Читать книгу Baltrumer Kaninchenkrieg - Ulrike Barow - Страница 10
Dienstag
Оглавление»Herr Claaßen, was bedeutet KSV?«
Thomas Claaßen schaute irritiert nach oben. Wie jeden Morgen schob er sein Fahrrad aus dem Keller die Schräge hoch ans Tageslicht. Es war noch früh. Eigentlich zu früh für Inselgäste. »Moment noch.« Mit letztem Schwung hievte er sein Rad auf den roten Klinkerweg und klappte mit dem Fuß den Ständer aus. Vor ihm standen Maren und Jan Schmitz, die Zwillinge, die er am Tag zuvor mit ihren Eltern vom Schiff abgeholt hatte. »So, noch einmal: Was wollt ihr wissen?«
»Was bedeutet KSV?«, wiederholte Jan und gab auch gleich die möglichen Antworten. »Kommen Sie vorbei? Kultur-und Sportverein? Kaninchen schießen verboten?«
Thomas Claaßen hätte beinahe gelächelt. Die letzte Antwort wäre genau die richtige für die Proniggels gewesen. »Die zweite Antwort.«
»Wir machen nämlich beim Schatzkofferspiel mit. Wir haben uns gestern gleich den ersten Zettel aus dem Rathaus abgeholt«, sagte Maren. »Aber die Fragen sind nicht einfach. Können Sie uns helfen?«
Thomas Claaßen schaute auf die Uhr. »Kinder, ich muss zur Arbeit. Fragt meine Frau.«
»Aber eine Frage, bitte noch eine Frage«, bettelte Jan. »Was ist ein Palstek? Ein seemännischer Knoten? Ein Bretterweg am Strand oder ein Begrenzungspfahl der Badezone?«
»Ein Palstek ist ein Knoten. So, jetzt muss ich aber wirklich.« Thomas Claaßen klappte den Fahrradständer zurück und fuhr los, ohne sich weiter um die beiden zu kümmern. Er wollte nicht zu spät kommen. Der neue Bürgermeister hatte ihn sowieso auf dem Kieker. Ihn und seine Kollegen.
Er verstand es nicht. Jahrelang war alles prima gelaufen. Sie hatten ihre Arbeit gemacht, hatten sich von keinem reinreden lassen und fast immer hatten die Körbe pünktlich zum Beginn der Saison am Strand gestanden. Und nun, plötzlich, frei nach dem Motto: ›Neue Besen kehren gut‹, fing der Mann an, Dienstpläne aufzustellen, die Anwesenheit zu kontrollieren und mit ihnen Abläufe zu besprechen. Als ob der davon eine Ahnung hatte. Aber er war sich sicher, dass es nicht lange dauern würde, bis sie Middelborg im Griff hatten. Immerhin war der von ihnen abhängig und nicht umgekehrt. Er hatte in seinem Arbeitsleben schon so viele Bürgermeister kommen und gehen sehen, da brauchte man eigentlich nur abzuwarten. Oder, wenn das zu lange dauerte, ihm seine Grenzen unmissverständlich aufzuzeigen.
Er wunderte sich. Die Tür zu seinem Arbeitsplatz stand offen. Das Licht brannte. Im Büro sah er Reinhart Petri stehen. »Was machst du denn schon hier?«, fragte er verblüfft. Sein Kollege war zwar stets pünktlich. Aber normalerweise war er, Claaßen, der Erste morgens.
»Ich wollte … Middelborg hat gesagt … Wir sollen uns kümmern«, antwortete Reinhart Petri.
»Worum?« Er war zwar selbst kein Freund großer Worte, aber Reinhart konnte einem schon ziemlich auf den Sack gehen, wenn er es nicht schaffte, sich klar und deutlich zu äußern. Wobei er seit Jahren vermutete, dass der Mann durchaus in der Lage war, vernünftig zu reden. Der hatte nur einfach keine Lust. Zumindest verweigerte der sich bei seinen Kollegen. Claaßen nahm an, dass es andere Gruppierungen gab, in denen Reinhart sich wohler fühlte. Aber das ging ihn nichts an.
»Um … Um das Osterfeuer. Schon mal zusammenschieben und so.«
»Quatsch. Das wird am letzten Tag zusammengeschoben. Nicht eher.« Thomas Claaßen wurde wütend. »Da werfen zig Leute noch was drauf. Das bringt gar nichts.« Was mischte der Chef sich wieder ein? Er sollte sie man machen lassen und sich um die Verwaltung kümmern. Und um die vielfältigen Wünsche der Gäste. Schließlich war Middelborg nicht nur Bürgermeister, sondern auch Kurdirektor. Da hatte er genug zu tun.
»Aber er hat gesagt …«
»Wenn hier einer was sagt, bin ich das, verstanden? Du gehst zur Turnhalle und räumst auf.«
Reinhard Petri nahm seine Jacke vom Schreibtisch, zog sie umständlich an und schlurfte nach draußen.
Claaßen atmete tief durch. Endlich allein. Er setzte sich auf den Hocker hinter dem Schreibtisch, nahm Zigarettenpapier und Tabak aus der Tasche seines Anoraks und zog den Aschenbecher zu sich heran. Erst mal eine rauchen. So wie jeden Morgen. Dann konnte es mit der Arbeit losgehen.
Den ersten tiefen Zug aus der Selbstgedrehten genoss er mit geschlossenen Augen. Beim zweiten Zug merkte er, dass sein Handy in der hinteren Hosentasche vibrierte. Ärgerlich zog er es heraus. Helma. Da musste er rangehen. Nützte nichts. Er legte die Zigarette auf den Aschenbecher und drehte sich zur Wand, bevor er sich meldete. Klar, sie konnte es nicht sehen, dass er rauchte. Es war schließlich nur ein Telefon. Aber bei Helma wusste man nie …
»Thomas?«, hörte er seine Frau ins Telefon rufen.
Sie rief immer. Er hatte es ihr nicht abgewöhnen können.
»Thomas, ich hätte da mal eine Frage. Die Zwillinge stehen bei mir und wollen wissen, wann das Rathaus gebaut wurde. War das im März 1949, 1956 zum ersten April oder irgendwann im Dezember?« Sie lachte. »Na, ja, das Letzte wohl nicht.«
»Helma, ich habe keine Ahnung. Außerdem muss ich arbeiten. Sollen es die Zwillinge bei denen erfragen, die dafür verantwortlich sind. Ist echt ’ne Zumutung für die Insulaner. Die von der Kurverwaltung denken sich irgendwelche dämlichen Fragen aus und die Insulaner sollen dann alles wissen, wenn ihre Gäste die richtige Antwort haben wollen.«
»Schon gut, Thomas. Ich werde es schon herausfinden. Entschuldige die Störung – und rauch nicht so viel!«
Da war es wieder. Wie hatte sie das nur herausgefunden? Es war scheißegal, ob er sich zur Wand drehte. Er hätte genauso gut weiterrauchen können. Es hätte nichts geändert. Die Hälfte seiner Zigarette war auf dem Aschenbecher sinnlos verglüht.
Er machte sich auf den Weg zu Detlef Köster. Der Mann hatte gebeten, ihm zu helfen, weil er alleine nicht mit dem Verlegen seines Teppichbodens klar kam. Claaßen hatte natürlich zugesagt. So üppig waren die Gehälter bei der Gemeinde nicht, dass man nicht hin und wieder die Chance ergriff, sie aufzubessern. Tagsüber. Im Hellen arbeitete es sich einfach besser.
*
»Wir haben hier alle Waffenbesitzkarten und Munitionslisten der Jäger.« Arndt Kleemann blätterte die Papiere aufmerksam durch. »Die diversen Patronenhülsen, die wir im Umfeld der Leiche eingesammelt haben, stimmen mit den Angaben überein. Allerdings können wir noch nicht feststellen, ob auch das Einschussloch, beziehungsweise der Einschusskanal zu einer der Patronen passt.« Er zögerte. »Moment mal. Die Kollegen haben hier eine Sorte auf der Liste, die wir bei den Jägern nicht finden.«
»Das ist gut möglich. Im Herbst sind viele Jäger vom Festland auf Baltrum. So eine Hülse verwittert nicht schnell«, sagte Michael Röder. »Und das wird natürlich eine schwierige Angelegenheit, herauszufinden, wer alles hier war und mit welcher Munition geschossen wurde.«
»Setz dich noch einmal mit dem Jagdpächter, dem Jörg Weber, in Verbindung. Er soll uns eine möglichst vollständige Liste der Gastjäger übermitteln. Vielleicht kennt er jemanden, der diese Munition benutzt.«
Michael Röder stand auf und ging in den Flur, der die Wache mit seiner Dienstwohnung verband. Hier war es ruhiger. Nur Amir, sein Heidewachtel, bellte einmal kurz und strich ihm um die Beine. Sandra war offenbar nicht da. Er überlegte. Richtig. Sie wollte sich mit ein paar Frauen treffen, um Osterschmuck für das Fest vom Heimatverein am Ostersonntag zu basteln. Das hatte sie beim Frühstück erwähnt.
Gerade, als er das Telefon aus der Tasche zog, klingelte es. Marlene. Er wunderte sich. Seitdem er Schluss gemacht hatte, hatte er nichts mehr von ihr gehört. »Röder.«
»Hallo, Michael«, hörte er ihre vertraute Stimme.
Er schluckte. Konnte fast nicht antworten. Es reichte nur zu einem knappen: »Ja?«
»Ich habe gehört, dass ihr wieder einen Mord auf der Insel hattet?«
Was sollte das? Warum interessierte sie sich jetzt plötzlich für das Inselleben? »Stimmt. Warum?«
»Es ist nur – Gero ist da, oder?«Er wusste immer weniger, was er von dem Gespräch halten sollte. Ja, Gero war da, aber was hatte das mit Marlene …?
»Es ist so. Gero und ich – wir sind zusammen«, klang es wie durch einen dichten Nebel. »Er weiß nichts von dir und mir. Es ist erst ganz frisch. Ich möchte es ihm lieber selber sagen, verstehst du. Nicht, dass du beim Feierabendbier aus Versehen, du verstehst …« Jetzt sprudelte es fast aus ihr heraus. »Nicht, dass es mir leid täte. Das mit dir. Aber es hat ja nun mal …«
»Michael? Du solltest Weber nur anrufen und ihn nicht persönlich aufsuchen«, hörte er Arndts Stimme.
»Ich … Ich muss Schluss machen. Du kannst dich auf mich … verlassen.« Er drückte die Taste, dann atmete er tief durch. Gero. Der nette Gero aus Aurich. Der, den er bis gerade für einen klasse Kollegen gehalten hatte. Und den er jetzt am liebsten ungebremst ins Hafenbecken schleudern würde. Er umklammerte das Handy. Nimm dich zusammen, Alter. Den Jäger anrufen. Los jetzt. Röder wählte. Was hatte er eigentlich fragen wollen?
»Weber?«
»Hallo, Jörg. Hier ist Michael. Ich brauche … Ich brauche die Liste, weißt du …«, stammelte er.
»Welche Liste?«, fragte Jörg Weber ratlos.
»Die Liste der auswärtigen Jäger.« Er erklärte nicht, warum er sie brauchte, nur was er brauchte. Dann ging er zurück zu seinen Kollegen. »Er bringt alles vorbei«, krächzte er.
»Na, hast du dich erst einmal zu deiner Frau in die Küche zurückgezogen?« Gero Schonebeck lachte. »Schäferstündchen während der Dienstzeit? Kann eben doch Vorteile haben, wenn man direkt neben dem Dienstzimmer wohnt, oder?«
Arschloch. Michael Röder setzte sich wieder auf seinen hölzernen Bürostuhl. Er konnte kein Wort sagen. Es war, als würde ein tennisballgroßer Klumpen seinen Hals verstopfen. Er bemerkte die Verwunderung in Arndts Blick, bevor der Eilert Thedinga aufforderte, den gestrigen Abend noch einmal zusammenzufassen.
»Ist dir über Nacht noch etwas eingefallen?«
Eilert schüttelte den Kopf. »Nicht mehr als das, was wir bereits berichtet haben. Ich kam bei den Opitz rein und hatte sofort Funkstille, weil Ingeborg Opitz laut und ohne Unterlass geredet hat. Ich weiß jetzt fast alles über andere Leute. Sicher sehr hilfreich für meine Zeit hier. Am schlimmsten hat sie über ihre Nachbarin hergezogen. Melissa Harms. Vielleicht sollten wir bei der gleich vorbeischauen. Sie soll nicht dagewesen sein, als die Opitz sie zusammenfalten wollte.«
»Ich hätte an ihrer Stelle auch die Tür nicht aufgemacht, wenn ich gesehen hätte, welche Furie sich da auf mein Grundstück zubewegt«, sagte Arndt Kleemann.
»Wir befragen sie auf jeden Fall. Immerhin hat uns Frau Hasekamp erzählt, dass die auch zu den Proniggels gehört hat«, stimmte Gero Schonebeck zu. »Außerdem sollten wir uns Enno Seeberg ein weiteres Mal vornehmen. Das war echt filmreif, wie der versucht hat, sich unserem Zugriff zu entziehen, als er nach Hause kam.«
»Aber genützt hat es nichts«, lächelte Arndt Kleemann. »So fit wie Gero ist, kriegt der jeden.«
Klar. Egal ob sie Enno Seeberg oder Marlene Jelden heißen. Der kriegt jeden. Oder jede. Michael Röder hatte das Gefühl, dass ihm seine Stimme immer noch nicht gehorchte. Also schwieg er und ließ die anderen reden.
»Außerdem haben wir Oliver Abels auf der Liste. Der hat sich unter Rettet unsere Pflanzenwelt mit den Opitz zusammengetan«, berichtete Eilert Thedinga. »Sie wollen übrigens heute Mittag vor dem Rathaus Unterschriften sammeln. Das hat mir Hartmut Opitz erzählt. Oliver Abels soll die heute bei der Ratssitzung vorlegen. Als Entscheidungshilfe.«
»Ich bin gespannt, wer alles unterschreibt«, überlegte Gero Schonebeck. »Rettet unsere Pflanzenwelt ….« Er dachte kurz nach, dann brach es aus ihm heraus: »Rettet unsere Pflanzenwelt – kurz ›Rupf‹! Ist das nicht … – Das ist einfach genial!« Er lachte, bis ihm die Tränen kamen. »Echt cool, diese Ermittlungsarbeiten – Proniggels gegen Rupf. Einfach köstlich!«
»Gero, du solltest zur Zeitung gehen. Tolle Schlagzeile. Doch jetzt mal zurück zum Wesentlichen. Was liegt also noch an?«, fragte Arndt Kleemann in die Runde.
Röder wusste, jetzt war er dran. Er schluckte, merkte, wie der Druck langsam nachließ. »Ich habe alles berichtet. Die Jäger waren kooperativ. Auf meine Frage, ob auf der Insel schon mal gewildert wird, erklärte Weber, dass er nichts Konkretes wisse. Es tauchte wohl hin und wieder der eine oder andere Name auf, aber das sei oft nur Gerede. Ich spreche ihn aber noch einmal darauf an. Die Liste der auswärtigen Jäger bringe ich gleich mit. Zumindest die Daten, die er schon hat.«
Arndt Kleemann nickte. »Alles klar. So gehen wir vor. Gero, du nimmst Kontakt mit den Pflanzenrettern auf. Beobachte mal, wie sich die Unterschriftensammlung macht. Ich besuche Melissa Harms und du, Eilert, wartest auf Enno Seeberg und auf neue Erkenntnisse aus Aurich.«
»Es wäre sicher ganz interessant, zu erleben, was heute auf der Ratssitzung passiert«, sagte Gero Schonebeck. »Dort sollten wir ebenfalls eine Abordnung hinschicken. Da knallen Welten aufeinander. Mit Sicherheit werden dort Abordnungen von den Proniggels und den Rupfs unter den Zuschauern sein.«
»Gute Idee«, stimmte Arndt Kleemann ihm zu. »Wir werden sehen, auf wen von uns das Los fällt.«
»Ich geh dann mal.« Michael Röder konnte es kaum erwarten, aus der kleinen Wache herauszukommen. Allein zu sein. Zumindest auf dem kurzen Weg zu Jörg Weber. Er würde sein Fahrrad zu Hause lassen. Auch wenn die anderen sich wunderten.
Musste es ausgerechnet Gero sein? Die beiden waren sich bestimmt dienstlich über den Weg gelaufen und dann hatte es gefunkt. Warum auch nicht? Schließlich hatte er, Michael, Schluss gemacht. Es gab keinen Grund, warum sie sich nicht anderweitig vergnügen sollte. Wirklich überhaupt keinen.
Er stolperte beinahe über die Steinkante, die das kleine Rasenstück rechts von Feinkost Janssen einrahmte, als er von einer schrillen Stimme aus seinen Gedanken geholt wurde. »Hallo, Michael. Nun warte doch mal. Ich kann nicht so schnell.«
Verwirrt schaute er sich um. Eine kleine, schmale Gestalt mit einem dicken Wintermantel und Ohrenschützern aus braunem Fell schob mühsam einen Rollator vor sich her. Im Korb lag ein halb gefüllter Müllsack. Daneben klemmte ein Müllgreifer. »Du solltest dir mal das Osterfeuer anschauen, da hat wieder jemand einen Jägerzaun entsorgt.«
Er blieb stehen. Petine Abels. Bei den Insulanern hieß sie nur Oma Blau. Wegen des blauen Müllsacks, ohne den sie nie unterwegs war. Weit über achtzig. Mutter von Oliver Abels und unkaputtbar.
»Ich habe gerade ein paar Zweige zum Osterfeuer gebracht. Da habe ich es gesehen. Unverschämtheit«, sagte sie aufgebracht.
Er musste ihr zustimmen. Nur Zweige und kleingeschnittene Äste gehörten darauf. »Du bist wirklich den ganzen Weg zum Ostdorf gelaufen?«, fragte er erstaunt.
»Natürlich. Warum nicht?« Sie wischte mit dem Handschuh über die obere Ablage ihres Rollators. »Ich mache das, was ich jeden Tag mache. Ich gehe durch den Ort und sammele auf, was andere Leute fallen lassen. Sonst macht es ja keiner.«
Keine Frage, woher Oliver seine Begeisterung für Recht und Ordnung auf der Insel hatte. Röder erwähnte nicht, dass täglich ein Gemeindemitarbeiter unterwegs war, um die öffentlichen Mülleimer zu leeren und die Straßen sauber zu halten. Warum sollte er Petine Abels’ Lebensaufgabe in Zweifel ziehen?
»Als mein Mann und ich das Hotel geführt haben, waren wir auch von morgens früh bis abends spät auf den Beinen«, fuhr sie fort. »Jetzt, wo mein Mann auf dem Friedhof liegt und Oliver das große Haus übernommen hat, kann ich mich eben um andere Dinge kümmern. Aber ich würde nie etwas aufs Osterfeuer werfen, was da nicht hingehört. Sorgst du dafür, dass dieses behandelte Holz da verschwindet?«
Er versprach’s. Die Mitarbeiter der Gemeinde schoben das Holz, das die Insulaner in den Wochen vor Ostern auf die Hellerwiese beim Hotel Dünenschlösschen schafften, kurz vor dem Abbrennen zusammen, um auch dem letzten Wildtier die Möglichkeit zur Flucht zu geben. Sollten die Männer alles, was da nicht draufgehörte, ordnungsgemäß entsorgen. Er würde ihnen Bescheid geben.
Jetzt musste er sich um die Baltrumer Jägerschaft kümmern. Die offizielle und die möglicherweise inoffizielle. Aber er kam nicht weit. Gerade, als er an der Sparkasse vorbei war, hielt Friedemann Untied neben ihm sein Fahrrad an.
»Herr Röder! Bitte sagen Sie mir: Wie weit sind Sie gekommen in Ihren Ermittlungen? Haben Sie den Mörder unserer lieben Edith bereits ermitteln können?« Untied hatte seine Hände über dem Lenker wie zum Gebet gefaltet.
»Nein, Herr Untied.« Beinahe wäre Röder ein devotes ›Herr Pastor‹ herausgerutscht. Er wusste, dass Untied dies am liebsten gehört hätte. Aber genauso wenig wie er Tino Middelborg mit ›Herr Bürgermeister‹ ansprach, würde er Untied mit dessen Berufsbezeichnung anreden. Es war halt nur noch so drin. Von früher. Seine Eltern hatten es gar nicht anders gekannt.
»Ihre Kollegen sind gestern bei mir gewesen. Der Kommissar Kleemann, den bereits einige traurige Anlässe auf unsere schöne Insel geführt haben, und ein junger Kollege. Sehr freundlich und zuvorkommend. Er ist dem Glauben nicht ganz abgeneigt, habe ich das Gefühl.« Untied seufzte. »Wenn man nur ein paar mehr Insulaner so denken würden. Stattdessen wird nach heidnischem Brauch wieder das Osterfeuer angezündet. Ohne Rücksicht auf die Umwelt. Aber wir Proniggels werden unser Zeichen setzen. Jawohl. Ein Zeichen!«
»Herr Untied«, unterbrach ihn Röder, »ich muss mich wirklich um wichtigere Dinge kümmern. Wie Sie eben bereits ansprachen, haben wir einen Mord aufzuklären.« Er wünschte sich, dass er sein Fahrrad mitgenommen hätte. Dann hätte er all diesen Begegnungen zügig aus dem Weg fahren können.
»Gott sei mit Ihnen und ach: Falls Sie Melissa Harms suchen: Ich wollte eben zu ihr, aber sie scheint nicht zu Hause zu sein. Ihr Sohn wohl auch nicht«, berichtete der Pastor.
»Wieso kommen Sie darauf, dass wir sie aufsuchen wollen?«, fragte Röder interessiert.
»Ach, ein Gefühl sagte es mir. Vielleicht, weil mir der Streit nicht aus dem Sinn geht«, erklärte Untied zögernd.
»Welcher Streit?« Röder wollte weiter, fühlte sich aber genötigt stehen zu bleiben für den Fall, dass der Hirte doch noch etwas Wichtiges zutage brachte.
»Es war in der letzten Woche. Ich fuhr an ihrem Haus vorbei und hörte laute Stimmen«, Untied zögerte. »Dann wurde die Tür aufgerissen, Edith Oligs stürmte heraus und rief: ›Das wirst du noch bereuen.‹ Natürlich wollte ich zuerst anhalten und vermitteln. Ein kleines Gebet wirkt da oft Wunder. Aber Edith war ganz schnell weg und Melissa in ihrem Haus verschwunden. Nachdem sie die Tür zugeknallt hatte. Ich bin weitergefahren. Was meinen Sie … wenn ich mich damals eingeschaltet hätte – energisch, verstehen Sie? –, ob dann unsere liebe Edith noch leben würde?«
»Noch wissen wir nicht, wer sie getötet hat und aus welchem Grund. Machen Sie sich keine Sorgen«, versuchte Röder den Pastor zu beruhigen, der seine immer noch gefalteten Hände so sehr auf den Lenker presste, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Aber wenn Ihnen etwas einfällt, kommen Sie bitte gleich zu mir oder meinen Kollegen, okay?«
»Das werde ich, das werde ich. Versprochen. Aber nun muss ich zur Sparkasse. Die Kollekte des letzten Sonntags einzahlen. Es ist nicht viel, aber Gott freut sich …«
Michael Röder ließ den Pastor mit seiner Kollekte stehen und ging weiter in der Hoffnung, dass er ohne weitere Stopps Jörg Weber erreichte, der schräg gegenüber der Schule wohnte.
Die Tür stand offen. Er rief Jörgs Namen, doch es schlug ihm nur Stille aus dem Haus entgegen. Sein Blick fiel auf den Keilerkopf, der in einer Nische den Flur bewachte. Jörg hatte ihm gestern erzählt, dass er das Wildschwein in Bayern geschossen hätte. Sein erster Keiler sei es gewesen, damals, vor dreißig Jahren.
»Jörg?« Langsam arbeitete sich Röder vor bis zum Wohnzimmer. Auch hier sah es nicht einladender aus. Zehn unterschiedlich große – wie hatte Jörg es genannt? – Gehörnbrettchen mit großen und kleinen Geweihen zierten die Rückwand hinter dem dunkelgrünen Sofa. Am auffälligsten war eine riesige Elchschaufel, die in das Wohnzimmer ragte.
Sollte er es aufgeben? Von Jörg war nichts zu hören. Er schob die Gardine ein Stück zur Seite. Da war er. Er stand am Rande des Rasenstücks bei einem Komposthaufen und schüttete gerade ein Loch zu. Der Polizist öffnete mit einem Ruck die Terrassentür.
Jörg Weber erschrak, fing sich jedoch schnell wieder. »Hallo, Michael. Was führt dich zu mir?«
»Das kannst du dir denken. Die Listen, um die wir dich gebeten haben.«
Jörg Weber legte den Spaten zur Seite und wischte seine Hände an der braunen Cordhose ab. »Ich komme. Muss nur eben die Gummistiefel gegen Hausschuhe tauschen. Sonst ist der Tag gelaufen.«
Wieder im Haus, wusste Röder, was der Mann gemeint hatte. Das Zimmer wurde nicht nur von Jagdtrophäen beherrscht, sondern auch von einem weißen, kuscheligen Teppich, der jetzt allerdings hier und da einige Dreckkrümel zeigte.
»Hast wohl deine Schuhe nicht ausgezogen?«, fragte Jörg Weber kritisch.
Schweigend schüttelte Röder den Kopf. Warum sollte er? So was war hier auf der Insel nicht Sitte. Auf Baltrum waren die Wohnungseinrichtungen mehr aufs Praktische ausgelegt.
»Pass auf, dass dich Elena nicht erwischt«, lachte der Jäger. »Komm, wir gehen rauf in mein Arbeitszimmer. Dort nimmt sie es mit der Sauberkeit nicht so genau. Und dort liegen die Listen.«
Röder hätte seiner Sandra ganz schön was gehustet, wenn er die eigenen Räume nur mit Socken hätte betreten dürfen. Er war froh, wieder aus dem Wohnzimmer rauszukommen. Am Abend zuvor hatte er bei seiner ersten Befragung des Jagdpächters mit ihm in seinem Büro gesessen. Aus dem Wohnzimmer war der Fernseher zu hören gewesen. Offensichtlich hatte es sich Elena dort gemütlich gemacht.
»Hier stehen alle drauf, die im Herbst und bis zum Ende der Jagdsaison als Gastjäger auf der Insel waren. Die Waffenbestände habe ich erst zum Teil übermittelt bekommen«, erklärte Jörg Weber. »Für Vollständigkeit kann ich letztlich nicht garantieren. Es ist immer möglich, dass die Leute ein geheimes Schätzchen im Schrank haben. Jäger sind schließlich auch nur Menschen. So wie du und ich. Der eine jagt Tiere und der andere, so wie du …«
»Könnte es eventuell sein, dass da ein klitzekleiner Unterschied besteht?« Röder musste sich schwer zusammennehmen. Manche Leute glaubten wohl, sie hätten nicht nur eine Jagd, sondern eine Generalgenehmigung für alles gepachtet.
»Die Liste.«
Röder überflog das eng beschriebene DIN-A4-Blatt. Es wimmelte von diversen Gewehr- und Munitionstypen. Nur die Sorte, die er auf der Liste der Baltrumer Jäger bereits vergeblich gesucht hatte, die fand er auch hier nicht. Sollte er tatsächlich Jörg fragen, wie Arndt es gewollt hatte, oder würde er damit nur schlafende Hunde wecken? Apropos Hunde – wo war Jörgs Hund? Er hatte ihn weder drinnen noch draußen gesehen.
Amir hatte vor längerer Zeit einmal versucht, auf der Straße mit dem Weimaraner Kontakt aufzunehmen, was dem Heidewachtel nicht gut bekommen war. Die Narbe an der Schnauze war auch nach Monaten noch gut zu erkennen gewesen. Jörg hatte damals behauptet, sein Hund hätte Amir nur angegangen, weil der nicht angeleint gewesen war und seiner sehr wohl. Da käme bei den Hunden dann Eifersucht und Aggression ins Spiel. Röder hatte ihm recht geben müssen. Trotzdem – der Jäger hatte seinen Hund nicht im Griff gehabt. Röder hatte es kaum ertragen können, seinen blutenden Hund im Arm zu halten. Damals war extra ein Tierarzt von Norderney herübergekommen und hatte Amir genäht. »Wo steckt Cicero?«
»Draußen in der Hütte. Wie es sich für einen Hund gehört.«
Amir würde sich bedanken, wenn er seinen Tag nicht im Kreise der Familie auf dem Sofa verbringen durfte. Röder tat Cicero leid. Aber der war nichts anderes gewohnt.
»Unsere Kriminaltechniker haben Patronenhülsen gefunden, die wir nicht zuordnen können. Wer schießt mit so was?« Er zog den Zettel mit der genauen Bezeichnung aus der Tasche und reichte ihn Weber.
».22kurz. Das sind Randfeuerpatronen, die zum Sportschießen eingesetzt werden. Sie sind nur für kurzläufige Waffen geeignet.« Jörg schüttelte den Kopf. »Zur Jagd benutzen wir andere Munition. Und Gewehre.« Er zeigte auf den verschlossenen Schrank in der Ecke des Zimmers. »Du hast sie gestern bereits gesehen. Als Munition benutzen wir meistens Schrot bei der Kaninchenjagd und Vollmantelgeschosse, wenn wir auf Rehwild gehen. Natürlich in Öko.« Er grinste. »Ohne Blei drin. Damit der Braten gesund ist, den wir auf den Tisch bringen. Aber wie gesagt, ich kann meine Hand nicht ins Feuer legen für meine Kollegen.«
»Alles klar. Wenn du neue Informationen hast, lass sie uns bitte zukommen. Und sollten dir ein paar Namen zum Thema Wilderei auf Baltrum einfallen – du weißt, wo du mich findest.« Er unterhielt sich noch einen Moment mit dem Jagdpächter, dann verabschiedete er sich.
Als Röder an der geschlossenen Wohnzimmertür vorbeikam, hörte er das Summen eines Staubsaugers. Er grüßte kurz zum Keiler hinauf und ging zurück zur Wache, sein Fahrrad holen. Reinhart Petri und die anderen Jäger waren als Nächstes dran.
Doch er wollte erst einmal hören, was seine Kollegen Neues in Erfahrung gebracht hatten.
Eilert sah zu ihm hoch, als er die Tür zur Wache öffnete. Neben ihm saß Arndt und tippte mit einer Schnelligkeit, die Röder ihm gar nicht zugetraut hätte, auf der Tastatur des PCs herum. Von Gero war nichts zu sehen. Konnte er gut mit leben. »Na, wie schaut’s aus?«
»Seeberg hat sich nicht blicken lassen«, sagte Eilert Thedinga. »Um den werde ich mich gleich mal intensiv kümmern. Was sagtest du – er arbeitet bei der Reederei?«
Röder nickte.
»Vielleicht kommt er in der Mittagspause zu uns. Ich rufe mal eben dort an.« Er wählte und bat darum, Seeberg sprechen zu können, doch zu seiner Überraschung wurde ihm gesagt, dass der heute nicht zur Arbeit erschienen war.
»Nicht mal abgemeldet hat er sich«, sagte die Mitarbeiterin und versprach, sofort Bescheid zu geben, wenn Enno Seeberg auftauchte.
»Eilert, du solltest ihn besuchen. Wir werden nicht warten, bis er von alleine wieder auftaucht. Seine Aussage gestern Nacht war mir einfach zu dürftig. Wenn du Hilfe brauchst, melde dich«, sagte Arndt Kleemann bestimmt, wandte sich dann an Röder. »Es scheint heute nicht unser Tag zu sein. Auch Melissa Harms habe ich nicht angetroffen. Bist du wenigstens erfolgreich gewesen?«
Röder erzählte seinem Kollegen von dem Gespräch mit dem Jagdpächter. »Du siehst, er war zwar da, aber so ganz viel Neues habe ich nicht erfahren. Bis auf die Information über die Munition gab es nichts. Ach ja, und dass man sich, wenn man sein Haus betreten möchte, die Schuhe ausziehen muss.«
»Immerhin etwas.« Arndt Kleemann lachte. »Was meinst du, hat deine Frau wohl …«
»Ich bin sicher.« Kurz darauf kam Röder mit einer Thermoskanne voll Kaffee und zwei Stück Apfelkuchen zurück. »Sandra ist zwar nicht da, aber sie hat vorgesorgt. Es steht sogar noch Reserve in der Küche.«
»Schön von Sandra. Wir haben zwei klasse Frauen, oder?« Arndt schaute ihn aufmerksam an. »Wenn wir uns gestärkt haben, versuchen wir noch einmal, Melissa Harms zu erreichen. Was anderes fällt mir im Moment nicht ein. Ich habe das Gefühl, wir stecken irgendwo fest. Ich sehe kein Licht am Ende des Tunnels.«
Röder war fast der Bissen im Halse stecken geblieben. Ob sein Freund und Kollege etwas ahnte? Was sollte das mit den ›klasse Frauen‹? Hatte er sich zu auffällig benommen? Mühsam nickte er, dann wandte er sich wieder intensiv Sandras selbstgebackenem Apfelkuchen zu. Doch er hatte keinen Appetit mehr.
*
Hajo Akkermann starrte traurig aus dem Fenster. Edith war tot. Die Frau, die ihn vor unendlich vielen Jahren auf der Insel willkommen geheißen hatte. Ihn mit offenen Armen empfangen hatte, als er seiner Heimatinsel Borkum den Rücken gekehrt hatte und nach Baltrum gezogen war. Er liebte das Leben auf einer Insel, nur war Borkum ihm damals schon zu groß geworden, zu voll und zu städtisch. Er hatte sich in Edith verliebt. Darum war er geblieben.
Er nahm ein Bild von der Anrichte. Ein Foto, das sie am Strand zeigte. Damals hatte es einen Strandfotografen gegeben. Der machte tagsüber Fotos und am nächsten Tag konnte man die Abzüge schon bei Stadtlander abholen. Längst Vergangenheit. Ediths Tochter, Romy, war damals ganz klein gewesen. Ein süßes Mädchen. Eine unbeschwerte Zeit.
Im Laufe der Jahre hatte Edith sich verändert. Das war wohl auch der Grund, warum sie sich getrennt hatten. Sie hatte immer ihren Kopf durchsetzen wollen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Wer ihr nicht passte, wurde abgewatscht. Das hatte er nicht mehr ausgehalten. Trotzdem hatte er immer ihren Lebensweg verfolgt. Genau zugehört, wenn sich auf der Insel mal wieder jemand über sie aufregte. Neulich erst hatte sie sich mit Melissa Harms gestritten, wie man erzählte. Auch mit dem Seeberg hatte sie wohl Krach gehabt, wenn man dem Inselklatsch glauben durfte. Selbst ihm war sie nur noch mit Misstrauen begegnet, nachdem sie ihn einmal unverhofft besucht und das tote Kaninchen in der Küche gesehen hatte. Sie hatte sogar angedeutet, dass sie ihn anzeigen würde.
Edith hat sich und ihren Mitmenschen das Leben nicht leicht gemacht, dachte er traurig. Im Laufe der Jahre ist sie immer schwieriger geworden.
Aber dass ihr Leben so endete, das bedauerte er aus tiefster Seele.
Er war gespannt, wann die Polizei bei ihm auftauchen würde.
*
Der Lesesaal oben im Rathaus war gerammelt voll. Einige Besucher mussten sogar nach Hause geschickt werden. Das hatte Tino Middelborg in seiner zugegebenermaßen kurzen Karriere als Bürgermeister von Baltrum noch nicht erlebt. Die Ratssitzungen hatten sich bisher nicht als Publikumsmagnet erwiesen.
Hinten rechts saßen die beiden Opitz, links, durch einige weitere Insulaner getrennt, Anke Hasekamp und Mark Tiesler. Die beiden schauten immer wieder herüber zu Ingeborg Opitz, die sich mit einem großen, braunen Umschlag Luft zufächelte. Einige Jäger, unter ihnen der Jagdpächter Jörg Weber, waren ebenfalls erschienen.
Die Luft stand warm und feucht über den Köpfen der Leute, vereinzelte Tropfen hinterließen Spuren auf den großen Fenstern. Werner Gronewald war bereits da und auch die Ratsherren waren erstaunlich pünktlich.
Der Ratsvorsitzende Oliver Abels klopfte energisch auf den Tisch, doch es dauerte eine Weile, bis es ruhig wurde. Er eröffnete die Sitzung und begrüßte den Gast aus Norden. Zaghafter Beifall und einige Buh-Rufe aus dem Publikum waren die Folge. »Bitte, meine Herrschaften«, wandte Abels sich an die Zuhörer. »Ich kann nach der Sitzung mit einer lebhaften Diskussionskultur leben. Aber jetzt bitte ich um Ruhe.«
Es wirkte. Alle schwiegen. Nur Ingeborg Opitz war aufgestanden und hatte einen Umschlag vor Middelborg auf den Tisch gelegt. »Ich muss Ihnen das hier unbedingt geben. Das ist wichtig für die Sitzung. Sie müssen es lesen. Sie – die Ratsherren und auch Herr Gronewald.«
Tino Middelborg ahnte, was sich darin befand: die paar Unterschriften, die von den Leuten tagsüber gesammelt worden waren. Sie hatten sich vor der Rathaustür aufgebaut gehabt. Er hatte sie freundlich, aber bestimmt verwiesen. Danach hatten sie sich auf dem Dorfplatz lautstark bemerkbar gemacht. Er war gespannt, wie viele Unterschriften zusammengekommen waren, würde aber einen Teufel tun, den Umschlag in diesem Moment zu öffnen.
Stattdessen ergriff er das Wort. »Frau Opitz, ich darf Sie darauf hinweisen, dass Sie nicht jetzt, sondern später Gelegenheit haben werden, sich zu äußern. Bitte gehen Sie zurück an Ihren Platz. Sollten Sie es dort nicht schweigend aushalten, verlassen Sie bitte den Raum.«
So, das saß. Ingeborg Opitz starrte ihn an, starrte, ging dann mit wackeligen Schritten zurück zu ihrem Stuhl. Konnte es sein, dass Hartmut Opitz’ Gesicht von einem feinen Lächeln überzogen war? Oder versah er sich?
Zumindest bei den anderen hatte diese Szene unüberhörbar für Erheiterung gesorgt. Das konnte wirklich spannend werden, wenn Oliver Abels die Lage nicht sofort wieder in den Griff bekam.
Doch zunächst ließ Abels das Protokoll der letzten Sitzung durch die anwesenden Ratsherren unterschreiben, ohne auf Ingeborg Opitz näher einzugehen. Was er bestimmt liebend gerne getan hätte. Zu ihren Gunsten. Schließlich wünschte sich der Mann nichts sehnlicher, als dass die Kaninchen von der Insel verschwänden.
Als Abels Punkt drei der Tagesordnung aufrief und Werner Gronewald bat, seine Meinung zum Kaninchenstreit zu äußern, wurde es wieder laut im Saal. Noch einmal klopfte der Ratsvorsitzende energisch auf den Tisch.
Gronewald wartete einen Moment, dann sagte er: »Ich freue mich, dass ich hier und heute vielleicht als Ihr Moderator handeln darf. Ich weiß, dass es unter Ihnen viele verschiedene Meinungen gibt, wie mit den Kaninchen umzugehen ist, doch ich möchte Sie ganz nüchtern damit vertraut machen, in welchem gesetzlichen Rahmen wir uns in dieser Frage bewegen. Lassen Sie uns auf die Paragrafen im Jagdgesetz zu sprechen kommen, bevor wir uns …«
»Scheiß auf die Paragrafen! Uns fressen die Viecher die Blumen weg.« Oliver Abels hatte den braunen Umschlag gegriffen und wedelte damit herum. »Was immer wir pflanzen, wird von den Karnickeln abgefressen. Und was die stehen lassen, holen sich die Rehe. Da brauchen Sie mir nicht mit Paragrafen zu kommen. Besser wäre es, Sie hätten einen großen Sack Gift dabei. Ein für alle Mal ausrotten, die Viecher. So muss es sein.«
Hartmut und Ingeborg Opitz klatschten Beifall. »Bravo, Oliver. Genau so. Kaninchen weg. Kaninchen weg!«, skandierten sie.
Tino Middelborg konnte es nicht fassen. Was war das denn für ein Affentheater? »Ich bitte um Ruhe«, schaltete er sich energisch ein. »Herr Abels, Sie als Ratsvorsitzender sollten mit gutem Beispiel vorangehen!« Sein Blick fiel auf Michael Röder, der sich offenbar sehr entspannt das Schauspiel ansah. Noch immer waren einzelne Stimmen zu hören. »Ruhe, verdammt noch mal. Sonst lasse ich den Saal räumen!« Er konnte noch lauter. Hatte viele Jahre im Sportverein eine Jugendmannschaft betreut. Da lernte man so was. »Können wir jetzt weitermachen? Herr Gronewald, bitteschön.«
»Es nützt nichts, wenn wir uns hier gegenseitig zerfleischen«, begann der Mitarbeiter des Landkreises erneut. »Ich will auf ein paar Tatsachen hinweisen, die wir nicht außer Acht lassen dürfen. Dass Sie, Herr Abels, und die anderen Herrschaften mit der jetzigen Situation nicht zufrieden sind, ist klar.« Gronewald nickte den beiden Opitzens zu. »Es ist jedoch auch eine Tatsache, wenn ich das richtig verstanden habe, dass es hier auf der Insel durchaus gegenteilige Meinungen gibt.«
»Das ist wohl wahr«, unterbrach einer der Ratsherren den Mann vom Festland. »Jedes Geschöpf hat das Recht zu leben. Aber davon einmal abgesehen – was meinen denn alle hier im Saal, wie die Gäste reagieren, wenn wir die Kaninchen kurzerhand vergiften? Eine schlimmere Negativwerbung kann es nicht geben. Das dürfte selbst den verbohrtesten Kaninchenmördern klar sein.«
Wieder entstand eine hitzige Diskussion. Ingeborg Opitz sprang auf. Die Hände zu Fäusten geballt, lief sie auf den Mann zu. »Du, du … du bist ja nur neidisch, weil du keinen Garten hast, du hinterhältiger …«
Tino Middelborg stöhnte, dann riss er sich zusammen. Er musste diese Sitzung zu Ende bringen, bevor es Tote gab. Er war sich nicht sicher, ob er sich wünschen sollte, dass Röder einschritt. Nein, das würde er schon ohne Polizeieinsatz hinkriegen. Wozu hatte man ihn als Bürgermeister gewählt? Und von Oliver Abels, dem Ratsvorsitzenden, der eigentlich durch den Abend hätte führen sollen, konnte er keine Neutralität erwarten. »Frau Opitz, würden Sie bitte den Raum verlassen. Es reicht jetzt!«
»Wie bitte? Sie wollen mich rausschmeißen, nur weil ich meine Meinung sage?« Ingeborg Opitz beugte sich über den Sitzungstisch, riss den Umschlag aus Abels’ Händen, zog zwei weiße Blätter heraus und schrie: »Da! Siebenunddreißig Unterschriften. Jawohl. Alle haben die Schnauze voll von den Viechern!«
»Raus!« Middelborg stand auf. »Ich unterbreche die Sitzung für eine Viertelstunde, um allen die Möglichkeit zu geben, sich zu beruhigen. Und Sie, Frau Opitz, schließe ich von der Sitzung aus.« Er schob seine Akten zusammen, klemmte sie sich unter den Arm und forderte die Mitglieder des Gemeinderates und Werner Gronewald auf, ihm zu folgen.
»Ich möchte das Thema in Ruhe behandeln«, erklärte er, nachdem sie sich in seinem Büro versammelt hatten. »Auch wenn die Meinungen hier konträr laufen, muss es doch eine einvernehmliche Lösung geben.« Zumindest hoffte er es, doch so unversöhnlich, wie sich die Ratsherren anschauten, hatte er da so seine Zweifel.
»Das wird es niemals geben. Oliver ist für den Abschuss, ich bin für das Leben. Wir beide sind Einzelkämpfer im Rat. Also ohne Mehrheit. Da stellt sich eben nur die politische Frage: Wer von den anderen steht hinter wem?«, fragte ein Ratsherr in die Runde.
»Aber ich hatte mehr Stimmen bei der Wahl. Schließlich bin ich Ratsvorsitzender und nicht du«, entgegnete Abels.
»Natürlich. Du mit deiner großen Familie und den ganzen Angestellten. Außerdem hat deine beknackte Mutter jeden auf der Straße angequatscht. Das ist es kein Wunder …«
»Nimm sofort das ›beknackte‹ zurück, sonst …« Oliver Abels hatte sich vor dem Mann aufgebaut, doch da er beinahe zwei Köpfe kleiner war, wirkte es eher komisch als bedrohlich, wie er mit geballter Faust vor ihm stand.
»Vielleicht wäre es wirklich sehr hilfreich, wenn ich noch einmal …«, machte Werner Gronewald einen erneuten Versuch, doch der Chef der BB, der Bürgerinitiative Baltrum, winkte ab.
»Ich glaube nicht. Diese beiden bekommen wir niemals unter einen Hut. Vergessen Sie’s. Wir fordern daher – im Sinne unserer Gäste und Insulaner: Fangen wir die Tiere ein und setzen sie am Festland wieder aus. Natürlich mit der entsprechenden Presse, versteht sich.« Stolz schaute der Mann in die Runde. »Natürlich ist uns klar, dass das nicht einfach wird. Aber diese Idee, die Idee der BB, sehe ich als einzige und beste Möglichkeit, unsere Zuschauer, die da draußen auf uns warten, einigermaßen beruhigt nach Hause zu schicken. Wir müssen es nur richtig – und vor allem geschlossen – verkaufen.«
Schweigen breitete sich im Bürgermeisterbüro aus. Nur die alte Wanduhr tickte unbarmherzig. Selbst Oliver Abels schien es die Sprache verschlagen zu haben.
Tino Middelborg sah sich bereits tage- und nächtelang vor einem der Kaninchenlöcher liegen und auf die Tiere lauern, sie sodann fest an den Ohren packen und in einer Kiste verstaut ans Festland zu schaffen. Ganz großes Kino. Das war einfach unausführbar, würde aber die Gemüter unter Umständen ein wenig beruhigen.
Werner Gronewald schüttelte den Kopf, als der Mann von der Bürgerinitiative noch einmal nachlegte: »Immerhin ist das Kaninchen am Festland in manchen Gegenden selten geworden. Da würde sich der eine oder andere Jäger bestimmt freuen, wenn er ein paar Tiere bekäme. Vielleicht sollten wir einen Wettbewerb unter den Gästen ausschreiben. Für jedes gefangene Kaninchen gibt es fünf Prozent Rabatt auf die Kurtaxe. Die Leute wären beschäftigt und die Tiere innerhalb einer Saison definitiv verschwunden.«
»Das klappt doch nie«, erklärte Oliver Abels abschätzig. »Es wird Jahre dauern. Wenn es nicht unmöglich ist. So schnell, wie die sich vermehren, können wir die gar nicht einfangen. Das ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Mit anderen Worten: Komplett dummes Zeug.«
Tino Middelborg hätte ihm gerne zugestimmt. Das Problem war nur, dass er keinen besseren Vorschlag hatte. Einen, der alle zufriedenstellte. Den gab es einfach nicht. Tatsächlich konnte es bei dieser Sache nur um Schadensbegrenzung gehen. »Was ist mit Vertagen?«, wagte er einen vorsichtigen Versuch. »Herr Gronewald wird uns – wie vorhin bereits angedeutet – mit den rechtlichen Möglichkeiten vertraut machen und wir denken ganz in Ruhe darüber nach.«
Es klopfte. Erst zögernd, dann heftiger. Der Bürgermeister öffnete die Tür einen Spalt weit und stolperte beinahe, als die Tür von außen mit einem Ruck aufgezogen wurde.
»Geht das hier nun bald weiter?« Eine der Zuschauerinnen blickte die Männer vorwurfsvoll an. »So warm ist es in der Halle auch nicht und wenn ihr nicht wollt, dass das gleich in eine komplette Hauerei ausartet, solltet ihr euch nach oben in den Lesesaal bewegen. Glaubt man nicht, dass Ingeborg Opitz gegangen ist. Solange Anke und Mark von den Proniggels dabei sein dürfen, wird die das Feld nicht räumen.«
Tino Middelborg nickte. »Wir kommen.« Dann wandte er sich an die Gemeinderatsmitglieder. »Geht schon mal vor. Ich muss eben noch für kleine Wüstenfüchse.«
»Tja, Angst drückt auf Darm, was?« Oliver Abels lachte.
»Nee«, erwiderte Middelborg. »Nicht Angst – Pflaumensaft.«
Als er auf den Flur trat, schlug ihm eine heiße Diskussion entgegen. Bevor ihn jemand ansprechen konnte, schob er sich an den Wartenden vorbei zur Toilette. Er atmete auf. Musste denn alles so schwierig sein? Er hatte genug um die Ohren mit den Saisonvorbereitungen.
Als er zurückkam, hatten sich alle bereits wieder in den Lesesaal verzogen. Fast alle. Vor der Glastür sah er Enno Seeberg, der ihn gespannt anschaute. »Kann ich helfen?«
»Vielleicht. Ist Gronewald noch drin?« Seebergs Stimme klang unangenehm kratzig. »Und Anke?«
»Kommen Sie mit rein. Wir finden bestimmt einen Platz für Sie. Und wenn es bei Ihrer Bekannten auf dem Schoß ist«, erwiderte Middelborg. Es wurde Zeit. Er musste wieder zu den anderen. Es gab noch einige Punkte abzuhandeln.
»Nein.« Enno Seeberg drehte sich um und verschwand so unauffällig, wie er gekommen war.
Dann eben nicht, dachte der Bürgermeister und stieg die Treppe hoch zum Lesesaal. Der Abend würde lang werden.