophie, soll sie nur ein Teil der Tradition gewesen sein – wie übrigens auch die Sklaverei. Mit jeder Generation verändern sich die Werte.

Die einzige universelle Grundlage für das Gute kann nur in der Würde des Menschen liegen. Damit die Menschen miteinander gut in der Gemeinschaft auskommen, haben die verschiedenen Gesellschaften sich sittliche Gebote oder Verbote gegeben, die für jedes Vernunftwesen »objektiv, notwendig und allgemein gültig«[20] sind. Und wie universell diese Gedanken sind, sehen wir darin, daß sie an extrem auseinanderliegenden Orten der Welt gleichzeitig gedacht wurden und unabhängiges Ergebnis der Vernunft sind, zu Zeiten, als das alte Griechenland und Asien voneinander noch nichts wußten.

Jeder wird der Behauptung zustimmen, daß in der chinesischen Gesellschaft manch andere Werte gültig sind als in denen des Westens, dennoch beruht die Ethik auch dort auf einem universellen Moralansatz, der in der Menschenwürde gründet. Konfuzius (551–479 v.Chr.) bezeichnete dies als die göttliche Komponente des Menschen: »Der Himmel hat die Tugend geschaffen, die in mir ist.« Menzius (371–289 v.Chr.) vertiefte dessen Gedanken: Der »integre Mensch« könne vor dem Himmel und der Menschheit bestehen, ohne sich schämen zu müssen. Und wenig später erklärte Hsün-tzu die Würde des einzelnen aus der unmittelbaren Beziehung zwischen Himmel, Erde und Mensch: »Himmel und Erde bringen den integren Menschen hervor, und der integre Mensch ordnet Himmel und Erde.«[21] Allerdings sind die auf der universellen Grundlage aufbauenden Normen und Werte unterschiedlich, denn sie sind der Ausdruck der historischen, kulturellen und politischen Traditionen der jeweiligen Gesellschaft.

Gerade in den heutigen Zeiten, in denen sich medizinisch und wissenschaftlich so viel wandelt, hat ein Wert wie die Menschenwürde Hochkonjunktur. Die Menschenwürde als Motto stellte der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker im November 1992 einer großen Demonstration in Berlin voran, bei der er die Deutschen aufforderte, sich gegen die ausländerfeindlichen Gewalttaten in Deutschland zu bekennen. Und er berief sich dabei auf den ersten Satz im deutschen Grundgesetz, der da lautet: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

Die Menschenwürde war der Kernsatz, der im Winter 1992/93 Hunderttausende in vielen deutschen Städten und Dörfern veranlaßte, Lichterketten zu bilden. Die Menschenwürde wird ins Feld geführt, wenn es um das Selbstbestimmungsrecht der Frau bei der Abtreibung geht oder um das Lebensrecht des Embryos. Menschenwürde ist auch das Stichwort bei der Diskussion um das humane Sterben, und mit der Menschenwürde wird dagegen argumentiert, wenn eine hirntote Schwangere künstlich am Leben gehalten wird, damit ihr Embryo auswachsen kann.

Woraus die Würde des Menschen als ethischer Grundwert resultiert, dafür gibt es mehrere Ansätze, sei es die Mitgifttheorie, wonach die Natur (oder Gott) dem menschlichen Individuum als besondere Qualität die Würde mitgibt, sei es die Leistungstheorie, die Immanuel Kant vertritt, wonach der Mensch deswegen Würde besitzt, weil er kraft seiner Vernunft Einsicht in sittliche Notwendigkeiten hat. »Danach gewinnt der Mensch Würde aus eigenem selbstbestimmten Verhalten durch gelungene Identitätsbildung.«[22] Im Ergebnis besteht jedoch kein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Denkarten.

Die Würde des Menschen ist der Grundwert, auf dem die Bundesrepublik Deutschland aufgebaut ist, weshalb Artikel 1 Satz 1 des Grundgesetzes heißt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Und dort steht er ganz bewußt nach den Erfahrungen des Dritten Reiches, wo die größten Greueltaten in der deutschen Geschichte von Staats wegen vollzogen wurden. Geschützt ist mit Artikel 1 jeder in Deutschland lebende Mensch, nicht nur derjenige mit deutscher Staatsangehörigkeit.

Aus der Würde des Menschen leitet sich vieles ab: nicht nur die wechselseitige Achtung des Lebens, der Unverletzlichkeit und der Freiheit. In der Würde steckt auch die individuelle Identität. Allerdings betrifft die gesetzliche Regelung nur das Verhältnis des Bürgers zum Staat. Im vorstaatlichen Raum regelt die sittliche Norm den Respekt vor der Würde des Menschen, oder sollte es zumindest tun.

So diskutieren wir in der »Tagesthemen«-Redaktion bei der Entscheidung, welche Szenen wir in den Nachrichten senden, über die Würde des Menschen, die ihm über seinen Tod hinaus zusteht und geschützt werden muß. Welche Bilder eines Massakers kann man noch zeigen? Der Tote, der gefilmt worden ist, hat eine Würde, die von einem sensationsheischenden, über den Nachrichtenwert hinausgehenden Abbild verletzt wird. Aber auch die Würde des Zuschauers kann durch ein zu brutales, rein voyeuristisches Bild verletzt werden. Und manch eine Szene ist deshalb nicht gesendet worden.

Mit dem Schutz dieses Wertes argumentiert selbst der Chef des Anatomischen Instituts der Universität Innsbruck, der die wissenschaftliche Neugier an der fünftausend Jahre alten Leiche aus den Ötztaler Alpen hinter die Rechte des Menschen zurücksetzte: »Der Tote aus dem Eis ist eine Sensation, aber es handelt sich immer noch um die Leiche eines Menschen, die ein Anrecht auf Würde hat.«

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Obwohl die verschiedenen Gesellschaften sich nach ihren eigenen Werten einrichten, befolgen fast alle jenen Grundsatz, der die Goldene Regel genannt wird. Diese Regel wird sowohl positiv wie negativ formuliert: »Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.« Und: »Behandle andere so, wie du auch von ihnen behandelt sein willst.« Die Goldene Regel ist eine volkstümliche Maxime für sittlich richtiges Verhalten, und sie kommt sowohl bei Konfuzius vor als auch bei den Sieben Weisen (Thales), im indischen Nationalepos »Mahabharata« wie im Alten (Tobias 4,16) und im Neuen Testament (Matthäus 7,12).[23]

Weil sie einleuchtend ist und auch von Kindern verstanden werden kann, wird die Goldene Regel häufig in der Erziehung benutzt. Doch bei genauem Hinsehen erweist sie sich als sehr unpräzise. Ein abstruses Beispiel wird gern als Beweis für ihre Unzulänglichkeit angeführt: Wenn der Masochist andere so behandelt, wie er behandelt sein will, dann müßte er seine Mitmenschen quälen.

Genauer ist Immanuel Kants kategorischer Imperativ, den wir in der Schule gelernt und den viele schon wieder vergessen haben. In seiner ersten Formel heißt er: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.« Nun ist der Mensch schwach und folgt häufiger seinen Gefühlen und Affekten, statt so zu handeln, daß daraus ein allgemeines Gesetz werden könnte. Doch auch daran hat Kant gedacht: »Wenn wir nun auf uns selbst bei jeder Übertretung einer Pflicht Acht haben, so finden wir, daß wir wirklich nicht wollen, es solle unsere Maxime ein allgemeines Gesetz werden, das ist uns unmöglich, sondern das Gegenteil derselben soll vielmehr allgemein ein Gesetz bleiben; nur nehmen wir uns die Freiheit, für uns (oder auch nur für diesmal) zum Vorteil unserer Neigung davon eine Ausnahme zu machen.«[24]

»Gut« definiert Kant als eine Frucht der Vernunft: Praktisch gut ist, was objektiv, aus Gründen, die für jeden vernünftigen Menschen gültig sind, den Willen bestimmt.[25]

In der Philosophie klingt das überzeugend, doch in der gesellschaftlichen Praxis stellen sich sofort zahlreiche Fragen. Ist der Mensch tatsächlich ein von der Vernunft geleitetes Wesen? Wenn ja, kommen alle, wenn sie Vernunft anwenden, zu den gleichen Ergebnissen? Die Wirklichkeit sagt nein. Aber in dem Glauben an die Absolutheit der Vernunft des Menschen lag die Hoffnung, eine Utopie wie den Sozialismus verwirklichen zu können. Des einen Menschen Vernunft ist so schwach ausgebildet, wie des anderen Menschen Wille schwach ist, was bei beiden zu moralischem Versagen führt. Die Vernunft eines jeden wird auch durch seine unterschiedliche Herkunft, vom Land oder aus der Stadt, durch seinen Beruf, seine jeweils andere Erziehung – religiös oder laizistisch – und durch seine soziale Lage beeinflußt. Wenn nun jeder Mensch mit der Befähigung zur Vernunft geboren wird, woraus sich seine Würde ableitet, so ergibt sich daraus auch seine Fähigkeit zur Pflicht.

Doch genausowenig wie der Mensch mit einer ausgebildeten Vernunft auf die Welt kommt, steckt in ihm schon bei der Geburt der Kern einer Moral. Durch die Vernunft ist er zur Moral fähig, mehr nicht. Die Gesellschaft, in der er aufwächst, wird ihn mit den Werten und Tugenden vertraut machen, die sein Streben und Handeln so beeinflussen sollen, damit er ein Mensch wird, wie ihn die Gesellschaft haben will.

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Die Vernunft steht aber im Widerspruch zu dem Element, das über Jahrtausende die Moral prägte, dessen Moralvorstellungen aus der Gemeinschaft kamen und heute noch darin weitergetragen werden: Es geht um die Religion. Spätestens mit der Aufklärung entstand für das Abendland der Widerspruch zwischen Vernunft und Glauben.[26] Je mehr die Vernunft sich durchsetzte, desto stärker wandten sich die Menschen von jenseitsorientierten Religionen ab, verloren Gottesfurcht und Angst vor Strafen.[27] Die erste Angst, die Kindern einst eingebleut wurde, war die vor der verbotenen Frucht. Es war das Verbot vor der Vernunft, vor Erkenntnis!

Nicht nur der Kirchenbesuch, ja die Zugehörigkeit zu einer Kirche (und damit verbunden die Kirchensteuer!) sind laut Statistik dramatisch gesunken, sondern auch der Glaube an religiöse Autoritäten. Sogar der Glaube an die Zehn Gebote – und ihre Kenntnis – haben im Zeichen des Wertewandels (fast erschreckend) abgenommen. »Natürlich spielt Gott noch eine bedeutende Rolle in der Moral«, schreibt Émile Durkheim: »Er verschafft ihr Respekt, und er unterdrückt die Verletzung. Moralverletzungen sind Gottverletzungen. Aber er ist nicht mehr ihr Wächter. Moraldisziplin ist nicht mehr für ihn eingesetzt, sondern für den Menschen.«[28]

Die beiden großen christlichen Kirchen reagieren auf die Folgen, die der Werteverlust für sie hat, hektisch und unüberlegt. Rom zieht sich in den Fundamentalismus zurück, und so schrumpft in den westlichen Ländern die katholische Gemeinde weiter. Die Protestanten versuchen, das Gute naiv, nämlich populistisch, vor sich herzutragen. Doch in den letzten Jahren kamen die evangelischen Gemeinden in große Konflikte: weiße Bettücher für den Frieden im Golfkrieg, Schweigen im Gemetzel des zerbrechenden Jugoslawien, Kirchenasyl für Ausländer, aber Zurückhaltung bei der Aufnahme ausländischer Kinder in Kirchenkindergärten – weil sonst die »deutsche« Gemeinde rebelliert!

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Die Werte, die sich aus der Würde des Menschen ergeben, finden wir in den drei Begriffen wieder, die als Motto über der Französischen Revolution standen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. In Freiheit befinden sich Unterbegriffe wie Sicherheit, Verantwortung, Toleranz, vielleicht auch Bescheidenheit oder Besonnenheit. Gleichheit hat mit Gerechtigkeit zu tun, während Brüderlichkeit das bedeutet, was vormals Barmherzigkeit war und heute als Solidarität bezeichnet wird. Dies, so meine ich, sind die Grundwerte, auf die sich jeder verpflichten muß; allerdings wird es immer Konflikte um die Auslegung dieser Termini geben.

Solchen Konflikten darf die Gesellschaft jedoch nicht ausweichen. Sie sind weder gefährlich noch zerstörerisch, wie erzkonservativ Denkende meinen, sondern sie entsprechen einer modernen Demokratie. Und wenn sie sinnvoll geführt werden – was leider nicht immer der Fall ist –, dann bringen gerade diese gesellschaftlichen Konflikte von selbst die Bindungen hervor, durch die der Bürger die Grundwerte als notwendigen Zusammenhalt seiner Gesellschaft akzeptiert.

Der Wertekanon einer modernen Gesellschaft ist sehr viel länger als hier angeführt. Und je nachdem, ob man katholisch, protestantisch, jüdisch, sunnitisch oder agnostisch ist, ob man sich als Vegetarier, Asket oder Gourmet verwirklicht, ob man Bayer oder Berliner, Türke oder Japaner ist oder als Seemann, Bauer oder Bankier auf dem Meer, dem Land oder in der Stadt arbeitet oder gar als Privatier oder Aussteiger das Leben genießt, so richtet sich jeder nach den Wertvorstellungen ein, die ihm wichtig sind. Aber, könnte man da nicht sagen, es hält sich eben jeder an seine eigenen Werte? Ja. Und damit stellt sich die Frage, ob es nicht subjektive Werte sind, die, weil sie nur der individuellen Befriedigung dienen, aus dem ethischen Rahmen herausfallen.

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Zwei nah beieinanderliegende Begriffe werden in der öffentlichen Diskussion immer wieder verwendet, doch sie führen, wenn sie nicht sorgfältig auseinandergehalten werden, zu weiterer Verwirrung: Werteverlust und Wertewandel. Unter Werteverlust verstehen wir, daß der Einfluß der Werte abnimmt. Mit Wertewandel ist eine Verschiebung der Inhalte von Werten gemeint: Alte Werte gehen verloren, neue treten an ihre Stelle.

Den Wertewandel hat in der Wissenschaft der Sozialforscher Ronald Inglehart mit einer in den siebziger Jahren durchgeführten Untersuchung zum ersten Mal weitläufig beschrieben. Ihm schlossen sich auch in Deutschland zahlreiche Untersuchungen und Berichte an.[29] Der Wertewandel, den Ronald Inglehart ausmachte, fand Ende der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre statt und war dann abgeschlossen. Die These Ingleharts lautet: Ein grundsätzlicher Wandel von Werten habe stattgefunden, weil die junge Bevölkerung Werte wie »berufliche Leistung«, »Pflichtgefühl«, »Konventionalität«, »Konformismus« gegen neue, emanzipatorische, partizipatorische und hedonistische Werte ausgetauscht oder in ihrer Geltung eingeschränkt habe.

Ende der achtziger Jahre ist Ingleharts Ansatz durch andere Arbeiten relativiert worden: Bestätigt wird zwar ein Wertewandlungsschub in der Periode zwischen den sechziger Jahren und Mitte der siebziger Jahre, dennoch werden die Folgerungen Ingleharts relativiert und um das Ergebnis erweitert, daß »ein unverändert hoher Konsens über die Bedeutsamkeit der ›Grundwerte‹ Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Frieden und Sicherung der physischen Existenz« besteht. Allerdings ist diese Erkenntnis nur mit großen Einschränkungen richtig. Ein hoher Konsens mag zwar vorhanden sein, doch heißt das noch lange nicht, daß sich die Gesellschaft auch nach diesem Konsens richtet.[30]

Erstarkt sind während der Periode des Wandels die Werte der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, zurückgefallen jene, die das Verhalten des Menschen von außen beeinflussen: Pflicht, Askese, Fremdbestimmung. Auch die Arbeit hat in dieser Zeit ihre zentrale Bedeutung für das eigene Leben verloren. Jetzt ist bei der Berufsauswahl nicht mehr allein der materielle Erfolg ausschlaggebend – das heißt: so hoher Lohn wie möglich –, sondern »postmateriell« entscheidet der einzelne, ob er lieber ein bißchen weniger verdient, dafür aber Spaß an der Arbeit hat. Die zunehmende Freizeit, verbunden mit Wohlstand, der einem immer mehr Vergnügen erlaubt, die Verringerung des Einflusses von Staat und Kirche und schließlich das Ende des ideologischen Drucks haben privatistischen Lebensmaximen mehr Gewicht gegeben. Hinzugesellt haben sich – durch die fortschreitende Aufklärung – neue Werte: die Ökologie und die Verantwortung für die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Zukunft.[31]

Der Ehrliche ist der Dumme

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