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Wertewandel und Werteverlust Weshalb noch Normen?
ОглавлениеDie Entfernung verzeichnet ein Bild ins Grobe; Feinheiten verschwimmen; nur Umrisse bleiben sichtbar; sie aber zeigen das Wesentliche. Beginnen wir deshalb weit weg, in einem Erdteil, der uns scheinbar wenig betrifft – im fernen Asien –, in China, dort, wo Laotse und Konfuzius lebten, die uns so viele Aphorismen hinterlassen haben. Dort, wo in diesem Jahrhundert Mao hundert Blumen blühen ließ und Deng anschließend den Weg aus der Ideologie zur Marktwirtschaft wies, ohne aber der Freiheit wesentlich mehr Raum zu geben.
Im Herbst 1993 reiste Lee Kuan Yew, der Staatsgründer und langjährige Ministerpräsident von Singapur, nach China und hielt in dem kleinen Ort Chü Fu, wo vor zweitausendfünfhundert Jahren der heute noch für seine Weisheit in Staatskunst und Gesellschaftspolitik verehrte Konfuzius lehrte, eine Rede über den Westen und die Bedeutung gesellschaftlicher Werte. Lee sagte, China müsse sich entscheiden, wie schnell es wirtschaftlich wachsen, welche traditionellen Werte es bewahren und welche es abwerfen wolle. Denn Länder, die sehr schnell emporschössen, industrialisiert und modern würden, liefen stets Gefahr, einen Teil ihrer alten sozialen Strukturen zu verlieren. »Man muß immer einiges von dem Alten abstreifen, wenn man sich Neuem zuwendet«, erklärte Lee, »wenn aber die grundlegenden gesellschaftlichen Strukturen nicht mehr geachtet werden, dann verliert die Gesellschaft ihre Wurzeln und verfällt.« Wie Konservative es gern tun, so forderte Lee dazu auf, die alten Familientraditionen zu wahren: »Das Grundproblem im Westen ist«, sagte er, »daß man dort glaubt, der wirtschaftliche Fortschritt dauere an, so daß es für Familien nicht notwendig sei, Kinder aufzuziehen – der Staat und die Regierung würden sich um sie kümmern; was ich für ein großes Risiko halte, denn noch keine Zivilisation hat das über einen langen Zeitraum hinweg mit Erfolg erprobt.«
Auch wenn man vom Osten in den Westen schaut, gilt der Satz, daß die Entfernung ein grobes Bild zeichnet. Außerhalb Chinas bestehen in Asien drei aus Kolonien hervorgegangene Gesellschaften, deren Wirtschaft und Kultur chinesisch geprägt sind: Hongkong, Taiwan und Singapur. Hongkong ist am meisten vom Westen beeinflußt, Singapur am wenigsten, und das dank der »Einsichten« von Lee Kuan Yew. Singapur, so Lee, werde sich nie in eine liberale, westliche Gesellschaft, ähnlich der in Großbritannien oder in den Vereinigten Staaten, verwandeln. Falls dies dennoch geschähe, würde Singapur »in der Gosse landen«: »Wir hätten mehr arme Menschen in den Straßen, die im Freien schliefen, wir hätten mehr Drogen, mehr Verbrechen, mehr unverheiratete Mütter mit kriminellen Kindern, eine verunsicherte Gesellschaft und eine schlechte Wirtschaftslage. Die Schüler würden den Unterricht nicht mehr ernst nehmen. Sie würden ihren Lehrern nicht zuhören.«
Diese bisher unbekannte Herablassung gegenüber den europäisch geprägten Ländern sollte man nicht unterschätzen. Die von den westlichen Industriestaaten vorgenommene Aufteilung in Erste, Zweite und Dritte Welt galt während des Konflikts zwischen Kapitalismus und Kommunismus, während des Kalten Krieges, doch diese Kategorisierung ist längst überholt. Diese Einteilung wiegt politisch genauso wenig wie der Besitz der Atombombe, der nicht mehr das Gewicht eines Landes bestimmt, wie noch zu jenen Zeiten, als die Abschreckung notwendig war.
In den neuen Zeiten bekommen Wirtschaft und Zivilisation plötzlich eine ungeahnte Bedeutung. Es wird wahrscheinlich nicht so drastisch kommen, wie es der Harvard-Professor Samuel P. Huntington in seiner Studie »Zusammenstoß der Zivilisationen?«[2] vorhersagt; dennoch werden die kulturellen Unterschiede der verschiedenen Zivilisationskreise – westlich, konfuzianisch, japanisch, hinduistisch, slawisch-orthodox, lateinamerikanisch, afrikanisch – an Bedeutung gewinnen, weil die einzelnen Weltregionen wirtschaftlich erstarken und in politischen Wettbewerb zu der einst herrschenden Zivilisation des Westens treten werden.
Um zu überleben, so Lee, müßten die Bürger von Singapur in diesem Wettbewerb mithalten, und dazu benötigte Singapur Kinder, die willig seien zu lernen, die produktive und kooperative Arbeiter würden, die einen angemessenen Teil am Gewinn ihres Unternehmens verdienten.[3] Das Gesellschaftsziel scheint für Lee im wirtschaftlichen, also materiellen Erfolg zum einen und in sozialer Disziplin zum anderen zu liegen.
Wer nach Singapur reist, der kann diesen Erfolg besichtigen. Der Erhalt der Ordnung ist sogar wichtiger als die Wahrung der Menschenrechte. Die Regulierungswut geht weit: So ist es verboten, mit Hilfe einer Satellitenschüssel ausländische Fernsehsender zu empfangen. Bestraft wird, wer in öffentlichen Toiletten die Spülung nicht betätigt, wer eine Zigarette auf die Straße wirft oder um Zentimeter falsch parkt. Einem Politiker, der sich bestechen läßt, wird der seidene Schal zugeschickt, damit er sich nach alter Tradition selbst erhänge. Und bei Rauschgiftschmuggel oder »Vandalismus« ist zwingend die Auspeitschung vorgeschrieben. Zu sechs Hieben mit dem »Rotan«, der 120 Zentimeter langen, 1,3 Zentimeter dicken Peitsche, wurde 1994 der achtzehnjährige Amerikaner Michael Peter Fay verurteilt, weil er in Singapur Autos mit Farbe besprüht und getreten hatte. Die Strafe ist äußerst brutal, doch die von den Eltern von Michael Peter Fay in den USA veranstaltete Kampagne dagegen hatte kaum Erfolg: Vielmehr wollten die meisten Amerikaner derlei auch in ihrem Land einführen, vielleicht gäbe es dann in New York und anderen großen Städten weniger Verbrechen. »Wer recht hat oder unrecht, das wird die Geschichte zeigen«, sagte Lee in Chü Fu und fügte hinzu: »Aber ich glaube, ich habe recht.«
Überzeugt, richtig zu denken, haben asiatische Länder das Kürzel NDC, mit dem sie vom Westen als »newly developing countries« (neu sich entwickelnde Länder) bezeichnet werden, für die alten Industrienationen süffisant umformuliert. Sie nennen den Westen jetzt auch NDC, was für sie jedoch bedeutet: »newly decaying countries« (neu verfallende Länder).
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Vier kleine Zeichnungen, gedruckt in den wichtigsten Tageszeitungen der USA, dem zivilisatorischen Vorreiterland der »newly decaying countries«, zeigen einen Schüler, der so denkt, wie es einem westlichen Land entspricht, in dem die gesellschaftlichen Werte durcheinandergeraten sind.
In dem Comic strip »Calvin and Hobbes« geht ein Erstkläßler zu seiner Lehrerin, baut sich vor ihrem Schreibtisch auf, hält ihr ein Stück Papier hin und sagt im ersten Bild: »Miß Wormwood, ich möchte, daß Sie diesen Vertrag unterzeichnen.«
Im zweiten Bild erklärt der Schüler: »Es ist eine Vereinbarung, wonach Sie mir einen Ausgleich für jeden Verdienstausfall zahlen, den ich als Erwachsener wegen schlechter Volksschulerziehung erleiden könnte.«
Drittes Bild: Die Lehrerin beugt sich vor und weist mit dem Zeigefinger auf den Knaben: »Wenn du nichts lernst, liegt es an deiner Faulheit, nicht an mir. Geh zurück auf deinen Platz!«
Im vierten Bild sitzt der Knabe zornig auf seinem Stuhl, stiert auf das Pult und meint: »By Golly, irgend jemand muß doch zahlen, wenn ich nichts lerne.«[4]
So drückt der Comic-Zeichner aus, wie heute gedacht wird. Die Lehrerin repräsentiert die Gesellschaft. Nach Ansicht des Schülers muß die Gesellschaft für seine Faulheit eintreten. Nicht er ist für sich selbst verantwortlich, sondern die Gesellschaft. Sie muß alles für ihn tun, weil er keine Lust zum Lernen (Arbeiten) hat. Da verweigert sich der Erstkläßler – als pars pro toto – nicht nur gegenüber der Gesellschaft, sondern zunächst gegenüber sich selbst. Er nimmt eine als anonym empfundene Allgemeinheit für seine individuellen Bedürfnisse in Anspruch, will aber keine Verantwortung für sich selbst, geschweige denn für andere – wie es das Leben in einer Gesellschaft erfordert. Das Verhalten des Schülers ist charakteristisch für die extrem von Egoismus und Hedonismus geprägte westliche »Überfluß«-Gesellschaft.
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»Es gibt Leute, vor denen man sich ekelt«, mit diesen Worten begann ich in den »Tagesthemen« die Moderation zu einem Tabuthema aller westlichen Gesellschaften: Sex mit Kindern. Leute, die Kinder mißbrauchen, so stellte sich in der Sendung heraus, sind keine Monster, sondern scheinbar ganz normale Bürger, der Mann oder die Frau von nebenan. Keine Scham bremst sie, sich an den Kleinen zu vergreifen. Keine Tugend veranlaßt die anderen, einzugreifen, wenn sie davon erfahren.
Jedes vierte Kind, so sagen Fachleute, wird mißbraucht, doch meist schauen die Eltern oder die Verantwortlichen weg, wenn es passiert, weil ihnen dieser ungeheure Moralbruch peinlich ist. Es sei denn – sie sind selbst an der Untat beteiligt.
Im Frühjahr 1994 wurde eine Gruppe von zwanzig Männern und Frauen im mittelfränkischen Flachslanden wegen Kinderschändung vor Gericht gestellt. Über Jahre hinweg hatten sie neun Kinder sexuell mißbraucht. Die Eltern selbst hatten ihre Söhne und Töchter im Alter von zwei bis zwölf Jahren für brutale Orgien zur Verfügung gestellt. Und als bei einem Kindergeburtstag die Kleinen von Erwachsenen vergewaltigt wurden, hielten die Eltern den schreienden Opfern den Mund zu, damit die perversen Handlungen mit einer Videokamera aufgezeichnet werden konnten. Verhalten die Eltern sich so, weil die Werte verfallen sind? fragt sich da der Bürger, der doch von »so etwas Ekligem« weit entfernt ist.
In Rostock steckten Jugendliche ein Ausländerheim an. Die Polizei hat zugesehen; die Bewohner des Ortes griffen nicht ein, sie haben die Gewalttäter eher noch ermutigt. In Mölln und in Solingen zündeten junge Männer nachts die Wohnhäuser türkischer Bürger an – Frauen und Kinder kamen dabei um. Auch damit hat der durch diese Nachrichten erschreckte Bürger nichts zu tun. Wirklich nicht?
Da hat sogar der ehemalige Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, Pater Basilius Streithofen, öffentlich gedonnert, die Juden und die Polen seien die größten Nutznießer des deutschen Steuerzahlers. Wenn ein Mann von solch gesellschaftlicher Stellung – Geistlicher und Kanzlerberater – so hetzt, darf sich dann der Normalbürger nicht an diesem Vorbild ausrichten? Es wurde Klage gegen Basilius Streithofen erhoben, der Pater wurde verurteilt, zahlte eine Buße und schwor, derlei öffentlich nicht mehr von sich zu geben.
Aber wenn man es auch nicht an die große Glocke hängt, so denkt doch manch einer: Mit den Ausländern gibt es tatsächlich »Probleme«. Das sagen Väter und Mütter am Abendbrottisch, an dem Halbwüchsige sitzen, die – vielleicht im Rausch – dann irgendeines dieser »Probleme« mit dem Zündholz lösen wollen. Denn viele von ihnen haben nicht gelernt, mit Problemen umzugehen. Ihnen fehlt das soziale Rüstzeug. Ihnen fehlen Wertorientierungen, die ein von der Gesellschaft gebilligtes Wollen und Handeln vorgeben; ihnen fehlen von der Gemeinschaft aufgestellte Schranken, die sie vor Brandanschlägen, vor Mord oder Totschlag zurückschrecken lassen.
***
Das ist, meint der Durchschnittsbürger, nicht meine Welt. In welcher Welt aber lebt er, der als normal bezeichnete Bürger? Da wird gemeldet: »Bürgermeister, Landräte und Kommunalbeamte genehmigten sich drei Jahre lang mehr als das Doppelte der ihnen zustehenden Gehälter.«[5] Das war kein Einzelfall, sondern es waren acht Landräte, 42 Bürgermeister und 68 kommunale Beigeordnete in Sachsen, fast alle Mitglieder der Christlich Demokratischen Union, die sich bis zum Zweieinhalbfachen der üblichen Gehälter auszahlen ließen. Trotz einer Rüge des Bundesrechnungshofes erklärte ein Sprecher des sächsischen Finanzministeriums: »Sehr ärgerlich, doch machen kann man da wohl nichts.«
Diese Herrschaften haben sich verhalten wie der Erstkläßler in dem Comic strip: Sie nehmen das Geld der anonym empfundenen Allgemeinheit für ihre individuellen Bedürfnisse in Anspruch. Und die Öffentlichkeit hat sich damit abgefunden, daß viele von denen, die nah an der Staatskasse sitzen, sich soviel wie möglich zu eigenen Gunsten auszahlen lassen, so als sei der Staat eine Gelddruckmaschine. Das Image der ehrlichen, hart arbeitenden Politiker, von denen es mehr gibt, als die Öffentlichkeit erfährt, ist längst in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Bürger könnten die sich selbst bedienenden Politiker zu ethischem Verhalten zwingen, indem sie bei Wahlen dieses gesellschaftsschädigende Verhalten abstrafen. Doch dann – so stellen sie bei genauerer Analyse resigniert fest – erlaubt ihnen die politische Wirklichkeit wegen des Wahlrechts und des Parteiengefüges kaum eine Alternative. Also nehmen sie hin, was geschieht.
Das Streben nach Geld, nach einem materiellen Wert, läßt schließlich auch den vermeintlich unbescholtenen Bürger seine ideellen Werte vergessen. Auf der gesellschaftlichen Skala der angesehenen Personen stehen Professoren als Vorbilder im Staat weit oben. Doch was verbreitet der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes? In Deutschland gebe es immer mehr Doktores, die ihren akademischen Titel zu Unrecht trügen. »Die Eitelkeiten und Karrieregelüste einer zahlungskräftigen Klientel«[6] haben früher schon manchen – dafür von anderen belächelten – Menschen dazu verführt, sich einen ausländischen Titel zu kaufen, doch inzwischen bieten einige hundert deutsche »Promotionsberater« ganz offiziell Mithilfe bei der Doktorarbeit an, für bis zu 150000 Mark. »Verständnisvolle« Hochschulprofessoren an deutschen Universitäten sind bereit, die Dissertation eines »privaten Spenders« weniger genau zu prüfen als die eines ehrlichen Studenten. Und was Professoren recht ist, ist Rechtsanwälten billig: Eine schriftliche Arbeit für das juristische Staatsexamen kann man sich gegen Bezahlung schreiben lassen.
Auch in diesem Bereich erleben wir das Versagen der Vorbilder. So ruft der Deutsche Hochschulverband nun diesen in der Gesellschaft herausragenden Personenkreis nicht etwa zu ethischem Verhalten auf, sondern geht den einfacheren Weg und fordert andere Prüfungsordnungen. Würde man die »verständnisvollen« Hochschullehrer dazu bewegen, zum ethischen Handeln von einst zurückzukehren – mit all den Einsichten und Pflichten, die daraus folgen –, würden sie den Mißbrauch aus eigener Einsicht einstellen. Ändern die Universitäten aber nur die Prüfungsordnungen, dann wird, wer auf Geld aus ist, Wege suchen und finden, um die neuen Verfügungen zu umgehen und weiterhin unethisch zu handeln.
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»Irgend jemand muß doch zahlen«, denkt der Erstkläßler im Comic strip, der den normalen Bürger verkörpert, und irgend jemand zahlt immer. Die Deutschen sind die »Weltmeister« im Reisen. In den einsamsten Tälern Nepals trifft man sie, im Dschungel von Guyana, in Thailand, auf den Philippinen ... Und weil man nie weiß, was einem unterwegs widerfährt, versichert man sich. Rund siebzehn Mark kostet eine Auslandsreise-Krankenversicherung. Und dann sitzt der gesunde, versicherte Reisende an der Theke in Bangkok. Dort bietet der Barkeeper, der seine deutschen Pappenheimer schon kennt, für dreihundert Mark Arztrechnungen an: »Diagnose: Magen- und Darminfektion. Aufenthaltsdauer: acht Tage. Ort: Thai-White-Star-Hospital. Gesamtbetrag 2800 Mark.« Die Klinik ist erfunden, solche Rechnungen wurden dennoch an Versicherungen geschickt.
Ein deutsches Ehepaar legte gleich zwei Rechnungen von den Philippinen vor, wo sie angeblich zur gleichen Zeit in zwei verschiedenen Krankenhäusern stationär behandelt worden waren. Der Sachbearbeiter der Versicherung wurde jedoch stutzig, als er auf die Landkarte schaute und feststellte, daß die Hospitäler tausend Kilometer auseinander lagen. Ein anderes Paar kam sich noch schlauer vor: Es hatte bei dreizehn privaten Krankenkassen Reiseversicherungen abgeschlossen und bei allen die gleichen gefälschten Belege über 70000 Mark eingereicht. Hätte der Coup funktioniert, wären die beiden fast Millionäre geworden.
So geht es auch anderen Versicherern: ein Pizzabäcker in Südwestdeutschland hatte seiner Frau ein Auto im Wert von 150000 Mark gekauft und vollkasko versichert. Dreimal widerfuhr ihm Pech, dreimal wurde das Auto geklaut, dreimal wollte er kassieren; doch beim letzten Fall stellte sich heraus, daß er zuvor einen Nachschlüssel zu dem Wagen hatte anfertigen lassen. Ein Einzelfall? Keineswegs.
In Deutschland wurden 1992 rund 131000 Autos im Wert von 1,3 Milliarden Mark gestohlen, doch es sind weniger Diebe unterwegs, als diese Zahl vermuten läßt. Das Bundeskriminalamt schätzt den Anteil der vorgetäuschten Diebstähle auf dreißig bis fünfzig Prozent. Mit einer halben Million Betrugsfälle im Jahr rechnen die deutschen Autoversicherer, was die Taschen der betrügerischen Bürger um zwei bis vier Milliarden Mark füllt. Die Privathaftpflicht scheint manch einer als Zusatzeinkommen anzusehen, denn bei den Schadensmeldungen schätzt der zuständige Referent eines Versicherungsunternehmens die Betrugsversuche auf achtzig Prozent.
Nach einer Studie der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung, publiziert im Juli 1994, hat jeder vierte seine Privathaftpflicht schon einmal betrogen. Davor schreckt kaum jemand zurück, selbst diejenigen nicht, die sich als Verteidiger der Tugenden empfinden und den Benimm im Panier führen. Wenn etwa beim Kaisercorps Borussia in Bonn die Mannschaft wieder einmal über das Maß gebechert hat, dann tritt schon mal ein Sturzbetrunkener mit Gewalt eine Tür ein. Kaisercorps nennen sich die Borussen, da dort während des Kaiserreichs der Kronprinz Corpsbruder war, und heute noch fühlt sich diese Studentenschaft als edelste von allen. Eine mutwillig demolierte Tür, so berichtet ein Corpsmitglied, wird aber auch bei ihnen ein Fall für die Versicherung.
Der Betrug ist inzwischen ein Gesellschaftsspiel geworden, von dem man meint, man schade niemandem, höchstens den Versicherungen, denen man ohnehin »kriminelle« Machenschaften nachsagt. Und vom Hilfsarbeiter bis zum Professor sind alle gesellschaftlichen Gruppen bei diesem Spiel vertreten. Das Freiburger Max-Planck-Institut erforschte, daß Versicherungsbetrüger häufig über Abitur und weiterführende Ausbildung verfügen – die kaufmännischen Berufe sollen sogar besonders häufig vertreten sein.
Betrug ist ein strafrechtlicher Tatbestand, dennoch kommen die meisten Versicherungsbetrüger ungeschoren davon, selbst wenn ihre Schadensmeldung als falsch auffliegt. Die Versicherungsfirmen wollen ihre Kunden nicht vergrätzen, und schließlich wird aus dem Versicherungsaufkommen gezahlt, also kostet es das Geld der Gemeinschaft der Versicherten, aber nicht des Unternehmens. Da andere zahlen, ist auch der Versicherungsgesellschaft am ethischen Verhalten ihrer Kunden nur wenig gelegen. Wer sich aber gemäß den Normen verhält, wird bestraft, denn er zahlt für seine Police einen unnötig hohen Betrag – und damit für den Betrug der anderen.
So stellt die Gesellschaft eine neue Spielregel auf: Der Ehrliche ist der Dumme.