Читать книгу Baltrumer Kaninchenkrieg - Ulrike Barow - Страница 9

Montag

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»Meine Güte, was riecht das hier muffig.« Jörg Weber hätte sich liebend gerne die Nase zugehalten, doch um das kleine Holzfenster zu öffnen, brauchte er beide Hände. Es quietschte grässlich, als er den Flügel nach außen schob. Die hereinströmende Luft war zwar kalt, aber wenigstens frisch. »Ist schon eine ganze Weile her, dass wir hier waren«, sagte er zu Reinhart Petri.

»Kein Wunder. Die Jagdsaison ist seit zwei Monaten vorbei. Was sollten wir also hier?«

Vielleicht mal lüften, dachte der Pächter der Baltrumer Jagd und schaute sich in der Jagdhütte um. Das feuchte Frühjahr hatte seine Spuren hinterlassen. In den Ecken hatten dicke Spinnen Schutz vor dem Winter gesucht und in einem Glas, das auf dem Tisch vergessen worden war, klebten vertrocknete Schimmel­reste. An der Wand stand eine Waffentasche aus Kunststoff. Hatte einer seiner Jagdkollegen bei der letzten Jagd sein Gewehr hier vergessen? Das hätte ihm doch auffallen müssen. Er war der letzte gewesen, der den Raum am fünfzehnten Januar verlassen hatte, an Hasensilvester. Er nahm die Tasche hoch. Sie fühlte sich leicht an. Das kleine Schloss ließ sich ohne Probleme öffnen. Reinhart Petri schaute ihm neugierig über die Schultern, als er sie aufklappte. Sie war leer. Seltsam. Wer war, ohne seine Waffe zu schützen, mit ihr nach Hause gefahren? Seine Jagdkollegen von der Insel waren normalerweise sehr gewissenhaft, was ihre Gewehre anbelangte.

Er schaute genauer hin. Ein Namensschild war nicht zu sehen. Doch oben in der Ecke fand er zwei verwischte Zeichen, mit Faserstift geschrieben. Er meinte ein W und ein A zu entziffern, war sich aber nicht sicher. Er klappte die Tasche wieder zu. »Ich werde mal rumtelefonieren. Wie schaut’s aus? Holst du die Leiter?«

Ein Gast, der vor einigen Tagen durch die Dünen gewandert war, hatte ihm berichtet, dass ein paar Dachpfannen verrutscht wären. Jörg Weber hatte umgehend seinen Jagdkollegen angerufen. Der kannte sich mit so etwas aus. Ein geborener Handwerker. Petri war bei der Gemeindeverwaltung beschäftigt und hatte sich sofort bereit erklärt, sich um die Ziegel zu kümmern. Zumal er selbst Jäger war.

Die kleine Hütte am Ostende der Insel in den Dünen war ein beliebter Anlaufpunkt. Ob es die Hundezüchter mit ihren Weimaranern, die Falkner oder ganz normale Jagdgesellschaften waren, alle empfanden die Herbstjagden auf der Insel als etwas Besonderes.

Reinhart Petri nickte nur. Er war ein Stiller. Nicht reden – machen. Nach dieser Devise lebte und handelte er. Sehr zur Freude seiner Jagdfreunde. Jörg Weber erinnerte sich noch gut an den Tag, als die Tür der Jagdhütte dem Alter erlegen war und sich aus den Angeln gelöst hatte. Sofort war Reinhart zur Stelle gewesen, um zu helfen. Man kannte seine Einstellung zum Leben und nahm sie hin. Dass der Mann, wenn er sich tatsächlich mal zu einer Meinung hinreißen ließ, nicht immer auf positives Echo stieß, damit konnte der leben. »Du gehst aufs Dach?«

Reinhart Petri holte die Leiter aus dem Schuppen, stellte sie an der Regenrinne an und stieg hinauf. Dann schob er die Pfannen wieder an den richtigen Platz.

»Sind alle Pfannen in Ordnung? Oder müssen wir kaputte austauschen?«

Jörg Weber bekam keine Antwort. Reinhart hielt seine rechte Hand als Schutz vor der Sonne über die Augen und starrte in die Ferne.

»Hallo, Kollege, was ist mit dir?« Langsam wurde Jörg Weber ungeduldig. Außerdem war ihm kalt.

»Gib mal ein Fernglas.«

Der Jagdpächter wusste, dass es keinen Zweck hatte, zu fragen, warum Reinhart Petri es brauchte. Er ging zurück in die Hütte und holte das alte Zeiss, das noch von seinem Großvater stammte, aus dem Schrank. »Hier. Bin gespannt, was du mir berichten wirst.«

Reinhart Petri nahm das Fernglas und richtete seine Aufmerksamkeit auf ein Ziel vor den letzten Dünen am Ostende. Zumindest deutete der Jagdpächter diese Richtung so, wenn er dessen Blicken folgte.

»Da liegt was Größeres. Und Möwen und Krähen kreisen darüber. Schätze, das sollten wir uns mal ansehen«, sagte Reinhard Petri bedächtig.

»Ein Reh? Konntest du nichts Genaues erkennen?«

Reinhart Petri schüttelte den Kopf. »Kein Reh. Es sei denn, es wäre ein Reh mit Klamotten an.« Seelenruhig stieg er die Leiter herunter.

»Was sagst du da?!« Das durfte nicht wahr sein. »Nun sag schon, was ist los?« Jörg Weber war versucht, seinen Kumpel an der Jacke die letzten Stufen nach unten zu ziehen. Wie konnte der Mann nur so ruhig bleiben, während womöglich jemand in den Dünen lag und Hilfe brauchte? Um diese Jahreszeit würde es sich bestimmt nicht um ein verliebtes Pärchen handeln, das Freiluftübungen machte.

»Da liegt jemand. Wir sollten nachsehen«, sagte Reinhart Petri nur, aber da hatte sich Jörg Weber schon auf den Weg gemacht.

Reinhart Petri folgte ihm gemächlich.

Nach gut zehn Minuten Fußmarsch empfing sie am Rand der Dünen ohrenbetäubender Lärm, als sie sich einer Senke näherten. Vor ihnen flogen wohl zwanzig Vögel auf, drehten eine kleine Runde, nur um sich gleich danach, wütend krächzend ob der Störung, wieder der Nahrung zuzuwenden.

»Edith«, flüsterte Jörg Weber fassungslos und zog sein Handy aus der Tasche.

*

»Michael? Kannst du bitte mal kommen?«

Hauptkommissar Michael Röder schreckte auf, als er die Stimme seiner Frau hörte. Nicht zum ersten Mal dachte er darüber nach, dass es nicht immer von Vorteil war, seinen Arbeitsplatz direkt neben der Wohnung zu haben.

Er hatte sich vor gut einer Stunde in die kleine Wache zurückgezogen. Es war ruhig auf der Insel, so hatte er sich mit Papierkram beschäftigt, im PC herumgeblättert und nachgedacht. Zum Beispiel über ihren großen Einsatz im letzten Sommer. Ein Toter hatte im Rosengarten gelegen und sie hatten die Aufgabe gehabt, den Täter zu finden. Sie – das waren unter anderem sein Freund, Hauptkommissar Arndt Kleemann und Marlene Jelden, Kommissarin aus Esens, gewesen. Marlene. Die Frau, die sein Leben durcheinandergewirbelt hatte und monatelang keinen vernünftigen Gedanken in seinem Hirn zugelassen hatte. Nach dem Einsatz hatte sie die Insel verlassen.

Sie hatten sich danach noch einige Male am Festland getroffen. Besser war’s dadurch nicht geworden. Nach einem schönen Abend, den sie gemeinsam in Papenburg verbracht hatten, hatte er die Beziehung beendet. Er konnte es nicht mehr ertragen. So zwischen den Welten. Marlene hatte nie eine Entscheidung gefordert. Er hatte trotzdem eine getroffen. Zumindest nach außen. Er fuhr nicht mehr öfter als notwendig ans Festland. Erfand keine Ausreden mehr für seine Frau.

Und doch saß er in manchen Stunden an seinem Schreibtisch und fühlte sich in einer völlig fremden Welt. Der Polizist sprach mit keinem darüber. Schon gar nicht mit seinem Freund Arndt. Der war überzeugt davon, dass man Berufliches und Privates nicht miteinander mischen sollte. Wenn der wüsste! – Nee, besser nicht.

Langsam, mit den Monaten, gewann er Abstand. Sein ständiges Mantra, dass so alles besser sei, begann zu wirken. Schließlich war es nicht so, dass er Sandra nicht liebte. Im Gegenteil. Er war eben einfach nur in die Scheißsituation geraten, zwei Frauen zu lieben. Und diese Situation wünschte er seinem ärgsten Feind nicht. Er knallte den Kugelschreiber auf den Schreibtisch. Egal. Was soll’s. Anderes Thema. Heute Nacht würde er wieder einmal losziehen. Sperrstundenkontrolle.

Als das Telefon klingelte, hatte sich seine Laune kaum gebessert. »Polizeistation Baltrum. Röder.«Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Kaum ein Jahr war vergangen, und nun sollte schon wieder eine Leiche auf der Insel liegen?! Beinahe am äußersten östlichen Zipfel. Sollte er erst allein rausfahren und schauen, was sich hinter Jörg Webers Geschichte verbarg? Blödsinn. Der Mann war Jäger. Der wusste, ob er Tote oder Lebende vor sich hatte. Egal, ob bei Mensch oder Tier.

Röder telefonierte mit der Leitstelle in Wittmund, die für Notfälle in beinahe ganz Ostfriesland zuständig war. Es würde auf jeden Fall ein Feuerwehrfahrzeug mit Allradantrieb mit ausrücken müssen. Der Kranken­wagen hätte es schwer, falls sie tiefer in die Dünen mussten.

Er zog seine Jacke an, als seine Frau den Kopf durch die Tür steckte.

»Michael, schläfst du? Ich habe dich gerufen. Ich brauche deine Hilfe.«

»Tut mir leid. Ich habe einen Notfall. Kann später werden.«

Sie schaute ihn aufmerksam an. »Was Ernstes?«

Er nickte. »Edith. Sie soll mit einem Loch in der Stirn in den Dünen liegen.« Er konnte es ihr ruhig erzählen. Sie würde nichts weitergeben.

Sandra Röder wurde blass. »Edith Oligs? Wie …«

»Ich muss los.« Er verließ die Wache und schnappte sich sein Fahrrad. Als er am Inselmarkt vorbeifuhr, kam von der Turnhalle her ein metallisches Scheppern. Dann noch eins. Die Kollegen vom Rettungsdienst hatten die Tore geöffnet. Er hörte den Motor des Krankenwagens anspringen. Sie würden vermutlich eher als er auf seinem in die Jahre gekommenen Dienstfahrrad die Einsatzstelle erreichen. Jörg Weber hatte versprochen, Reinhart Petri zum Katastrophenweg zu schicken, um die Einsatzkräfte zum Fundort der Leiche zu dirigieren.

Tatsächlich, als er den Friedhof erreicht hatte, wurde er vom Krankenwagen überholt. Maik Bernhard, der Fahrer, bremste neben ihm, fuhr ganz langsam weiter und ließ sich von Michael Röder die neuesten Informationen geben. »Sollen wir dich mitnehmen?«, fragte Bernhard zum Schluss. »Dann lass dein Rad hier stehen und steig ein.«

Der Inselpolizist war versucht, das Angebot anzunehmen. Besser schlecht gefahren als gut gestrampelt. Aber dann winkte er ab. »Wer weiß, wo ich das Rad brauche. Und wenn ihr einen weiteren Einsatz habt, darf ich womöglich zu Fuß zurücklaufen. Nein, vielen Dank. Fahrt los. Ich bin gleich da.« Er wusste, dass das mit dem ›gleich da‹ ziemlich übertrieben klang, aber irgendwie musste er sich Mut machen. Außerdem hatte er es gar nicht so eilig, an den Einsatzort zu kommen. Er hatte bereits einmal erlebt, was Möwen und Krähen mit einem Toten anrichten können.

Er fuhr am BK-Heim vorbei, dann am Gelände des Niedersächsischen Turnerbundes. Als er auf den Katastrophenweg einbog, registrierte er zufrieden, dass der fest und leicht befahrbar war. Jahre zuvor hatte diese Zuwegung zum Osten der Insel ihrem Namen alle Ehre gemacht. Ausgekolkt und hügelig war sie eine Herausforderung für Mensch und Maschine gewesen.

Ganz am Ende sah er den Krankenwagen. Er legte noch einen Tritt zu. Hinter ihm wurde das Brummen des Feuerwehrfahrzeuges lauter. Er oder ich, dachte Röder. Für zwei reicht die Breite hier kaum. Doch kurz bevor der Landrover ihn eingeholt hatte, sah er Reinhart Petri am Wegesrand stehen.

Michael Röder schnaufte, als er vom Fahrrad stieg. War doch ganz schön anstrengend.

»Sie liegt da vorne.« Petri zeigte auf etwas, das ungefähr hundert Meter vom Katastrophenweg entfernt sein musste. Genau dort, wo Röder auch Ellen Neubert in einer Senke verschwinden sah. Er atmete noch einmal tief durch, dann rannte er los. Er musste aufpassen, überall hatten Kaninchen ihre Höhleneingänge ins Erdreich gebuddelt. Manche Löcher waren sehr offensichtlich, mit einem Haufen Erde davor, manche mit den Jahren bereits überwachsen und leicht zu übersehen.

»Michael, hierher!« Jörg Weber winkte. Er wirkte angespannt. »Sie ist erschossen worden.«Die Tote sah nicht so schlimm aus, wie Röder befürchtet hatte. Die Vögel hatten natürlich ihre Spuren an Gesicht und Händen hinterlassen, trotzdem war das Einschussloch in der Stirn noch gut zu erkennen.

»Nun geht der Krieg in eine neue Runde.«

Röder drehte sich um und sah Gemeindebrandmeister Axel Meinders mit seinen Leuten ankommen. »Was willst du uns damit sagen?«, fragte der Inselpolizist.

»Na, hör mal, das dürfte doch an dir nicht vorbeigegangen sein, was sich in den letzten Wochen, nein, Monaten auf Baltrum aufgebaut hat. Wer sich da mit wem beharkt. Und Edith war eine der Schlimmsten«, erklärte der Gemeindebrandmeister.

»Das ist wohl wahr«, bestätigte der Jagdpächter eifrig. »Da ist sie jemandem zu sehr auf den Schlips getreten.«

»Hallo, Leute, ein bisschen mehr Respekt bitte. Noch wissen wir gar nichts«, versuchte Röder sie zu beruhigen. Aber auch er glaubte nicht, dass Edith Oligs sich selbst erschossen haben könnte.

Dr. Neubert hob den Kopf der Toten an. »Schau mal, Michael. Dort ist das Geschoss wieder ausgetreten.« Sie zeigte auf eine blutverschmierte Stelle am Hinterkopf. »Das Projektil könnte hier noch irgendwo rumliegen, wenn es der Schütze nicht mitgenommen hat.«

»Wir werden uns gleich das Gelände näher ansehen. Die Kollegen von der Feuerwehr helfen sicher.« Michael Röder sah Axel Meinders nicken. »Aber zuerst spreche ich mit Aurich. Dann können die Kollegen dort schon mal ihre Köfferchen packen. Und natürlich muss Ediths Tochter in Hamburg benachrichtigt werden. Scheißaufgabe.«

*

Tino Middelborg schaute fassungslos auf die geschlossene Bürotür. So, als ob dort des Rätsels Lösung zu finden wäre. Das war nun schon der zehnte Anruf besorgter Gäste, die sich erkundigten, ob es auf der Insel noch sicher sei. Er hatte zwar das Gefühl, dass er bis jetzt die meisten Befürchtungen hatte entkräften können, doch das letzte Telefonat hatte ihn Nerven gekostet. Der Mann hatte doch tatsächlich wissen wollen, ob man den Insulanern nicht alle Schuss­waffen wegnehmen könnte. Damit so was nicht wieder passiere. Man habe schließlich als Stammgast große Sorge, dass Mensch und Tier auf der Insel in absehbarer Zeit ausgerottet würden, wenn das so weiterginge. Und was denn mit den Rehen sei? Ob die ebenfalls auf der Abschussliste stünden?

Der Bürgermeister hatte mit Engelszungen auf den Mann eingeredet und dann Thea Holle, sein bestes Stück im Vorzimmer, gebeten, in den nächsten Stunden keinen Anruf mehr durchzustellen. Dabei war das sonst nicht seine Art. Bürgernähe war sein oberstes Gebot. Aber er musste selbst erst einmal seine Gedanken klar bekommen. Unglaublich, wie schnell sich der Tod von der Oligs rumgesprochen hatte. Sogar bis ans Festland. Dank sozialer Netzwerke war das kein Problem mehr. Dabei brachte die beginnende Saison auch ohne Todesfälle genügend Arbeit mit sich. Alles musste aus dem Winterschlaf geholt, die Turnhalle wieder zum Haus des Gastes umfunktioniert werden. Das hieß putzen, Stühle aufstellen und die Bühne aufbauen. Das Kinderspielhaus musste für die kleinen Gäste aufgehübscht werden. Dazu kam der Streit um die Kaninchen, der immer groteskere Formen annahm. Vornehmlich zwischen den selbsternannten Rettern der Pflanzenwelt und den Proniggels. Inzwischen wurde dieser Krach nicht mehr inselintern ausgetragen, sondern Medien hatten sich darauf gestürzt und ein Horrorszenario von toten Tieren an die Wand gemalt. Die Baltrumer Jäger, die sich bis jetzt erstaunlich zurückhaltend gezeigt hatten, wurden langsam sauer. Denn auch sie standen im Fokus der Öffentlichkeit.

Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte man die Sprecherin und selbsternannte Vorsitzende der Proniggels mit einem Kopfschuss – ihm kam das Wort ›erlegt‹ in den Sinn – in den Dünen gefunden.

Seine Vorgängerin im Amt hatte ihm ein ganz schönes Pfund hinterlassen, als sie im letzten Herbst die Segel gestrichen hatte und nach Jamaica ausgewandert war. Es war ihm immer klar gewesen, dass der Job als Bürgermeister und Kurdirektor nicht einfach sein würde, obwohl die Insel klein war. Aber solch einen Saisonbeginn hatte er sich nicht träumen lassen.

Er schaute auf die alte braune Bürouhr, die sicher schon unter vielen Bürgermeistern gedient hatte. Es wurde Zeit, zum Schiff zu gehen und Werner Gronewald abzuholen.

Das Telefon klingelte. Hatte er nicht …? Egal. Es musste wichtig sein, wenn Thea Holle durchstellte. »Middelborg.« Er lauschte einen Moment, dann erklärte er: »Ich bin ebenfalls gleich am Hafen. Dann können wir reden.«

Gerade als er beim Nationalparkhaus links abbiegen wollte, hörte er seinen Namen. Ingeborg Opitz stand mitten auf der Straße und winkte ungestüm. »Herr Middelborg, Herr Middelborg, halten Sie an.«

Nicht die Opitz. Die reichte ihm schon zu normalen Zeiten. Aber es nützte nichts. Wenn er weiterfuhr, würde sie ihn bis zum Hafen verfolgen und dann gab es kein Entkommen. Es sei denn, er würde sich ins Hafenbecken stürzen und nach Norderney rüber­schwimmen. Was schwierig war. Und um diese Jahreszeit ein wenig zu kalt!

Er bremste und sprang vom Rad. Das Schiff sah er gerade an der Ostspitze der Nachbarinsel vorbeifahren. Ihm blieb also ein wenig Zeit, bis es anlegte. »Ich grüße Sie, Frau Opitz.« Er bemühte sich um größtmögliche Freundlichkeit. »Was kann ich für Sie tun?«

»Machen Sie dem Röder Dampf. Der soll sich um meinen Zaun kümmern!«

»Sie meinen Michael Röder? Der ist meines Wissens hier Polizist und kein Handwerker.«

»Mein Gott ja, darum geht es doch!«, antwortete sie scharf. »Jemand hat meinen Zaun zerstört. Das ist eine Straftat.«

»Ich bin sicher, dass er sich Ihren Zaun ansehen wird. Doch im Moment hat er vielleicht Wichtigeres zu tun.« Er merkte, dass sein Erklärungsversuch einfach an dieser Frau abprallte. »Sie werden gehört haben, dass …«

»Natürlich. Aber Edith ist tot. Fertig. Also kann er sich jetzt auch …«

Es widerte ihn an. »Er wird sich schon kümmern«, sagte er knapp und machte, dass er wegkam.

»Herr Middelborg. Warten Sie! Unverschämtheit!«, begleitete ihn ihre gehässige Stimme fast bis zum Reedereigebäude.

Sie würde ihm ziemlich sicher folgen. Er musste unbedingt Michael Röder warnen. Er blickte sich um und sah ihn neben dem Wartehäuschen stehen. »Hallo, Herr Röder. Bevor Sie etwas sagen – gerade hat …«

Zu spät. Ingeborg Opitz hatte ihn eingeholt und bremste mit quietschenden Reifen.

»Da habe ich genau die Richtigen«, begann sie lauthals, doch Middelborg fiel ihr ins Wort.

»Frau Opitz! Nicht jetzt.« Middelborg bemerkte große Aufmerksamkeit in den Gesichtern der Umstehenden. »Wenn Sie etwas mit mir zu besprechen haben, dann kommen Sie in mein Büro. Sollten Sie mit Herrn Röder reden wollen – er ist später auf der Wache zu finden.« Ob es die Hausmeister der Hotels waren, die junge Frau vom Kutschenbetrieb oder der eine oder andere Vermieter, alle hatten sich zu ihnen umgewandt und warteten gespannt, wie die Auseinander­setzung weiterging. Es war ihm egal. Man kannte ihn als ausgleichend, freundlich. Aber in diesem Fall versagte seine Freundlichkeit.

»Sie wollen mir doch nicht vorschreiben, was ich zu tun habe«, fuhr Ingeborg Opitz ihn an. »Wer sind Sie überhaupt? Erst ein halbes Jahr hier und schon wollen Sie wissen, wie der Hase läuft. Von Insulanern haben Sie doch keine Ahnung. Und ich Idiot habe Sie auch noch gewählt.«

Zu dieser Argumentation fiel ihm nun gar nichts mehr ein. Als sie ihn gewählt hatte, war ihr doch klar gewesen, dass er kein Insulaner war, sondern vom Festland kam. Warum hatte sie ihr Kreuz bei ihm gemacht? Dann hätte sie besser ihre Wahl zwischen den beiden Inselkandidaten treffen können. Vielleicht würde er sie mal danach fragen. Irgendwann. Wenn sich die Lage beruhigt hatte.

»Ingeborg, Du solltest dich jetzt besser zurückhalten.« Michael Röder hatte sich vor der erbosten Frau aufgebaut. »Natürlich werde ich mich um deinen Zaun kümmern. Immer und immer wieder. Genau, wie ich es gestern nach deinem Anruf gemacht und die Anzeige aufgenommen habe. Aber jetzt muss ich erst meine Kollegen vom Festland abholen. Prioritäten setzen nennt man so etwas. Und wenn du das nicht verstehst, kann ich dir auch nicht helfen.«

Mit einem Ruck zog Ingeborg Opitz ihr Fahrrad zur Seite. Im Umdrehen fauchte sie: »Wie schön, dass du noch Vorgesetzte hast, lieber Michael. Die werden sehr interessiert registrieren, was ich denen zu sagen habe.« Mit Schwung bestieg sie ihr Fahrrad und ließ zwei kurzzeitig sprachlose Männer zurück.

»Wechseljahre.« Thomas Claaßen nickte bedeutungsvoll. »Ich sage nur: Wechseljahre. Kenne ich von meiner Helma.«

Middelborg hatte ihn gar nicht näherkommen sehen. Er wunderte sich. Als Gemeindemitarbeiter sollte Claaßen eigentlich damit beschäftigt sein, in der Mehrzweckhalle die restlichen Strandkörbe fit für die Saison zu machen. Aber offensichtlich führte dieser Mann in seiner Arbeitszeit ein Eigenleben. Diese Leute muss ich unbedingt besser in den Griff kriegen, nahm er sich vor. Doch nicht jetzt. Nicht noch ein Drama. Der Tag war bis jetzt der anstrengendste in seiner jungen Laufbahn als Bürgermeister gewesen. Der musste nicht mit einer dienstlichen Diskussion in aller Öffentlichkeit gekrönt werden. Aber ein: »Na, schon Feierabend?«, konnte er sich nicht verkneifen.

»Wie man’s nimmt«, war Claaßens Antwort. »Überstundenabbau. Muss Gäste abholen.«

Wenn der Mann auch viel konnte: In ganzen Sätzen sprechen offensichtlich nicht. Das mit den Überstunden würde sich Middelborg genau ansehen. Er hegte leichte Zweifel.

»Kommen Sie«, wandte er sich an Michael Röder. »Da hinten ist es ruhiger. Sie meinten eben am Telefon, Sie hätten Neuigkeiten?«

Der Inselpolizist folgte ihm einige Meter Richtung Pegelanlage zur der Stelle, wo normalerweise das Ausflugsschiff Baltrum III anlegte. Das allerdings schien unterwegs zu einer Fahrt rund um die Insel zu sein. Die große Fähre, die Baltrum I, bog gerade in die Hafeneinfahrt.

»Wer kommt gleich?«, fragte er Röder.

»Die Spurensicherung und meine Kollegen aus Aurich. Dazu mein Hilfssheriff, Eilert Thedinga aus Grotegaste. Der wird sich wundern, was hier los ist. Und was ich Ihnen sagen wollte: Ich habe zwei herren­lose Fahrräder an den Hintereingang vom Rathaus gestellt. Für das Fundbüro.«

»Alles klar. Kümmere ich mich drum.« Als Bürgermeister dieser kleinen Insel war er offensichtlich für alles zuständig. Ob Strandkörbe, herrenlose Fahrräder ….

»Ich habe übrigens wegen der Fahrräder den Leiter des Fundbüros anrufen wollen. Der war aber nicht da.«

»Schon gut, ich gebe es weiter.« Tino Middelborg blickte den Polizisten freundlich an. »Gibt es sonst was Neues?«

»Wegen der Toten?« Michael Röder schüttelte den Kopf. »Nach erstem Anschein ist sie erschossen worden. Aber letztendlich können uns nur die Mediziner in Oldenburg nach einer genauen Untersuchung etwas sagen.«

»Na ja, sie wird nicht gleichzeitig vergiftet und erschossen worden sein«, erwiderte Middelborg.

»Hat es alles schon gegeben. Obwohl ich das nicht glaube, werde ich mich hüten, eine Aussage dazu zu machen«, erklärte Röder. »Warten wir es also gelassen ab.«

»Sie sind gut. Gelassen!« Middelborg erzählte dem Polizisten, wie bei ihm die Telefone heißliefen. »Am besten wäre es, wenn wir bei allen Insulanern eine gründliche Hausdurchsuchung machen und alles beschlagnahmen würden, was auch nur ansatzweise wie ein Mordinstrument aussieht.«

»Da würde sich meine Sandra aber ganz schön bedanken, wenn sie in Zukunft ohne Küchenmesser auskommen sollte.« Michael Röder lächelte. »Ich möchte im Moment echt nicht mit Ihnen tauschen. Das ist bestimmt nicht einfach. Ich hoffe mal, dass wir schnell Ergebnisse haben.«

Werner Gronewald kam als Erster vom Schiff. Middel­borg hatte ihn im Herbst bereits einmal getroffen. Bei der Deichschau. Kurz nachdem er seinen Bürgermeisterposten angetreten hatte.

»Schön, dass Sie da sind«, begrüßte er ihn freundlich. »Gehen wir zu mir nach Hause. Im Büro haben wir keine ruhige Minute.« Er berichtete Gronewald kurz, was auf der Insel passiert war.

Werner Gronewald deutete auf eine Gruppe, die zielstrebig auf den Inselpolizisten zulief. »Habe mir schon gedacht, dass etwas passiert sein muss. Die Herren sehen so offiziell aus. Gar nicht wie Urlauber. Besonders der mit der schwarzen Aktentasche. Kennen Sie die?«

»Nein. Der letzte Mordfall war vor meiner Amtszeit«, sagte Middelborg.

»Aber Sie denken nicht im Ernst, dass hier so eine Art – wie soll ich es nennen – ›Mörderischer Kaninchen­krieg‹ ausgebrochen ist?«, fragte Gronewald.

»Ich hoffe nicht«, erwiderte der Bürgermeister. Er stellte Gronewalds Tasche in seinen Fahrradkorb. »Schön, dass es heute schon klappt mit unserem Treffen. So haben wir bis zur morgigen Ratssitzung Zeit, um Informationen auszutauschen.«

»Sie sind aber nicht der Einzige, der um ein Gespräch gebeten hat«, erklärte Gronewald. »Sie wissen, wer Enno Seeberg ist? Ich habe mit ihm in Norden meine Ausbildung gemacht. Vor vielen Jahren. Und genau der hat mich heute Morgen angerufen, weil er mich sprechen wollte. Er sagte etwas von ›der Wahrheit die Ehre geben‹ oder ähnliches.«

Middelborg überlegte. »Der arbeitet im Büro bei der Reederei, oder? Und – ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich habe den Mann hin und wieder mit Anke Hasekamp gesehen. Und die ist Vorkämpferin für unseren Kaninchenbestand.«

»Na, da bin ich gespannt, was der von mir will«, überlegte Werner Gronewald.

»Ich auch. Möchten Sie sofort mit ihm sprechen?«, fragte Middelborg, als sie am Reedereigebäude vorbeigingen.

Gronewald winkte ab. »Nein. Ich habe mich mit ihm für heute Abend in der Alten Liebe verabredet. Sie wissen schon, das Angenehme mit dem Nützlichen …«

*

»Sag, dass das nicht stimmt.« Arndt Kleemann schaute seinen Baltrumer Kollegen und Freund voller Unglauben an. »Ich habe ja schon viel erlebt, aber glaubst du wirklich, dass das der Grund sein könnte?«

»Ich weiß es nicht. Aber der Streit zwischen den beiden verfeindeten Gruppen bietet sich an, oder nicht?« Michael Röder und die anderen Polizisten saßen in der kleinen Baltrumer Wache. Röders Blick fiel zufrieden auf Gero Schonebeck. Er mochte den Mann aus Aurich, der bereits zwei Jahre zuvor ein Mitglied des Ermittlungsteams gewesen war.

Er hatte fest damit gerechnet, dass Klaus Kockwitz wieder auf der Insel erschien. Ein unangenehmer Mensch, voller Vorurteile und nicht gut zu ertragen. Aber der lag im Bett. Fahrradunfall. Röders Bedauern darüber hielt sich in Grenzen.

»Also fassen wir zusammen: Da gibt es die Proniggels …«

Gero Schonebeck fing an zu lachen. Erst verhalten, dann prustete er laut heraus. »Tut mir leid, Freunde. Ein echt irrer Name. Zeugt von absoluter Ernsthaftigkeit bei der Verfolgung großer Ziele!«

»Gero! Bitte!«Es half nichts. Mochte der Anlass ihres Beisammenseins auch tragisch sein – die drei Männer brachen in lautes Gelächter aus.

Gerade in diesem Moment öffnete Eilert Thedinga die Tür zur Wache. »Was ist denn hier …?« Ratlos schaute er in die Runde.

»Jungs, kommt. Wir müssen uns auf die Arbeit konzentrieren.« Arndt Kleemann schlug mit der flachen Hand auf den abgenutzten Bürotisch. »Eilert, hast du dein Gepäck in die Dienstwohnung gebracht?«

Eilert Thedinga nickte. »Auspacken kann ich später.«

Die Polizisten waren vom Schiff aus direkt in die Dünen gefahren. Gemeindebrandmeister Meinders hatte den Landrover zur Verfügung gestellt. Noch war es für die Arbeit der Spurensicherung hell genug gewesen. Die Experten hatten die Insel wieder verlassen, nachdem sie Edith Oligs und den Fundort der Leiche begutachtet hatten. Viel hatten sie nicht sicherstellen können. Genauer gesagt eigentlich gar nichts, was erste Hinweise auf den Täter oder die Täterin hätte geben können. Einige Patronenhülsen von Jagdmunition aus dem Umfeld der Leiche waren in die Sicherungsbeutel gewandert. Man würde sehen, ob sich aus dem Einschussloch in der Stirn der Toten neue Erkenntnisse ergeben würden. Der Leichnam von Edith Oligs war auch auf dem Schiff gewesen, mit dem die Spurensicherer die Insel verlassen hatten.

»Das Opfer hatte also keine Verwandten?«, fragte Gero Schonebeck seinen Baltrumer Kollegen.

»Na ja, bis auf ihre Tochter. Die lebt allerdings nicht hier. Sie ist Künstlerin. Macht in Bernsteinschmuck und hat einen Laden in Hamburg«, erklärte Röder. »Edith Oligs hat allein und zurückgezogen gelebt. Laut konnte sie nur werden, wenn es um die Belange der Tiere ging. Vornehmlich der Kaninchen, die, wie gesagt, lange nicht bei allen Insulanern gerne gesehen sind. Da kannte die Oligs keinen Kompromiss. Sie hat sogar mal bei einer der letzten Jagden mit einem Mega­phon in den Dünen gestanden und laut geschrien. Das war für die Jagd natürlich nicht so positiv. Jörg Weber ist stinksauer gewesen damals.«

»Dann sollten wir uns also bei den Jägern umsehen«, schlug Gero Schonebeck vor.

»Sicherlich. Und bei denen, die am liebsten alle Kaninchen von der Insel weghätten. Jemand wie Ingeborg Opitz, ihr Mann Hartmut, Oliver Abels …« Michael Röder erzählte, was den Krokussen in Opitz’ Garten passiert war. »Ihr glaubt nicht, wie wütend die war.«

»Wer ist Oliver Abels?«, fragte Arndt Kleemann.

»Ach, eigentlich ein ganz Netter. Hotelier. Gemeinde­ratsmitglied. Allerdings rennt er seit Jahren einer Idee hinterher. Er will unbedingt mitmachen bei Unser Dorf hat Zukunft. Und darum will er sich von den Kaninchen verabschieden. Weil die Buddellöcher das Gesamtbild erheblich beeinträchtigen, wie er pausenlos zu verstehen gibt. Der Mann hat viele Anhänger hier.«

»Aber wem könnte die Oligs so auf den Schlips getreten sein, dass man sie gleich umbringt?«, fragte Gero Schonebeck.

»Das sollten wir möglichst schnell herausfinden«, antwortete Thedinga. »Nicht, dass es zum guten Schluss zum Showdown der diversen Gruppen mit Lanze und Machete kommt und die Sieger die Verlierer in die Nordsee treiben.«

»Also, bei wem fangen wir an?« Arndt Kleemann war aufgestanden.

»Du und Gero, ihr nehmt euch die Proniggels vor«, schlug Röder vor. »Eckdaten gebe ich euch. Eilert spricht mit dem Ehepaar Opitz und ich unterhalte mich mit Jörg Weber und seinen Leuten. Es ist zumindest erst einmal die naheliegendste Maßnahme. Sollten wir in diesem Umfeld auf dem völlig falschen Dampfer sein, werden wir es schon merken.«

»Hoffentlich rechtzeitig. Werden wir die Truppe einbestellen?« Gero Schonebeck schaute sich um. »Dürfte ziemlich eng hier werden.«

»Ich denke, wir versuchen die Leute zu Hause anzutreffen. Dann haben wir einen besseren Überblick. Lebensverhältnisse und so«, erklärte Arndt Kleemann. »Wen wir nicht erreichen, dem hinterlassen wir eine Nachricht. Der soll sich dann bei uns melden.«

»Alles klar.« Gero Schonebeck nahm seine Leder­jacke von der Garderobe.

Michael Röder bezweifelte, dass die Jacke für Baltrumer Wetterverhältnisse geeignet war. Es war kühl und ein kräftiger Wind fegte Regentropfen quer über die Insel. Er hatte eine alte Dienstjacke im Schrank. Sollte er …? Nein, sie würde Gero nicht passen.

»Also, Namen und Adressen.«

Wenn Eilert Thedinga wüsste, mit was für einer Furie er es in Kürze zu tun hatte, wäre der bestimmt nicht so eifrig, dachte Röder und erklärte den Männern, wie sie fahren mussten. »Mit ›Adresse‹ dürfte es schwierig werden. Zumindest mit Straßenbezeichnungen. Da sage ich euch nichts Neues. Hier haben wir Haus­namen und Hausnummern.« Er zog einen Plan aus der Schreibtischschublade und kreuzte die jeweiligen Lagepunkte der Häuser an. »Ich hoffe, ihr kommt damit klar. Sonst ruft mich an.«

Zum Glück kannte Arndt sich einigermaßen auf der Insel aus. Röder holte drei Fundfahrräder aus dem Gartenhäuschen. Er atmete auf, als er sah, dass sie betriebsbereit waren. Sogar das Licht funktionierte bei allen. Die Sorge um die Räder überließ er immer gerne seinen Hilfssheriffs. Das allerdings hätte ihm heute wenig genützt. Eilert war schließlich gerade erst angekommen.

»Hier möchte ich kein Postbote auf Urlaubsvertretung sein«, überlegte Eilert Thedinga. »Da musst du erst einen Lehrgang machen, bevor du die Pakete an den Mann bringen kannst.«

»Wohl wahr«, erwiderte Michael Röder. »Also – bis später wieder hier in der Wache.«

Es war bereits dunkel, aber Röder meinte Enno Seeberg zu sehen, der einem anderen Mann die Tür zur Gaststätte offenhielt. Gehörte Enno nicht auch zu den Proniggels? Sollte er ihn hier und jetzt ansprechen? Nein. Er würde wie verabredet mit Jörg Weber Kontakt aufnehmen, dann gegebenenfalls mit den anderen Jägern reden. Seeberg würden sie sich noch vornehmen. Ganz sicher.

*

Aber es war nicht Jörg Weber, den er zuerst aufsuchte, sondern Reinhart Petri. Dessen Häuschen lag auf dem Weg. Er klopfte.

Nach einer Weile öffnete Petri die Tür eine Handbreit und schaute ihn misstrauisch an. »Was gibt’s?«

»Darf ich reinkommen?«, fragte Röder ruhig.

Widerwillig gab Reinhart den Weg frei. Es roch in dem kleinen Flur, als wäre lange nicht gelüftet worden. Im Wohnzimmer war es nicht viel besser. Der Fernseher lief. Das Frühlingsfest der Volksmusik. Andrea Berg besang inbrünstig die Liebe zu ihrem Traummann.

»Willst du dich setzen?« Reinhart Petri räumte einen Stapel Jagdzeitungen von einem Sessel, sorgsam darauf bedacht, dass der Haufen nicht auseinanderrutschte.

»Wenn du den Fernseher leiser machen würdest, wäre es einfacher.« Röder setzte sich vorsichtig hin. Er erwartete, dass sich jeden Moment ein paar Sprung­federn in sein Hinterteil bohrten, wenn er sich zu heftig bewegte. Aber alles ging gut. Reinhart folgte seinem Wunsch und stellte den Ton leiser.

»Du hast mir in den Dünen bereits erzählt, wie ihr, du und Jörg, die Tote entdeckt habt. Ist dir im Nachhinein noch etwas aufgefallen? Etwas, das mit dem Tod, oder auch mit der Person zu tun hat?«

Reinhart Petri überlegte, dann schüttelte er knapp den Kopf.

»Wie viele Gewehre hast du?«

»Wieso? Ich bin Jäger. Alles ist angemeldet«, sagte Reinhart schroff. Immer wieder glitt sein Blick zum Fernseher, auf dem inzwischen ein Ballett leichtbekleideter Damen im Gleichtakt die Beine nach oben warf. Reinhart Petri murmelte vor sich hin.

»Was sagtest du?«, erkundigte sich der Polizist.

»Nichts.«

»Bitte. Reinhart. Was hast du gesagt?«

»Ich meine nur. Die müssen nicht fast nackt auftreten. Das ist ungehörig«, sagte Reinhart Petri undeutlich.

Röder schaute genauer hin. Na gut, einen Wintermantel hatten die Damen vom Ballett nicht gerade an. Aber immerhin – sie hatten etwas an. Außerdem war das nicht der Grund seines Besuches. »Reinhart, deine Waffenbesitzkarte, bitte. Es nützt nichts. Glaube mir. Wenn du sie mir nicht freiwillig gibst, werde ich dafür sorgen, dass wir uns hier ganz genau umschauen können.«

Stöhnend stand Reinhart Petri auf und verließ das Wohnzimmer. Röders Blick fiel auf einen weiteren Stapel Hefte, der auf der Anrichte lag. Vielleicht gab es hier wertvolle Informationen über Jagdausrüstungen, Munition und dergleichen. Doch es waren nur ein paar wenige Broschüren, die sich mit der Jagd beschäftigten. Alle anderen trugen Namen wie Der Landser und National-Zeitung. Ein Flyer rutschte aus dem Stapel. Von der NPD. Maria statt Scharia.

»Was machst du da? Hast du einen Durchsuchungsbefehl? Raus hier. Sofort raus!«

Der Polizist hatte nicht gemerkt, dass Reinhart Petri wieder ins Zimmer gekommen war. Dass der Mann so laut werden konnte, hatte er noch nie erlebt. »Ist ja gut.« Zu gern hätte er die Ansammlung dieser Blätter kommentiert. Doch er hielt sich zurück. »Kann ich jetzt die Unterlagen haben?«

Wortlos drückte Reinhard Petri sie ihm in die Hand.

»Ich nehme sie mit. Kriegst sie so bald wie möglich wieder.«Er war froh, als er wieder draußen war. Viel hatte er nicht erfahren. Eigentlich gar nichts. Nur dass es stimmte, was erzählt wurde. Der Mann gehörte zur rechten Szene auf der Insel. Es gab nicht viele davon. Und sie waren unauffällig. Aber es gab sie.

Michael Röder hoffte, dass sein Gespräch mit Jörg Weber angenehmer verlaufen würde.

*

»Was möchtet ihr trinken?« Der schwarzhaarige Wirt der Alten Liebe hatte gut zu tun. Die kleine Kneipe war gerammelt voll. Überwiegend Raucher. Denn hier durfte man. Enno Seeberg überlegte kurz, ob es wohl klug gewesen war, sich ausgerechnet diese Kneipe für ihr Treffen auszusuchen. Nicht, dass er nicht gerne hinginge. Der Wirt war nett, die Stimmung gut. Aber Anke würde an ihm riechen und angewidert das Gesicht verziehen, wenn er zu ihr kam.

Enno bestellte zwei Bier. Vergebens suchte er nach einem freien Platz an einem der Tische. Er sah viele unbekannte Gesichter und die vertrauten bierseligen der Insulaner, die immer da waren. An ihren Stammplätzen an der Theke. Für ein intensives Gespräch war es entschieden zu laut. Sie würden sicher nicht lange bleiben. Aber erst einmal ein Bier. Er nahm die beiden Gläser, die der Wirt vor ihm abgestellt hatte, und schob sich zu Werner Gronewald durch, der gleich rechts von der Tür stehen geblieben war.

»Ich hätte nicht gedacht, dass am Anfang der Saison schon so viel los sein würde.« Er prostete Werner zu.

»Tja, ist bestimmt jedes Mal eine Umstellung, von null auf hundert, wenn die Saison wieder anfängt, oder?«, fragte Werner.

»Klar. Egal wo auf der Insel. Das fängt bei der Überfahrt an. Das große Schiff, die Baltrum I, liegt im Winter auf der Schiffswerft Diederich in Oldersum. Du weißt schon, an der Ems. Dort werden alle nötigen Reparaturen erledigt. Das kann manchmal ganz schön aufwändig sein. Das Unterwasserschiff muss gestrichen, Sitzbänke ausgewechselt und neue Techniken eingebaut werden. Natürlich muss alles bis zum Beginn der Saison fertig sein. Genau wie bei allen anderen Seebäderschiffen, die dort generalüberholt werden.«

»Ich weiß. Ich war erst im Sommer in Oldersum. Zu ihrem weltberühmten Dorffest. Weißt du, wie das heißt?«

Enno Seeberg blickte seinen Bekannten fragend an.

»Glaub es mir oder nicht: Dieses Fest heißt ›Mein lieber Scholli‹. Weil die da dann Schollen verkaufen.« Werner Gronewald lachte.

»Echt jetzt?« Enno konnte es nicht fassen. Was für ein einfallsreicher Name. Aber der schien tatsächlich sogar Menschen aus Aurich anzulocken. Das lebende Beispiel stand vor ihm. »Komm, trink aus. Wir gehen eine Station weiter.«

Er brachte die leeren Gläser zurück zur Theke und bezahlte.

»Ihr habt’s aber eilig«, sagte der Wirt. »Nach einem Bier schon Feierabend?«

»Diesmal ja. Er, also der Gronewald und ich, müssen uns in Ruhe unterhalten. Das nächste Mal wieder hier.« Noch einmal bahnte er sich seinen Weg zum Ausgang, wo Werner wartete.

Der Regen kam direkt von vorne und setzte sich auf seine Brille. Enno zog die Kapuze über, doch es nützte nicht viel. »Hoffentlich hat das Sturmeck offen«, rief er Werner zu.

Als sie am gelben Eispavillon vorbei waren, sahen sie, dass Licht den Eingang des Lokals erhellte.

Auch hier standen einige Leute vor der breiten Theke, doch im hinteren Bereich war es leer. Nur Musik kam aus den Lautsprechern unter der Decke. Laute Musik. Wer weiß, wofür es gut ist, dachte Enno. So kann man unser Gespräch nicht mithören. Sie warteten, bis der Ober ihre Bestellung vor ihnen abgesetzt, die zwei Bier auf dem Deckel notiert hatte und wieder verschwunden war.

»So, jetzt sag mir, was du auf dem Herzen hast«, begann Werner Gronewald das Gespräch.

Enno erzählte ihm von der Gruppierung, der seine Anke angehörte. Den Namen ›Proniggels‹ verschwieg er wohlweislich und versuchte ernsthaft, die Meinungen der verschiedenen Lager aufzulisten. Doch er konnte sich nicht verkneifen, von der bevorstehenden Demo am Samstag bei dem Osterfeuer zu berichten.

Werner lachte. »Was habt ihr?! Kaninchenköpfe aus Pappe?«

Verdammt. Hätte er man lieber die Klappe gehalten. »Du kannst mir glauben, dass ich da nicht mitmache. Bestimmt nicht!«, erklärte er mit Nachdruck. »Aber jetzt sag mir, was für eine Chance hat unsere Gruppe mit dem Schutz der Kaninchen?«

Werner Gronewald überlegte. »Ich habe heute bereits ein Gespräch mit dem Bürgermeister gehabt. Übrigens ein ganz fitter Kerl, wenn ich das mal so sagen darf. Auch ihm habe ich gesagt, dass es für die Deichsicherheit besser wäre, wenn die Tiere verschwinden. Dass die Realität aber anders aussieht. Wie willst du das erreichen? Auf fünfhundert geschossene Kaninchen – wenn die Jäger im Herbst fleißig sind – kommen fünfzigtausend, die es überleben.«

»Ich glaube, diese Aussage wird meine Anke und die anderen nicht gerade glücklich stimmen. Denen sind fünfhundert erlegte Tiere fünfhundert zu viel. Und deine Aussage zur Deichsicherheit, was hat die zu bedeuten? Wollt ihr da was unternehmen?«

Werner zögerte. »Ich denke, dass ich mich da noch stille halten werde. Das Amt denkt nach. Wir werden sehen, wie sich der Bestand über den Sommer entwickelt.«

»Wie der sich entwickelt, dürfte klar sein. Es ist Schonzeit. Nur die Jungen dürfen geschossen werden. Was aber faktisch ziemlich sinnlos ist. Die Jäger werden nicht im bewohnten Gebiet herumschießen, wenn es hier von Gästen nur so wimmelt.«

»Ich kann dir leider nichts anderes sagen als: Abwarten.« Werner Gronewald zuckte bedauernd mit den Schultern. »Wenn es übermäßig viele Tiere werden, müssen wir etwas unternehmen. Aber auch Krankheiten, wie die Kaninchenpest, sind ein natürliches Regulativ. Warten wir also auf den nächsten Herbst.«

Das war’s dann also. Enno kam nicht weiter. Wie schön wäre es gewesen, wenn er Anke das Versprechen mit nach Hause gebracht hätte, dass alle Tiere geschützt würden! Natürlich war das Ziel, alle Tiere am Leben zu lassen, ein unmögliches Unterfangen. Das war ihm klar. Aber Anke dachte eben anders.

Werner Gronewald und Enno Seeberg unterhielten sich noch eine ganze Weile. Die alten Zeiten streiften sie nur kurz. Als sie aufbrachen, sah Enno Oliver Abels mit ein paar Insulanern an einem der runden Tische stehen. Seine Augen waren rot. Er schien das ein oder andere Getränk bereits in sich hineingeschüttet zu haben. Warum der wohl nicht in seinem eigenen Hotel hinter der Theke stand? Aber wahrscheinlich konnte er sich dort nicht ungehindert einen hinter die Binde gießen.

»Na, mein Freund? Kommst du morgen auch zur Ratssitzung?« Oliver Abels’ Stimme klang undeutlich, aber laut durch den Raum. »Dann geht’s euren Niggels an den Kragen, ihr Proniggels.«

Einer der Männer, die mit Abels zusammenstanden, fing an zu lachen, und bald stimmten alle mit ein.

»Komm«, bat er Werner, »den muss ich jetzt nicht haben.«

»Hast du dir von Amts wegen Verstärkung mitgebracht?«, schallte es hinter ihnen her.

»Woher weiß der, dass du …?«, fragte Enno erstaunt.

»Er war mit bei der Deichschau. Als Ratsmitglied. Daher wird er mich wohl wiedererkannt haben«, erklärte Werner Gronewald.

Sie verabschiedeten sich vor dem Sturmeck. Werner hatte nur ein paar wenige Meter zum Hotel Seehof. Enno beschloss, in der Hoffnung auf ein warmes Nachtlager bei Anke vorbeizuschauen. Hoffentlich schlief sie nicht schon.

Als er die Haustür öffnete, hörte er Musik. Im Wohnzimmer brannte eine Kerze und verbreitete einen süßlichen Duft nach Honig. Anke saß im Schlafanzug auf dem Sofa und las. »Komm rein«, sagte sie, »setz dich.«

»Was ist los?«, fragte er beunruhigt. Das Flattern in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Die Polizei war hier. Die beiden wollten alles über unsere Gruppe wissen. Wer dazugehört, was Edith für eine Aufgabe hatte und so weiter.«

»Ja, und? Was stört dich daran?«

»Es hat mich nichts gestört. Nur beunruhigt. Sie wollten die Namen aller Mitglieder haben. Wollten wissen, ob wir untereinander Streit hatten. Besonders der eine, Schonebeck, war zwar freundlich, aber der klang so unerbittlich, dass man Angst bekommen konnte.«

»Aber wir haben mit Ediths Tod gar nichts zu tun. Also brauchen wir keine Angst zu haben«, versuchte Enno Anke zu beruhigen und kuschelte sich neben sie auf das Sofa.

Sie rutschte ein Stück zur Seite. »Verstehst du nicht – du hast mit Edith doch diesen dicken Streit gehabt. Am Abend vor unserer Sitzung. Als wir das mit der Demo besprochen haben. Ihr war diese Aktion mit den Pappkaninchen lange nicht genug. Und du hast gesagt, das reiche dreimal, um Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Moment. Wenn sich alle, die sich streiten, gegenseitig umbringen würden, wäre es erheblich leerer auf der Welt, oder?«, empörte Enno sich. »Und diese Polizisten wussten von dem Streit?«

Anke nickte. »Ich denke, Mark hat es ihnen erzählt. Er war doch dabei. Bei dem sind die gewesen, bevor sie zu mir kamen. Und nun wollen die unbedingt mit dir reden. Ich habe gesagt, dass du dich sofort bei denen meldest, wenn du wieder zu Hause bist.«

»Na, klasse.« Enno Seeberg lehnte sich zurück und schloss die Augen. Diese verdammten Karnickel. Dieser verdammte Mark. Verdammte Bullen. Die glaubten doch nicht wirklich, dass er in der Lage wäre, alte Damen zu erschießen. Was für ein verdammter Blödsinn.

»Du kannst auch anrufen, haben sie gesagt.« Anke knuffte ihn und hielt ihm einen Zettel mit einer Telefon­nummer vor die Nase.

Enno schaute auf die Uhr. Gleich elf. Die würden sich schön bedanken, wenn er sie aus dem Bett holte. Nein, er würde morgen mal bei denen an die Tür klopfen. In der Mittagspause. Vielleicht. So eilig würde es schon nicht sein. Er gähnte. »Hast du ein Plätzchen neben dir frei?«, murmelte er und rückte wieder etwas näher an sie heran.

»Du wirst also nicht …?«

»Nein. Morgen reicht«, sagte er. »Ich habe schließlich mit dem Mord nichts zu tun.«

»Aber ich habe es den Polizisten versprochen. Was macht das für einen Eindruck, wenn du dich nicht meldest. Da könnten die glatt glauben …«

Enno richtete sich auf. »Könnten die glauben oder könntest du glauben …?« Fassungslos starrte er Anke an.

Anke antwortete nicht.

»Weißt du was? Ich lasse dich jetzt mal allein. Dann kannst du in Ruhe darüber nachdenken, ob ich Edith um die Ecke gebracht habe.« Wütend stand er auf und griff nach seiner Jacke.

»Aber ich habe gar nicht …«

Er wollte nicht mehr zuhören, was sie hatte oder nicht hatte. Er brauchte dringend frische Luft. Es war nicht weit bis zu seiner kleinen Wohnung im Keller von Haus Ostwind. Er schlug seinen Kragen hoch, ging an der Inselglocke vorbei und hatte bald die letzten Häuser im Westdorf erreicht. Haus Ostwind lag etwas zurück am Rande der Dünen. Vor nicht allzu langer Zeit hatten die Gäste im oberen Stockwerk noch einen freien Blick auf die Nordsee gehabt. Aber mit dem Neubau der Strandmauer war das vorbei. Ihm konnte es egal sein. Er wohnte im Keller.

Als er die Stufen zu seiner Wohnung herunterstieg, erschrak er. Zwei Schatten lösten sich aus dem Dunkel.

»Guten Abend, Herr Seeberg. Schön, Sie zu treffen.«

Nicht das noch. Erst hatte er sich Ankes Anschuldigungen anhören müssen und jetzt standen die beiden Männer vor seiner Tür. Es gab keinen Zweifel daran, dass es Polizisten waren, und er hatte die Nase voll. Enno drehte sich um und sprintete den Weg zurück, den er gerade gekommen war, bog links ab, dann wieder rechts, merkte aber schnell, wie ihm der Atem ausging. Im Gegensatz dazu schien der Mann, der ihn verfolgte, kein Problem mit der Kondition zu haben. Als der Ennos Arm umklammerte und ihn zum Stehenbleiben aufforderte, klang seine Stimme ruhig und bestimmt.

Baltrumer Kaninchenkrieg

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