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Оглавление1.1 Ein römisches Testament aus dem Jahr 142 n. Chr.
Im Jahr 1940 veröffentlichten die französischen Papyrologen Octave Guéraud und Pierre Jouguet ein römisches Testament. Es bildet bis heute das einzige, fast vollständig überlieferte Exemplar eines original römischen Testaments auf Wachstäfelchen:
Antonius Silvanus eques alae primae
Thracum Mauretanae, stator praefecti,
turma Valeri, testamentum
fecit. Omnium bonorum meorum
castrensium et domesticum
Marcus Antonius Satrianus
filius meus ex asse mihi heres
esto. Ceteri alii omnes exheredes
sunto. Cernitoque hereditatem
meam in diebus centum proximis. Ni
ita creverit, exheres esto. Tunc
secundo gradu (Marcus?) Antonius
R………………… lis frater
meus mihi heres esto cernitoque
hereditatem meam in diebus
sexaginta proximis. Cui do lego, si mihi
heres non erit, denarios argenteos septingentos
quinquaginta. […]
[…] Do lego Anthoniae Thermutae
matri heredis mei supra scripti denarios argenteos
quingentos. Do lego praefecto meo
denarios argenteos quinquaginta. […]
Hoc testamento dolus malus abesto. Familiam pecuniamque
testamenti faciendi causa emit Nemonius
duplicarius turmae Mari, libripende Marco Iulio
Tiberino sesquiplicario turmae Valeri,
antestatus est Turbinium signiferum turmae
Proculi. Testamentum factum
Alexandreae ad Aegyptum in castris Augustis
hibernis legionis Secundae Traianae Fortis
et alae Mauretanae, sextas kalendas
Apriles Rufino et Quadrato consulibus. […]1
Antonius Silvanus, Reiter der ersten mauretanischen Reiterabteilung
von Thrakern, Gehilfe des Präfekten,
Zug des Valerius, hat sein Testament
gemacht: Über mein gesamtes Vermögen,
das im Lager befindliche und das häusliche,
soll mein Sohn Markus Antonius Satrianus
mein Alleinerbe sein.
Alle übrigen anderen sollen enterbt
sein. Und er soll meine Erbschaft
in den nächsten 100 Tagen förmlich antreten. Wenn er sie nicht
auf diese Weise angetreten hat, soll er enterbt sein. Dann
soll in zweiter Linie (Marcus?) Antonius
R ………., mein Bruder (oder Cousin),
mein Erbe sein und er soll
meine Erbschaft in den nächsten 60 Tagen
förmlich antreten. Diesem vermache ich mittels Vindikationslegat, wenn er
nicht mein Erbe sein wird, 750
Silberdenare. […]
[…] Ich vermache mittels Vindikationslegat der Antonia Thermutha,
der Mutter meines oben eingetragenen Erben,
500 Silberdenare. Ich vermache mittels Vindikationslegat meinem Präfekten
50 Silberdenare. […]
Diesem Testament soll Arglist fern sein. Das gesamte Vermögen
hat, um ein Testament zu errichten, Nemonius,
Vorreiter vom Zug des Marius, gekauft, während Markus Julius Tiberinus Waaghalter war,
Untervorreiter vom Zug des Valerius,
er hat Turbinius zum Zeugen angerufen, den Fahnenträger des Zugs des
Proculus. Das Testament wurde
in Alexandria bei Ägypten in den kaiserlichen
Winterlagern der Zweiten Trajanischen Legion, der Tapferen,
und der mauretanischen Reiterabteilung am 27. März 142 n. Chr.
unter dem Konsulat des Rufinus und des Quadratus errichtet. […]
Das hier nur auszugsweise wiedergegebene Testament des Antonius Silvanus vom 27. März 142 n. Chr. zeigt die minutiöse Planung des Erblassers: Es beschränkt sich nicht auf die Einsetzung eines Erben, sondern bestimmt auch einen Ersatzerben für den Fall, dass der eingesetzte Erbe nicht antreten will oder kann, und setzt Vermächtnisse aus. Das einmalige Zeugnis gewährt einen Einblick in die römische Testierpraxis und damit in das wichtigste Dokument, das ein Römer im Laufe seines Lebens errichten konnte. Obwohl zweifelhaft ist, ob der Testator in diesem Fall überhaupt das römische Bürgerrecht hatte, folgt sein Testament erkennbar den Vorgaben, die das im 2. Jahrhundert n. Chr. geltende römische Recht für die Errichtung von Testamenten vorsah. Die Regeln der Testamentserrichtung sowie die Rechtsfolgen, die ihre Nichtbeachtung zeitigen, ergeben sich aus dem Erbrecht als dem Teil des Vermögensrechts, der die Übertragung des ‚Pflichtenlebens‘ nach dem Tod des Inhabers regelt. Die für Rom gültigen erbrechtlichen Regeln lassen sich aus den Schriften der römischen Juristen erschließen.
Genauso wie die römischen Testamente sind jedoch auch die Juristenschriften weder unversehrt noch vollständig erhalten. Die Hauptquelle des römischen Juristenrechts aus der Zeit vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. bildet eine als Gesetzgebungswerk konzipierte Sammlung der römischen Rechtsquellen durch den byzantinischen Kaiser Justinian I. (527 – 565 n. Chr.).
1.2 Quellen des römischen Erbrechts
Im Rahmen seines Programms der Wiederherstellung der territorialen und rechtlichen Reichseinheit ließ Kaiser Justinian Auszüge aus den römischen Juristenschriften und der Gesetzgebung der römischen Kaiser anfertigen, um sie als eigenes Gesetzbuch zu verkünden. Da sich dieses Gesetzbuch wesentlich auf die Wiederverwertung der römischen Rechtstradition stützt, wird die Sammlung Justinians auch als Kompilation bezeichnet (von compilare, wörtlich „ausrauben“, „ausplündern“). Seit der Neuzeit hat sich – in Abgrenzung vom kirchlichen Recht (Corpus iuris canonici) – der Name Corpus iuris civilis durchgesetzt.
Den ersten Teil der Kompilation bildet ein Lehrbuch des Kaisers Justinian für den juristischen Anfänger, das den Titel Institutiones (instituere = „beginnen; unterrichten“, davon Institutiones = „Anweisungen, Unterricht“) trägt. Der zweite Teil, Digesta, besteht aus verschiedenen Ausschnitten (Fragmenten) aus den Schriften der Juristen des 1. Jahrhunderts v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. Der dritte Teil, Codex, erfasst die Rechtsanordnungen (Konstitutionen) der Kaiser seit Hadrian (117 – 138 n. Chr.) bis zu Diokletian (284 – 305 n. Chr.), berichtet also über die kaiserliche Rechtssetzung der Zeit vom 2. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. Der Codex ist lediglich in einer zweiten, überarbeiteten Fassung überliefert. Erst der vierte Teil der Kompilation ist ein eigenes Werk Kaiser Justinians. Es handelt sich um Rechtsanordnungen, die Justinian zur Reformierung des überlieferten römischen Rechts erließ. Sie werden entsprechend ihrer reformatorischen Intention als Novellen (Novellae – von novus = „neu“) bezeichnet und sind zumeist in griechischer Sprache überliefert.
Übersicht 1: Corpus iuris civilis
Den für die Kenntnis des antiken römischen Rechts wichtigsten Teil der justinianischen Kompilation bilden die in den Digesten gesammelten Auszüge aus den Juristenschriften. Der Name Digesta (von digerere = „zerteilen, ordnen“) wird schon von den römischen Juristen für ihre Schriften verwendet; er bezeichnet eine nach Themen geordnete Sammlung der von einem Juristen erteilten Rechtsauskünfte und Rechtsentscheidungen. Das griechische Pendant Pandectae (pandectes – „das alles in sich Fassende“) betont dagegen den umfassenden Charakter der Sammlung. Beide Bezeichnungen des justinianischen Werkes deuten auf den Zweck der Kompilation hin: Sie sollte erschöpfend über den Stand des Rechts informieren. Ihr Ziel war es, den Rechtsunterricht und die Rechtspraxis zu Justinians Zeit auf eine einheitliche und autoritative Basis zu stellen.
Diesem Zweck entsprach auch der Auftrag, den Kaiser Justinian (527 – 565 n. Chr.) der für die Digestenkompilation eingesetzten Kommission von juristischen Experten erteilte: Sie sollte die Auswahl aus den verfügbaren Juristenschriften so vornehmen, dass die jeweils treffendste Formulierung für eine Rechtsaussage gewählt und unnötige Wiederholungen gestrichen würden. Gleichzeitig sollten Widersprüche beseitigt werden, also insbesondere Berichte über Kontroversen zwischen einzelnen römischen Juristen gestrichen werden. Das so ausgewählte Material sollte in 50 Bücher eingeteilt sein, die ihrerseits in (sachlich geordnete) Titel untergliedert werden sollten. Diese Ordnung strebte eine Verbesserung der Zugänglichkeit zum Recht und eine Rechtsvereinheitlichung an. Der Preis für diese Harmonisierung war der Verlust eines Großteils des Ausgangsmaterials: Von Kaiser Justinian selbst erfährt man auch, dass nur etwa 5 % der Juristenschriften in die Digesten aufgenommen wurden. Das Übrige ist dagegen nahezu vollständig verloren gegangen.
Die ursprüngliche Fülle des Ausgangsmaterials lässt sich noch aus den Inskriptionen (von inscriptio = „Überschrift, Titel“) ablesen, welche die Kompilatoren den Auszügen vorangestellt haben. So stehen über jedem Fragment, das Aufnahme in die Digesten gefunden hat, der Name des Juristen, aus dessen Schriften das Fragment entnommen wurde, sowie der Titel des Werkes, meist unter Angabe der Buchnummer oder der Nummer der Papyrusrolle, auf der sich die Ausführungen befanden. Die Inskription gibt damit Aufschluss über den Urheber sowie den Anlass und die Entstehungszeit des durch Justinian überlieferten Textes und erlaubt oftmals eine Hypothese über den ursprünglichen Kontext der juristischen Aussage.2
1.2.1 Beispiel eines Digestenfragments
Die jeweilige Textstelle aus den Schriften der römischen Juristen wird im Folgenden nach der Fundstelle in Kaiser Justinians Digesten („D.“) angegeben. Bei der Angabe der Fundstelle bezeichnet die erste Ziffer das Buch der justinianischen Digesten, die zweite den Abschnitt innerhalb eines Buches und die dritte steht für das einzelne Fragment, das heißt das eigentliche Juristenzitat, auch lex genannt. Im Mittelalter treten noch weitere Unterteilungen, sogenannte Paragraphen hinzu, die auch in den heute verwendeten Ausgaben am Rande vermerkt werden. Zu beachten ist die Zählung der Paragraphen. Sie beginnt mit der Einleitung (principium), die mit pr. bezeichnet wird; erst danach folgt die Zählung mit 1, 2, 3 etc. Gleichsinnig wird auf die Institutionen Justinians mit „Inst.“ und entsprechender Zahlenfolge sowie auf den Codex Iustinianus mit „C.“ verwiesen. Beim Codex Iustinianus nennt die Inskription den oder die Kaiser, welche die Entscheidung getroffen haben; soweit bekannt, wird auch das Datum und der Adressat des Erlasses mitgeteilt.
Als Beispiel für die Zitierung eines Digestenfragments soll ein Auszug aus dem fünften Titel des 28. Buches der justinianischen Digesten dienen, der sich mit den Voraussetzungen der Erbeinsetzung (institutio heredis) befasst:
Übersicht 2: Erläuterung eines Digestenfragments
Mit D. 28.5.1pr. wird auf die Fundstelle des Fragments in Kaiser Justinians Sammlung verwiesen, die von Justinians Kompilatoren eingefügte Inskription „Ulpianus libro primo ad Sabinum“ gibt dagegen Aufschluss über den ursprünglichen Sinnzusammenhang des zitierten Satzes: Es handelt sich um Ausführungen aus dem ersten Buch von Ulpians Sabinus-Kommentar. Thema des Fragments ist die Reihenfolge der Anordnungen im Testament; dabei wird festgehalten, dass die Erbeinsetzung an erster Stelle zu stehen hat. Nur im Ausnahmefall kann eine ausdrückliche Enterbung noch vor der Erbeinsetzung erfolgen. Alle anderen Anordnungen, die vor der Erbeinsetzung geschrieben stehen, sind dagegen unwirksam. Es fällt sofort ins Auge, dass Antonius Silvanus (Kap. 1.1) diese Regel befolgt hat, da sein Testament mit der Erbeinsetzung seines Sohnes beginnt.
Wie verlässlich sind aber die aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. stammenden justinianischen Quellen, um den Rechtszustand der Zeit vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. zu beschreiben? Die Frage nach der Authentizität der in der Kompilation überlieferten Schriften der römischen Juristen zielt weniger auf Überlieferungsmängel wie Abschreibfehler oder Verluste von Buchseiten als vielmehr auf zielgerichtete Eingriffe der Mitarbeiter Kaiser Justinians. Ausmaß und Tragweite derartiger Veränderungen werden unter dem Stichwort „Interpolationenkritik“ behandelt.
Als Interpolationen (von interpolare = „fälschen, verfälschen“) werden Textveränderungen bezeichnet, mit denen die Kompilatoren den klassischen Text an das justinianische Recht angepasst haben, ohne die Veränderung als solche kenntlich zu machen. Mehrfach wird in den kaiserlichen Anordnungen, die die Kompilation begleiten, betont, Kaiser Justinian habe seinen Kompilatoren den Auftrag erteilt, derartige Veränderungen vorzunehmen. Es besteht daher kaum ein Zweifel, dass die Kommission zur Zusammenstellung der Digesten von dieser Befugnis Gebrauch gemacht hat.
Schwierigkeiten bereitet aber die konkrete Feststellung einer Interpolation, da kaum Vergleichsmaterial vorhanden ist, das geeignet wäre, hinreichend Auskunft über den Rechts- oder Textzustand vor Justinian zu geben. Aus diesem Grund ist die Interpolationenkritik in hohem Maße spekulativ: Die meisten Interpolationsbehauptungen beruhen auf Vorurteilen und Unterstellungen, die in der Regel davon abhängen, wie viel Grundvertrauen der Interpret der Authentizität des Textes entgegenbringt. In der Literatur vom Ende des 19. und vom Beginn des 20. Jahrhunderts war dieses Vertrauen besonders gering: Als Interpolationskriterien galten typische Wendungen und besonders interpolationsverdächtige Wörter, aber auch das Postulat, eine (scheinbar) unzureichende Argumentation oder terminologische Schwäche könne nicht von einem römischen Juristen stammen. Eine eigene Dynamik gewannen diese Argumente, indem sie kombiniert wurden: So wurde aus einem ‚nachweislich‘ interpolierten Fragment auf die Interpolation eines bisher unverdächtigten Textes geschlossen, auch wenn gar kein gleichartiges Interpolationsindiz vorlag. Ein solches Vorgehen ist etwa dann zu beobachten, wenn ein aufgrund argumentativer Schwächen verdächtigtes Fragment zum Beweis der Interpolation eines anderen Fragments verwendet wird, obwohl die Übereinstimmungen zwischen beiden Texten nicht argumentativer, sondern nur stilistischer Natur sind. Diese methodischen Schwächen waren der Ansatzpunkt für die Gegenbewegung, die ‚Kritik der Interpolationenkritik‘, wie sie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte. Diese kritischen Stimmen hoben hervor, dass der justinianische Auftrag vorrangig auf die Beseitigung von Überflüssigem, vor allem auf die Streichung von Wiederholungen und rechtlich Überholtem sowie auf die Ausmerzung von Widersprüchen zwischen einzelnen Juristen abgezielt habe.
Das eigentliche Ende erlebt die Interpolationenkritik jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg: Vor allem Max Kaser hat die Notwendigkeit betont, die Textkritik an die Sachforschung anzulehnen. Es muss daher in jedem Einzelfall geprüft werden, ob die behauptete Interpolation einem sachlichen Motiv Kaiser Justinians entsprechen könnte. Alle lediglich auf stilistische Eindrücke gestützten Verdächtigungen sind in der Regel zurückzuweisen. Diese Zurückhaltung wird durch den Vergleich mit dem außerhalb der Kompilation Justinians überlieferten Material bestärkt: Soweit erkennbar, beschränken sich die Eingriffe der Kompilatoren auf stilistische Anpassungen und vor allem auf Kürzungen. Freilich sind die meisten Vergleichstexte nur bruchstückhaft oder auszugsweise in Sammelwerken aus dem 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. erhalten. Somit sind die Vergleichsmöglichkeiten gering und das Vergleichsmaterial ist seinerseits nicht frei von überlieferungsbedingten Veränderungen.
Nur ein einziges Werk ist außerhalb des justinianischen Corpus vollständig überliefert: die 1816 wiederentdeckten Institutionen des Gaius (2. Jahrhundert n. Chr.).
Das Werk stammt aus der Zeit um 160 n. Chr. Sein Autor, Gaius, war wahrscheinlich als Rechtslehrer tätig und dürfte aus der griechischsprachigen Provinz stammen. In vier Bücher gegliedert, führt sein Werk den juristischen Studienanfänger in das Personenrecht (personae = „Personen“), das Vermögensrecht (res = „Sachen“) und die Rechtsdurchsetzung (actiones = „Klagen“) ein. Die Institutionen des Gaius sind im Folgenden mit dem abgekürzten Verfassernamen „Gai.“ unter Angabe des Buches und des Kapitels zitiert. Das Werk ist für die Kenntnis des antiken römischen Rechts von besonderem Wert, weil es nicht nur einen Einblick in die Organisation des Rechtsunterrichts im Prinzipat gibt, sondern auch von Rechtsinstituten oder Gesetzgebungsakten handelt, die in der justinianischen Kompilation gestrichen wurden oder bereits außer Gebrauch waren. Dies gilt auch für das Erbrecht, dem Gaius einen eigenen Abschnitt widmet.
1.3 De testamentis et de legatis
Gaius unterteilt das Kapitel über den Erwerb von Eigentum in zwei Abschnitte:
Übersicht 3: Das Erbrecht in Gaius’ Institutionen 3
Der erste Abschnitt ist dem Singularerwerb von Sachen gewidmet, wie er vor allem durch Rechtsgeschäft unter Lebenden verwirklicht wird. Im zweiten Abschnitt behandelt Gaius dagegen den Universalerwerb, wie er vorrangig beim Erbfall stattfindet (in der Übersicht 3 hervorgehoben). Dabei kommt nicht nur die auf dem Willen des Erblassers beruhende Erbfolge nach dem Testament, sondern auch die von Gesetzes wegen angeordnete Erbfolge ohne Testament (Intestaterbfolge, von intestato = „ohne Testament“) zur Sprache. Vor allem aber erörtert Gaius an dieser Stelle auch die Vermächtnisse (Legate, von legare = „vermachen“), die dem Begünstigten (Vermächtnisnehmer oder Legatar) nach dem Tod des Erblassers das Recht an einer Sache zuweisen. Da die Vermächtnisse nach der übergeordneten Gliederung des Lehrbuchs an sich beim Singularerwerb zu erörtern wären, zeigt die Zuordnung als Annex zu Testament und Intestaterbfolge, dass Gaius den erbrechtlichen Erwerb – unabhängig von Gegenstand und Umfang – als einheitliche Erscheinung ansieht. Damit wird unter dem Titel „von den Testamenten und von den Legaten“ (de testamentis et de legatis) das Erbrecht als eigenständiges Rechtsgebiet erfasst.
1.3.1 Die Komplexität des römischen Erbrechts
Schon die weitere Gliederung des Abschnitts de testamentis et de legatis bei Gaius (2. Jahrhundert n. Chr.) offenbart die Komplexität des römischen Erbrechts.
Übersicht 4: Kapiteltitel in den Abschnitten zum Universalerwerb bei Gaius
Wie die Übersicht 4 zeigt, gibt es nicht nur allgemeine Regeln für die Errichtung von Testamenten, sondern es gelten zusätzlich besondere Vorgaben für die Testamente von Soldaten (siehe 2b). Zudem ist die Möglichkeit, ein Vermächtnis zu errichten, durch die Möglichkeit, Fideikommisse aufzuerlegen (siehe 3g), gleichsam verdoppelt, weil der Erblasser nicht nur förmliche Vermächtnisse (= Legate), sondern auch formlose Vermächtnisse (= Fideikommisse) aussetzen kann. Zuletzt tritt beim Erbschaftserwerb ohne Testament neben das gesetzliche Erbrecht ein besonderes prätorisches Erbrecht (bonorum possessio, siehe 4b). Auch existieren Sonderregeln für das gesetzliche Erbrecht von freigelassenen Sklaven (siehe 4c – f). Schon die Gliederung der Institutionen des Gaius lässt damit zwei wesentliche Züge des römischen Erbrechts hervortreten: Die Vielfalt von Instituten vergleichbarer Zwecksetzung und die große Anzahl an Ausnahme- und Sondervorschriften für bestimmte Gruppen oder Situationen. Diese Heterogenität des römischen Erbrechts ist in der Forschung als juristische Schwäche angesehen worden:
In der Rechtstechnik steht das Erbrecht dieser Periode [sc. des klassischen Rechts] den meisten anderen Gebieten des Privatrechts nach. Ähnlich etwa dem Vormundschaftsrecht, ist es kompliziert und unübersichtlich; die allgemeinen Sätze werden von zahlreichen Ausnahmen durchbrochen und bisweilen überwuchert. […].4
Führt man sich allerdings vor Augen, dass diese Komplexität des römischen Erbrechts das Ergebnis einer historischen Entwicklung darstellt, bietet gerade die vermeintliche Schwäche dieses Rechtsgebietes die Möglichkeit, die Entstehung und das Zusammenspiel unterschiedlicher Entwicklungsstufen des römischen Privatrechts zu untersuchen. Als charakteristisch für die römische Rechtsentwicklung gilt, dass sich die verschiedenen Entwicklungsstufen nicht sukzessive ablösen, sondern anhäufen. Man kann das römische Erbrecht daher auch als für den Rechtshistoriker besonders reizvolles Gebiet ansehen:
However, it is just this characteristic [sc. the fine network] of the Roman law of succession which renders it a particularly interesting field for legal historians. The labyrinthine law cries out for historical analysis; available materials are unusually rich; all factors in Roman legal evolution are clearly visible, in particular the strength of Roman jurisprudence as well as its limits and shortcomings.5
Kein anderes Rechtsgebiet des römischen Privatrechts bietet derartig reiches Anschauungsmaterial, um die Rechtsentwicklung und die damit verbundene Anhäufung verschiedener Rechtsschichten im Detail beschreiben und beobachten zu können.
Der Grund für die gerade im Erbrecht zu beobachtende Kumulation verschiedener Privatrechtsordnungen ist im für die römische Rechtsentwicklung typischen Beharren auf dem Überkommenen zu suchen. Der sprichwörtliche ‚Traditionalismus‘ der römischen Juristen verhindert die Abschaffung und Aufhebung althergebrachter Rechtsvorschriften und führt dazu, dass das neu eingeführte Recht neben das bestehende tritt, ohne dieses abzulösen. Die damit fast zwangsläufige Anlagerung von Rechtsquellen unterschiedlicher historischer Provenienz und abweichender rechtspolitischer Zielsetzung entspricht der von den römischen Juristen befolgten Methode.
1.3.2 Zur Methode der römischen Juristen
Die in den Digesten überlieferten Juristenschriften enthalten vorrangig Fallrecht, das heißt die Entscheidung von Einzelfällen. Daher spricht man davon, die römische Rechtsfindung sei ‚kasuistisch‘, erfolge also durch Fortentwicklung des Rechts von Fall zu Fall. Dabei bildet sich neues Recht immer dort, wo ein bisher nicht vorgesehener Fall zu entscheiden ist oder auch nur zur Erörterung eines neuen Rechtsproblems vom Juristen formuliert wird. Das vom Juristen an diesem Fall erstmalig gefundene Recht bedarf aber der Fundierung im Bestehenden; es kann nur als Fortdenken der bereits existierenden Ordnung und damit durch die Akzeptanz der Fachgenossen bestehen. Schon ihrer Natur nach ist die kasuistische Rechtsfindung daher immer konservativ; ein Wertewandel kann sich nur schrittweise durchsetzen. Durch Gesetzgebung sind dagegen jederzeit Umwälzungen, Reformen und Neuanfänge möglich. Soweit ein Gesetz oder ein kaiserlicher Erlass zu Konflikten oder Friktionen mit der Tradition führt, sind es ebenfalls die Juristen, die im Einzelfall den Ausgleich zwischen den verschiedenen Vorgaben herzustellen suchen. Auch diese Anpassung erfolgt also mittels Einzelfallentscheidung.
Aufgrund der skizzierten Besonderheiten der römischen Rechtsordnung wie der Rechtsfindungsmethode der römischen Juristen kann das römische Privatrecht nur als Entwicklungsprozess dargestellt und beschrieben werden. Genau diese Entwicklung des rechtlichen Denkens soll durch die Untersuchung des römischen Erbrechts erfasst werden. Aus diesem Grund erfolgt die Darstellung der Institute des römischen Erbrechts unter den drei folgenden Leitfragen:
1) Welche Entwicklungsstufen sind für eine Regelung des römischen Erbrechts zu erkennen und zu unterscheiden?
2) Welche Grundsätze gelten für die jeweilige Entwicklungsstufe und woraus ergibt sich ihre besondere Prägung?
3) Auf welche Weise greifen die Juristen auf die zu ihrer Zeit existenten Rechtsschichten zurück, und wie bringen sie konkurrierende Rechtsschichten im Einzelfall zum Ausgleich?
Antworten auf diese drei Leitfragen werden zunächst separat für jedes behandelte erbrechtliche Institut am Ende des jeweiligen Kapitels formuliert (Fazit). Schließlich sind im Rahmen der Ergebnisse (Kap. 10) die Folgerungen für das Erbrecht als Rechtsgebiet und die Erbrechtsentwicklung in Rom insgesamt zu ziehen.
Die einzelnen Kapitel des Hauptteils (Kap. 3 bis Kap. 9) sind jeweils einem einzelnen erbrechtlichen Thema oder Rechtsinstitut gewidmet, das in seinen historischen Entwicklungsstufen dargestellt und dadurch in seiner Vielschichtigkeit entwirrt werden soll. Dabei sind nicht alle Themen des römischen Erbrechts angesprochen. Wegen ihrer Besonderheit wurde etwa auf die Behandlung der testamentarischen Vormundschaft, der Freilassung und der Schenkung von Todes wegen verzichtet. Bezweckt wurde vielmehr, die Grundbegriffe des Erbrechts in der durch die Quellen vermittelten Komplexität anzusprechen. Daher sind auch Fragen des öffentlichen Rechts und des Strafrechts behandelt, wenn sie Bedeutung für das Erbrecht haben; zudem sind Regelungen, deren Komplexität aus heutiger Sicht übersteigert scheint, ausführlich aufgenommen worden, um ein möglichst genaues historisches Bild des römischen Erbrechts zu zeichnen. Schon aus diesem Grund musste die Darstellung des jeweiligen Themas direkt aus den justinianischen Quellen erfolgen. Dieses Vorgehen hat auch den Vorzug, dem Leser einen unmittelbaren Eindruck von der Fachdiskussion der römischen Juristen zu vermitteln. Zur Erleichterung des Zugangs sind die exemplarisch zitierten Quellen auch in deutscher Übersetzung abgedruckt.6 Bei Bedarf sind Übersichten eingefügt, die das Behandelte zusammenfassen; in diesen sind die wichtigsten Ergebnisse farblich hervorgehoben.
Auf die Darstellung von Forschungskontroversen oder abweichender Literaturmeinungen wurde grundsätzlich verzichtet. Die Literaturangaben am Schluss des Buches erlauben dem interessierten Leser, sich über den Forschungsstand zu informieren. Diese Literaturauswahl erfasst einerseits für Studenten gut zugängliche Werke und andererseits Forschungsliteratur, die als grundlegend für die behandelte Sachfrage anzusehen ist.
Das folgende Kapitel (Kap. 2) dient dazu, beim Leser die Voraussetzungen für die Betrachtung der Rechtsschichten der einzelnen erbrechtlichen Institute zu schaffen. Zu diesem Zweck ist der Leser mit einigen Eckdaten der römischen Geschichte sowie mit grundlegenden Informationen zur römischen Rechtsentwicklung auszustatten.
1 Der Text folgt der Transkription von Octave Guéraud/Pierre Jouguet, Un testament latin per aes et libram de 142 après J.-C. (Tablettes L. Keimer), Études de papyrologie 6 (1940) 1 – 20 sowie Jean Macquéron, Le testament d’Antonius Silvanus (Tablettes Keimer), RHD 23 (1945) 123 – 170; Korrekturen nach Detlef Liebs, Das Testament des Antonius Silvanus, römischer Kavallerist in Alexandria bei Ägypten, aus dem Jahre 142 n. Chr., in: Klaus Märker/Christian Otto (Hrsg.), Festschrift Weddig Fricke, Freiburg 2000, 113 – 128; eine neuere Übersetzung findet sich bei Benedikt Strobel, Römische Testamentsurkunden aus Ägypten vor und nach der Constitutio Antoniniana, München 2014, 65 – 109.
2 Eine Rekonstruktion der Juristenwerke wurde unternommen von Otto Lenel, Palingenesia iuris civilis, 2 Bde., Leipzig 1889 (Nachdr. Graz 1960 mit einem Supplement von Lorenz Edgar Sierl, davon 2. Neudr. Aalen 2000).
3 Aus: Ulrich Manthe, Gaius Institutiones, 2. Aufl. Darmstadt 2010, 8 f.
4 Max Kaser, Das römische Privatrecht. Erster Abschnitt, München2 1971, § 157.III, 671. Dieser Standpunkt findet sich bereits bei Fritz Schulz, Classical Roman Law, Oxford 1951, 203, der betont: „Classical jurisprudence discussed the law of succession on death with obvious predilection and at the same time admirable delicacy, but […]. This part of classical law was highly complicated and to a large extent perplexedly entangled, but the classical lawyers did little to simplify it. Their professional relish for details and for vexed questions was too strong for them, and, absorbed in the spinning of this fine network, they forgot the maxim simplicitas legum amica.“
5 Fritz Schulz, Classical Roman Law, Oxford 1951, 204.
6 Alle Übersetzungen wurden von Thamar Xandry und Ulrike Babusiaux eigenständig angefertigt. Als Hilfsmittel für die Digesten wurden die alte deutsche Übersetzung von Carl Eduard Otto/Bruno Schilling/Carl Friedrich Ferdinand Sintenis (Hrsg.), Das Corpus Juris Civilis in’s Deutsche übersetzt von einem Vereine Rechtsgelehrter, 7 Bde., Leipzig 1830 – 1833 sowie die neue deutsche Übersetzung herangezogen, im Einzelnen: Rolf Knütel/Bertold Kupisch/Sebastian Lohsse/Thomas Rüfner (Hrsg.), Corpus iuris civilis I: Institutionen, 4. Aufl. Heidelberg 2013; Okko Behrends/Rolf Knütel/Bertold Kupisch/Hans Hermann Seiler (Hrsg.), Corpus iuris civilis II: Digesten 1 – 10, Heidelberg 1995; dies. (Hrsg.), Corpus iuris civilis III: Digesten 11 – 20, Heidelberg 1999; Rolf Knütel/Bertold Kupisch/Hans Hermann Seiler/Okko Behrends (Hrsg.), Corpus iuris civilis IV: Digesten 21 – 27, Heidelberg 2005; Rolf Knütel/Bertold Kupisch/Thomas Rüfner/ Hans Hermann Seiler (Hrsg.), Corpus iuris civilis V: Digesten 28 – 34, Heidelberg 2012. Für die Institutionen des Gaius wurde die Übersetzung von Ulrich Manthe, Gaius Institutiones, 2. Aufl. Darmstadt 2010, konsultiert.