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Samstagabend

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»Ich möchte echt mal wissen, wo Edith bleibt.« Anke Hasekamp setzte erneut die Schere an und bemühte sich, genau dem Strich zu folgen, den Mark auf die große Pappe gemalt hatte. Ein Stück den Hals hoch, dann der runde Hinterkopf, die beiden hochstehenden Ohren und … »Manno, geht das schwer.« Sie stöhnte so laut, dass Enno sie erstaunt anblickte.

»Soll ich es mit einem Messer versuchen?«, fragte er.

Anke nickte. »Ist vielleicht eine bessere Idee.« Sie schob die große Pappe über den Wohnzimmertisch. »Ich mache uns mal Tee.«

»Aber nicht wieder Ingwertee«, bat Mark Tiesler. »Von dem habe ich beim letzten Mal so einen flotten Otto gekriegt …«

»Schon gut. Echt ostfriesisch. Mit Kluntje und Sahne.«

»Wie – mit Sahne? Sahne von der Kuh? Ich denke, du hast nur Hafersahne im Haus? Hast du deinem Veganerleben entsagt?«, wunderte sich Mark.

»Für nette Gäste habe ich auch Kuhsahne«, erklärte sie.

»Für mich ist Hafersahne völlig in Ordnung, das weißt du«, lächelte Mark.

Enno Seeberg knallte das Messer auf den Tisch. Er hatte genug. Sollten sie sehen, wie sie fertig wurden. Sowieso ’ne dämliche Idee, das mit der Demo. Völlig bekloppt.

Er schaute in die Runde. Da saß seine Freundin Anke. Die Frau, der er seit einem Vierteljahr nicht mehr von der Pelle wich. Anke mit den braunen Augen. Und was machten diese braunen Augen? Sie lächelten Mark an. Ausgerechnet Mark mit seinem ständigen »Alle Tiere haben genau so viel Rechte wie die Menschen.« Als ob der noch nie Fleisch gegessen hätte. Erst im letzten Sommer hatte er ihn bei einer Grillparty mit einem großen Kotelett auf dem Teller gesehen. Da war er sich beinahe sicher. Der sollte man nicht so tun, als wäre er der Tierretter. Außerdem – was sollte das heißen: ›Das weißt du‹? Was lief da zwischen denen?

Jetzt fehlte nur noch Edith. Die große Vorsitzende. Und Friedemann Untied. Dann wären sie vollständig. Zumindest der harte Kern, der sich regelmäßig bei Anke im Wohnzimmer traf, um darüber nachzudenken, wie man sich für die Kaninchen auf der Insel einsetzen könnte. Die Proniggels eben.

Proniggels. Ihm stieg der Lachreiz die Kehle hoch. Ausgerechnet er hatte diesen Namen erfunden. Nach fünfzehn Sanddornschnäpsen im Sealords. Nachdem er wieder einmal an seine Lieblingsszene aus dem Film ›Karniggels‹ von Detlev Buck hatte denken müssen. So hatte es sich fast von selbst ergeben. Karniggels – und wenn man Karnickel liebte, gehörte man eben zu den Proniggels. Logisch. Aber niemals ernst gemeint. Alle anderen waren begeistert gewesen. Der Name hatte sofort seinen Siegeszug über die Insel angetreten. Inzwischen wusste jeder, wer die Proniggels waren.

Zu Anfang war auch Melissa dabei gewesen. Aber dann war sie einfach nicht mehr erschienen.

Er hustete. Hoffte so, den Anfall in den Griff zu bekommen. Doch es nützte nichts. Genau in dem Moment, als es aus ihm herausbrach und ihm Tränen über die Wangen liefen, klopfte es.

»Habt ihr einen Scherz gemacht? Kann ich mitlachen?«, hörte Enno Seeberg die tragende Stimme des Pastors.

»Nein, keine Ahnung, was mit Enno ist.« Anke stand auf. »Aber der beruhigt sich schon wieder. Ich gehe jetzt in die Küche. Das Teewasser wartet.«

»Meine Lieben, leider konnte ich nicht eher. Ich musste meine Predigt für morgen ausarbeiten. Als Pastor hat man eben immer …«

»Schon gut, Friedemann. Setz dich zu uns.« Mark Tiesler rückte ein wenig und zog einen Stuhl heran. »Wir haben dir genug Arbeit aufgehoben.«

Enno zog ein Taschentuch aus der Hose und schnäuzte sich. Er hatte das vage Gefühl, dass Anke nach der Sitzung einige unangenehme Fragen stellen würde. Er durfte es nicht übertreiben. Enno hatte zu lange um sie gekämpft, um jetzt zu riskieren, dass sie ihn an seinem neuerworbenen, ökologisch nachhaltig hergestellten Sweatshirt packte und nach draußen schob. Besser, er klinkte sich wieder ein. Er nahm das Messer vom Tisch und schnitt den Rest des Kaninchenkopfes aus der großen Pappe. Dort, wo Mark die Augen des Tieres eingezeichnet hatte, ritzte er ovale Löcher hinein. Dann nahm er sich das nächste Pappquadrat.

Das Geschirr klirrte leicht, als Anke das Tablett auf den Tisch stellte. Lächelnd verteilte sie die Tassen. »Der Tee braucht noch drei Minuten.«

»Übrigens – ich habe mit Melissa gesprochen.« Friedemann Untied legte vorsichtig einen Kluntje in seine Teetasse. »Ich habe ihr ein weiteres Mal eindringlich klar gemacht, wie wichtig jedes Lebewesen auf dieser schönen Insel ist.«

»Und? Was hat sie gesagt?«, fragte Mark.

»Sie hat gesagt, dass auch Blumen Lebewesen sind. Und dass sie sich nicht mehr sicher ist, was richtig ist«, antwortete der Pastor. »Außerdem müsse sie sich um ihren Sohn kümmern.«

»Da hast du ihr bestimmt geraten, eine Runde zu beten, oder?« Enno hielt es nicht mehr aus. Sollte doch jeder nach seiner Fasson selig werden. Wenn Melissa nicht mehr wollte – bitteschön.

Obwohl, ein wenig wunderte es ihn schon. Sie war die erste gewesen, die sich für die Kaninchen auf der Insel eingesetzt hatte. Gegen alle Widerstände. Dann waren Edith Oligs und Anke dazugestoßen. Friedemann Untied und Mark Tiesler, der Mann vom Nationalparkhaus, waren die Nächsten gewesen. Sie hatten lange überlegt, was sie gemeinsam tun könnten, um jedem klarzumachen, dass kein Mensch das Recht hatte, über Leben und Tod anderer zu entscheiden. Das galt eben auch für Kaninchen. Dafür hatte sich Melissa Harms engagiert eingesetzt. Doch dann hatte sie sich nach und nach zurückgezogen. Vielleicht war ihr das Gerede des Pastors genauso auf den Keks gegangen wie ihm.

Es war still geworden in dem kleinen Wohnzimmer. Nur die Kerze mit dem fröhlichen Wachshasen darauf knackte leise und warf zuckendes Licht in den Raum.

»Sag mal, was hält dich eigentlich bei uns?« Das Lächeln auf Ankes Gesicht war verschwunden. »Ich habe immer das Gefühl, dass du nicht hinter der Sache stehst. Deine blöden Sprüche ständig! Lass es einfach. Du musst nichts tun, was du nicht willst!«

Notbremse. Dringend.

»Tut mir leid. War nicht so gemeint.« Mein Gott, wie er es hasste! Warum konnten die nicht einfach gehen und ihn mit Anke alleine lassen?! »Soll ich noch einen Kaninchenkopf ausschneiden? Als Friedensangebot?«

»Wir haben keine Pappe mehr. Fünf Köpfe reichen für unsere Aktion«, erklärte Anke ernst. »Aber es wäre schön, wenn du Holz von draußen holen würdest, nachdem du deinen Tee getrunken hast. Das Kaminfeuer lässt nach.«

Enno ließ den Tee stehen, nahm den Binsenkorb, der vor dem großen Ofen stand, und verließ das Wohnzimmer. Mochten sie sich ihre Mäuler über ihn zerreißen.

Draußen fuhr ihm ein kalter Nordwestwind unter sein Sweatshirt. Besser hätte er eine Jacke angezogen. Egal. Er ging die paar Meter bis zum Schuppen, an dessen Wand einige Kubikmeter Holz lagerten. Er stapelte einen Scheit nach dem anderen in den Korb und war froh, als er die Haustür wieder hinter sich schließen konnte. Als er das Wohnzimmer betrat, hörte Enno gerade noch Mark sagen: »Gronewald soll vermitteln.«

Gronewald? Meinte Mark etwa Werner Gronewald, seinen alten Berufsschulbekannten aus Norder Tagen und jetzigen Angestellten beim Landkreis? Unter anderem für die Jagd auf den Inseln zuständig? »Welcher Gronewald? Wobei soll er …?«

»Tino Middelborg hat ihn gebeten«, erklärte Mark. »Unser Bürgermeister will wohl endlich Rechtssicherheit, was das Abschießen der Kaninchen anbelangt. So hat er es mir zumindest erzählt.«

»Ist vielleicht nicht schlecht«, überlegte Friedemann Untied. »Fast alle Gemeinderatsmitglieder sind auch Jäger. Da wird Middelborg bestimmt nicht ausgewogen informiert. Nein – gut, dass der Gronewald kommt.«

»Na, ob Gronewald da der Richtige ist, wage ich zu bezweifeln. Der war bei der jährlichen Deichschau einer der Experten, oder Mark?« Enno stellte den Korb neben dem Kamin ab und legte einige Holzscheite nach.

»Stimmt. Genau wie ich. Natürlich haben wir uns da die Schäden angesehen, die die Kaninchen angerichtet haben.«

»Vielleicht kannst du Kontakt aufnehmen und mit ihm reden?«

Mark Tiesler schüttelte den Kopf. »Das überlasse ich gerne dir. Ich habe vor Mittwoch keine Zeit. Wirklich nicht.«

»Okay, dann spreche ich mit ihm.« Enno war froh, etwas Positives in die Runde werfen zu können. »Ich kenne ihn und kann die Sachlage mal aus unserer Warte schildern.«

»Gute Idee.« Anke schaute ihn etwas versöhnlicher an. »Noch ’ne Tasse Tee?«

»Gerne.« Was sollte es? Solange diese Tierfreunde hier am Tisch saßen, konnte er auch Tee trinken. Später, zum Abendessen, würde er sich ein Bierchen genehmigen.

Er hatte Gronewald lange nicht gesehen. Auch als sie beide eine Ausbildung in der Verwaltung gemacht hatten, waren sie eher nebeneinander hergelaufen. Er selbst war in Norden aufgewachsen, Werner Gronewald war kurz vor der Ausbildung von Wilhelmshaven nach Norden gezogen. Ihre Interessen waren damals ziemlich unterschiedlich gewesen. Enno hatte immer bei kniffligen Fragen in Rechtssachen Auskunft geben können. Werner war der Ansprechpartner für die nächsten Partytermine und Veranstaltungen in Norden und Umgebung gewesen. Er würde ihn am Montag anrufen. Mal sehen, was der zu sagen hatte.

»Ich muss los.« Mark klopfte auf den Tisch. »Wann sehen wir uns wieder?«

»Ich würde sagen, am Mittwoch«, schlug Anke vor. »Am Dienstag ist Gemeinderatssitzung. Vielleicht gibt es dann schon neue Erkenntnisse. Außerdem müssen wir unseren Plan für die Osterfeuerdemo genau besprechen. Hoffentlich wird das Wetter am Ostersamstag gut. Sonst können wir die Aktion gleich vergessen. Eine Demo ohne Zuschauer bringt schließlich nichts.«

Mark schüttelte den Kopf. »Mittwoch kann ich nicht. Da haben wir Generalprobe. Für das Theaterstück, das Ostersonntag Premiere hat. Aber macht ihr man. Ihr könnt mir Bescheid geben.«

Prima. Mittwoch war genau der richtige Tag. Es war immer der richtige Tag, wenn Mark nicht konnte. Wenn Enno den Blick aus Ankes braunen Augen nicht mit diesem Heini teilen musste.

Blieb nur zu hoffen, dass sich der Pastor ebenfalls bald auf den Weg machte und sich kuschelige Zweisamkeit einstellte. Nur er und Anke.

Er hatte Glück. Auch Friedemann Untied verabschiedete sich eine gute Viertelstunde später. Doch Enno musste schnell feststellen, dass es mit dem gemütlichen Abend schwierig werden könnte.

Anke blitzte ihn zornig an, als er die letzten Tassen zu ihr in die Küche brachte. »Wieso bist du eigentlich immer so zynisch? Erklär es mir. Ich denke, du stehst hinter unserer Sache. Wenn nicht, dann frage ich mich, warum du mitmachst? Geh in die Kneipe, wenn dich unsere Ziele nicht interessieren.«

Achtung. Jetzt nur keinen Fehler machen. »Nein, du verstehst das völlig falsch. Ich bin gerne dabei. Mir fehlt nur manchmal der Humor bei diesen Leuten. Sie sind so ernsthaft.« Er konnte ihr schließlich nicht erzählen, dass ihm der Abschuss der Karnickel völlig einerlei war und er nur an den Sitzungen teilnahm, weil Anke da war. Gut, so ganz waren ihm die Kaninchen nicht egal. Er mochte die wolligen Dinger, wenn sie abends auf dem Deich saßen und sich putzten, aber ihm wäre nie eingefallen, einer Bürgerinitiative zum Schutz der Tiere beizutreten. Wenn er Anke nicht kennengelernt hätte.

»Aber wir haben alle das gleiche Ziel. Selbst Friedemann. Auch wenn er …«, sie lächelte, »manchmal wirklich etwas zu salbungsvoll seine Meinung vertritt. Das muss man aber hinnehmen. Finde ich zumindest.«

»Schon gut. Habe verstanden. Beim Boxtraining vom Kultur- und Sportverein muss ich mich auch arrangieren. Das ist halt so.« Enno griff nach Ankes Hand und zog sie zu sich auf das Sofa. »Nicht böse sein. Ich gelobe Besserung.«

Es tat gut, wie sie sich in seine Armbeuge kuschelte. Er würde sich in Zukunft zusammennehmen. Auch wenn es schwerfiel. Nur eines würde er nicht machen. Um nichts in der Welt. Er würde niemals an dieser dämlichen Demons­tration am Ostersamstag teilnehmen. Selbst wenn es zu dem Zeitpunkt bereits dunkel war und die Chance bestand, dass keiner ihn erkennen konnte.

Baltrumer Kaninchenkrieg

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