Читать книгу Pflegekind Stephan - Ulrike Linnenbrink - Страница 6
Habt ihr auch ein Spielzimmer?
ОглавлениеObwohl ich noch sehr müde war und mich irgendwie erschlagen fühlte, kam ich an diesem Morgen gut aus dem Bett. Der große Tag war da. Heute kam es sozusagen darauf an. Endlich Mittwoch und wir waren mittags um zwölf mit Klaus und Stephan im Zoo am Affenhaus verabredet.
Die Schule verging am Morgen zäh wie Brei. Schon ziemlich durcheinander hatte ich einen Pullover mit einem riesigen Fleck angezogen. Erst in der Schule bemerkte ich es mit einem ordentlichen Schrecken. Meine Schüler hatten mich trösten müssen, was sie auch ausgiebig gemacht haben - so lange, bis ich nur noch amüsiert abwinken konnte.
So pünktlich wie heute verließ ich die Schule selten. Zu Hause hatte Martin schon alles abfahrbereit gemacht. Ich zog mich rasch um. Weil ich davon ausging, dass die Lieblingsfarbe der meisten Kinder rot ist, wählte ich diesmal einen langen Pullover aus knallroter Mohairwolle zu meinen Jeans.
Um viertel vor zwölf hatten wir es bis zum Tierpark geschafft. Ein einziges Auto stand auf dem Parkplatz. Wir stellten uns direkt daneben. Auf dem Rücksitz waren zwei Kindersitze installiert. Ob Klaus und Stephan schon da waren?
Es schneite sanft - schon seit heute früh. Der Schnee blieb aber nicht liegen. Am Boden war es wohl schon zu warm. Wir hatten gerade Ende Februar.
»Gut, dass es nicht regnet«, sagte Martin, »ein Zoobesuch im Regen wäre einem Kind schwer zu erklären.«
Niemand war an der Kasse. Wir bezahlten unseren Eintritt im Büro, das mitten im Zoo lag. Dann schnell zum Affenhaus. Vielleicht waren sie schon dort.
Das Affenhaus empfing uns warm aber kräftig nach Pissoir stinkend. Bis auf die Affen, ein kleines wie Plastik aussehendes, reglos daliegendes Krokodil und Hunderte von Heuschrecken in einem Glaskasten war allerdings noch niemand dort. Wir hielten es in diesem Mief nicht lange aus.
Draußen hatte sich das Wetter für kurze Zeit aufgeklärt. Die Sonne schien und lockte mit ihrer kurzzeitig schon recht kräftigen Wärme einige Affen hinaus in die Freigehege. Wir sahen uns die Tiere an, ohne recht bei der Sache zu sein. Immer wieder schauten wir uns um. Wo blieben sie nur?
Dann endlich! Ein kleines blondes Köpfchen, darunter ein blauer Anorak und blaue Cordhosen. Stephan!
Wir gingen aufeinander zu.
»Oh, hallo!«, rief Klaus. »Sieh mal, Stephan, die Leute kenne ich. Das sind Freunde von mir.«
Wir begrüßten uns, als hätten wir uns lange nicht gesehen.
»Welch ein Zufall, dich gerade hier mal wieder zu treffen, Klaus!«
Wir grinsten uns verschwörerisch an.
Mit großem, ernstem Blick stand unser zukünftiges Kind vor uns, drückte sich ängstlich an Klaus. Ein gutes Zeichen, dachte ich. Obwohl Stephan auf dem Weg in unsere Richtung pausenlos auf Klaus eingeredet hatte, schien er jetzt die Sprache verloren zu haben. Wortlos starrte er uns an. Wir begrüßten ihn nur kurz, wandten uns dann gleich wieder dem Psychologen zu. Wir hatten uns vorgenommen, Stephan zu Beginn nicht zu sehr zu beachten, uns mehr auf Klaus zu konzentrieren, damit unser Komplott nicht allzu plump wirkte. Das Kind sollte von sich aus kommen, sich nicht bedrängt fühlen. So redeten wir Erwachsene recht belangloses Zeug miteinander. Auch das Wetter musste als Gesprächsthema herhalten. Aus den Augenwinkeln beobachteten wir jedoch alle drei den kleinen Kerl, der seine Stirn missmutig in tiefe Falten gelegt hatte. Wir nahmen ihm seinen Klaus weg. Das passte ihm gar nicht.
Zusammen gingen wir noch einmal zurück ins miefwarme Affenhaus. Stephan war weiter stumm. Dann wollte er von Klaus hochgehoben werden, um besser sehen zu können, was in den Käfigen geschah. Ich kam mir bei allem, was ich mit ihm reden wollte, noch etwas ungeübt vor, bekam auch keine Antwort, wenn ich ihn zum Beispiel auf eines der Tiere ansprach. Schließlich drückte Klaus mir das Kind in den Arm. »Mein Gott, ist der schwer! Nimm du ihn mal, Ulrike, ich kann nicht mehr.«
Ich fühlte mich ein wenig überrumpelt, war gespannt wie Stephan darauf reagieren würde. Doch er ließ sich ohne körperliche Verkrampfung locker gegen meine Brust sacken. Die erste Runde war gewonnen.
Wir gingen weiter und kamen zu einem Teich mit Goldfischen. Vom Weg war er durch ein niedriges Gitterzäunchen abgetrennt. Stephan hangelte mit seinem Arm und einem Stock hindurch, wollte das Wasser berühren. Es war nicht zu erreichen. Weder mit dem Arm noch mit dem Stock.
»Kannst du schon schwimmen?«, fragte ich ihn.
Keine Antwort. Nicht einmal ein Blick.
Der Ärmel seines Anoraks hatte sich beim Hangeln durch die Gitterstäben weit nach oben geschoben. Das Ärmchen war nackt. Ich hielt Stephan vorsichtig zurück, als er so weitergehen wollte, zog den Ärmel wieder herunter. Fühlte, dass auch der Sweatshirt-Ärmel kurz vor der Schulter eine Wulst bildete. Wühlte an seinem Arm entlang, um auch den wieder nach unten zu ziehen.
»Deine Ärmchen werden ja ganz kalt«, sagte ich dabei zu ihm. Jetzt traf mich ein erstes zaghaftes Lächeln. Ganz kurz nur. Dann drehte er ab und lief ein Stück voraus.
Als wir vor dem Lamagehege standen, streckte Stephan Martin plötzlich beide Hände entgegen. »Guck mal, die sind ganz kalt«, sagte er und sah forschend zu ihm hoch.
Martin nahm die kleinen Hände in seine. »Au ja«, bestätigte er und rieb sie kräftig. »Ich mach sie dir warm.«
Wir sahen uns an. Martin kniff mir ein Auge zu. Im Weitergehen entzog ihm Stefan nur eine seiner Hände. Von nun an gingen sie Hand in Hand. Eine erste, zarte Verbindung.
Nach dem Zoobesuch gingen wir gemeinsam essen. Stephan wünschte sich schon im Vorab »Pommes mit Ketchup!«
Wir fuhren hintereinander her zu einem nahegelegenen Restaurant, in dem es mit Sicherheit Pommes gab. Den ganzen Weg über schaute Stephan sich vom Rücksitz aus zu uns um und winkte uns in kurzen Abständen immer wieder zu.
Wesentlich ungezwungener und befreiter als noch vor gut einer Stunde betraten wir das Restaurant und bestellten zunächst etwas zu trinken. Stephan trank seine Fanta in großen Zügen bis ihm plötzlich ein gut vernehmbarer Rülpser entfuhr. Ein schneller, verlegener Blick in die Runde. Doch dann erleichtertes und beinahe stolzes Lachen, als er bemerkte, wie sehr wir uns darüber amüsierten.
Wir glaubten alle nicht daran, dass er seine Riesenportion schaffen würde, doch als schien das nicht genug zu sein, ließ er sich zwischendurch von mir noch einige Dinge von meinem Teller in den Mund stopfen. Ich ging gern darauf ein. Er aß bereitwillig alles, wies nichts zurück. Das Füttern entwickelte sich zum Spiel. Dabei strahlte er mich manchmal schon verschmitzt an. Ein richtiger kleiner Charmeur, dachte ich.
Schließlich musste ich ihn auch von seinem Teller weiter füttern. Mit dem Finger deutete er auf die Dinge, die ich auf die Gabel zu spießen hatte, grinste jedes Mal zufrieden, wenn ich seinen Anweisungen folgte. Nachdem er langsam, aber mit System (erst die Wurst und die Beilagen, dann die Pommes) seinen Teller leer gegessen hatte, durfte ich ihm auf der Toilette die Hände und das Gesichtchen abwaschen. Wasserscheu war er nicht, wie sich dabei heraus stellte. Er ließ alles zart lächelnd über sich ergehen, gab mir sogar noch den Tipp, doch etwas mehr Wasser auf unseren Papierwaschlappen zu geben.
Dies war schon längst nicht mehr der kleine, verängstigte Junge, der sich noch vor kurzer Zeit schutzsuchend eng an das Bein des Psychologen gedrückt hatte. Auch bei mir löste sich die Spannung, die sich in der Vorfreude und zu Beginn unserer Begegnung aufgebaut hatte. Ich freute mich darüber, wie sehr er mir durch diese kleine Geste den Zugang zu ihm er leichterte und damit demonstrierte, dass er für den Kontakt zu uns offen war.
Zurück an unserem Tisch fragte er uns: »Habt ihr auch ein Spielzimmer?«
»Nein, noch nicht«, antworteten wir wahrheitsgemäß, »aber wir haben ein großes Haus. Da kann man leicht eines einrichten.«
»Habt ihr auch einen Keller? Mein Papa hat im Keller immer Lampen aufgehängt. Die gingen aus und an, wenn da getanzt wurde.« Wir vermuteten: Party- oder Spielkeller.
»Nein, so einen richtigen Keller haben wir nicht. Wir wohnen in einem alten Bauernhaus. Da ist nur unter einem Zimmer, in das eine kleine Treppe führt, ein ganz niedriger Keller. Wir Großen können darin gar nicht richtig stehen, da stoßen wir uns immer den Kopf. Aber du würdest da locker rein passen.«
Er kicherte schadenfroh. Für ein Kind ist es sicher ein tolles Gefühl, wenn die Erwachsenen sich auch mal den Kopf stoßen. Dann sagte er plötzlich leise: »Meine Mama hat mich ins Kinderheim gebracht ...«
Martin und ich sahen erst uns, dann Klaus betroffen an. Von ihm wussten wir, dass Stephan so gut wie nie über seine Adoptiveltern sprach, dass er so tat, als gäbe es sie nicht. Auf diese Weise ließ er keine Trauer an sich heran, verdrängte alles, was wehtun konnte. Und nun gleich Papa und Mama? Weckten wir Assoziationen an 'Eltern' bei ihm? So traurig alles auch war, es lief offensichtlich alles so, wie wir es uns gewünscht hatten.
»Hast du nicht Lust, die beiden mal besuchen zu fahren?«, fragte Klaus ihn. »Die haben auch Tiere.«
Stephan nickte heftig.
Ich freute mich. »Das wäre toll! Ich backe uns dann leckere Nussplätzchen, ja?«
Wieder heftiges Nicken.
Beim Abschied auf dem Parkplatz hielt Stephan Martin plötzlich ganz unverhohlen seinen Mund zum Küsschen gespitzt entgegen. Martin war zunächst so verdutzt über diese unerwartete Zuneigungsbekundung, dass er einen Augenblick brauchte, um zu verstehen, was Stephan von ihm wollte. Dann beugte er sich rasch zu ihm herunter und ließ sich einen Kuss auf die Wange drücken. Auch ich bekam einen. Auf meine Bitte, ihn zurück küssen zu dürfen, hielt er mir seinen Mund hin und verlangte: »Drück mich auch!« Das machte ich gern. Spätestens ab jetzt gab es zwei Leute, die in Stephan verliebt waren.
Stephan lief nun schnell zu Klaus hinüber, drehte sich jedoch noch einmal zu uns um. »Wie oft muss ich schlafen, bis ich zu euch komme?«
Ich hielt zwei Finger in die Luft. »Zwei Mal.«
Ich traf mich mit unserer 'Elterngruppe'. Wir hatten gemeinsam die Schulungsabende des Sozialdienstes besucht und waren zu einer festen Gemeinschaft zusammengewachsen, sahen uns auch häufig privat. Reihum luden wir fünf Paare uns immer wieder gegenseitig ein, sprachen über alles, was wir dazugelernt hatten, rätselten, wer von uns wohl als erstes ein Kind bekäme, sprachen über unsere Erwartungen, Hoffnungen und Ängste.
Natürlich wünschte sich jeder von uns ein möglichst gesundes Kind, intelligent, hübsch und das Ganze möglichst schnell mit möglichst wenig Schwierigkeiten. Andererseits war uns allen klar, dass ein Kind nicht ohne Grund von der leiblichen Mutter oder von den leiblichen Eltern getrennt wurde.
Die wenigsten Schwierigkeiten vermuteten wir bei der Aufnahme eines Säuglings. So frisch aus dem Mutterleib konnte er - wie wir meinten - noch nicht allzu gravierende traumatische Erlebnisse hinter sich haben, würde relativ 'unverbaut' in unseren Haushalt überwechseln. Gedanken über genetische Dispositionen machten sich eher unsere Verwandten. Da kamen schon mal Bemerkungen wie: »Wer weiß, was ihr euch da großzieht.« oder »Die Anlagen der leiblichen Eltern werden eines Tages wieder durchbrechen, egal was ihr tut.«
Bei dem Gedanken an ein älteres Kind griffen auch unsere Ängste schon eher. Wer konnte wissen, was es in seinem Leben bereits hinter sich hatte, wie sehr es durch seine Geschichte schon geprägt war? Argumente, die oft auch von den Menschen unseres direkten Umfeldes angeführt wurden. Wir würden das Wagnis eingehen, mit einem Kind zusammenzuleben, das schon einige Jahre in einem anderen Umfeld verbracht hatte, unter Umständen schwer misshandelt worden war. Würden wir es je schaffen, sein Vertrauen zu gewinnen, seine Geschichte umzuschreiben, es voll und ganz ein Mitglied unserer Familie werden zu lassen?
Martin und ich waren bereit, dieses Wagnis einzugehen, hatten uns eine Grenze bis etwa zum dritten Lebensjahr gesteckt. Aber die teilweise um einiges jüngeren Mitbewerber unserer Gruppe gingen zunächst einmal davon aus, dass ihr Wunsch nach einem Säugling erfüllt würde.
An der Frage der körperlichen Gesundheit verschob sich bei einigen von ihnen die Grenze jedoch nach oben. Die Angst vor Erbkrankheiten, die im Säuglingsalter noch nicht diagnostiziert werden können, war für sie groß genug, dass sie - gestärkt durch das während der Schulung gewachsene Vertrauen in die eigene Fähigkeit, mit den psychischen Verkrüppelungen besser umgehen zu können - nun auch bereit waren, ein Kind bis zu drei Jahren aufzunehmen.
Für Martin und mich hatte sich das Wunschalter am Ende des Elternkurses auf drei bis fünf verschoben. Auch wir trauten uns nun zu, mit weniger persönlichen Verletzungen aggressive Übertragungen aushalten zu können. Außerdem waren wir beide in einem Alter, zu dem ein fünfjähriges Kind besser passte als ein Säugling. Mit etwa 35 Jahren hatte ich eine Eileiterschwangerschaft. Wäre alles glatt gelaufen, hätten wir nun ein leibliches Kind in diesem Alter.
Wie aber würden unsere Familien mit einem fremden Kind zurechtkommen? Würden die Großeltern es als einen Fremdkörper betrachten? Würden sie leibliche und nicht leibliche Enkel unterschiedlich behandeln?
Gerade die Vorbehalte dieser Generation waren besonders groß. Wie schon erwähnt, hatte auch ich diesbezüglich recht problematische Gespräche mit meiner Mutter hinter mir. Auch sie fürchtete, dass eventuelle negative Anlagen sich eines Tages durchsetzen könnten. Zur Bestätigung gab es etliche Beispiele, Pflege- oder Adoptivkinder, bei denen es sich - je älter sie wurden - immer deutlicher abzeichnete, dass sie aus einem anderen 'Stall' kamen.
Ich vertraute bisher immer darauf, dass der Umgang den Menschen formt, dass Pflegeeltern der Generation, die die Bedeutung der Anlagen hervor hoben, sehr viel weniger über theoretische Hintergründe, die uns in der Schulung vermittelt wurden, wussten, dass sie sehr viel rigider, als wir es tun würden, auf Anpassungsleistungen des Kindes gepocht hatten, dabei zwangsläufig Wege zur Verarbeitung traumatischer Erlebnisse verbauen mussten. Da waren für mich spätere Abbrüche geradezu vorprogrammiert. In einem Alter, in dem die Kinder der Ohnmacht und Unfähigkeit, über sich selbst zu bestimmen, entwachsen waren, musste ja der gesamte Seelenmüll an die Oberfläche drängen.
Natürlich wusste ich als Laie zu wenig über die entsprechende Diskussion zur Frage: Was wiegt schwerer, die Anlagen des Kindes, alles was es an genetischen Informationen mitbringt, oder die Art, wie mit ihm umgegangen wird, seine Sozialisation? Im Grunde wollte ich mich damit auch gar nicht beschäftigen. Ich glaubte und glaube einfach an das Gute im Menschen und daran, dass ihm Raum gegeben werden muss. Zu einer gesunden Entwicklung einer geschundenen Seele gehört zuerst ein Heilungsprozess. Barrieren müssen aus dem Weg geräumt, nicht ignoriert werden. Es ist nicht allein Sache des Kindes sich einzufügen, sondern es muss ein gemeinsamer Lernprozess stattfinden - so sah ich das, und Martin sah es genauso.
Heute waren wir zu einem Vortrag über 'Die Geschichte des Pflegekindes und ihre Auswirkung auf das Pflegeverhältnis' verabredet. Das Psychologenpaar Monika Nienstedt und Arnim Westermann aus Münster-Wolbeck referierte. Sie hatten sich seit über 15 Jahren intensiv mit Pflegekindern beschäftigt und festgestellt, dass alle neuen Bindungen in drei Phasen abliefen.
In der ersten Phase, in der sich das Kind sehr angepasst verhält, will es nicht unangenehm auffallen, da es eine neue Bindung eigentlich ja ersehnt. Viele frischgebackene Eltern machen in dieser Zeit den Fehler anzunehmen, dass ihre ausgezeichneten erzieherischen Fähigkeiten, ihre professionelle Elternausstrahlung dazu geführt hat, alles so reibungslos ablaufen zu lassen.
Entsetzt und enttäuscht reagieren sie dann häufig, wenn die zweite Phase beginnt, die Übertragungsphase, in der die mit den früheren Eltern verbundenen Erfahrungen und Gefühle wiederbelebt werden. Alte und neue Bezugspersonen verschmelzen hier teilweise zu einem Bild. So kann es vorkommen, dass ein Kind zu seinem Pflegevater sagt: »Sieh mich nicht so böse an!«, während der Mann es in Wirklichkeit wohlwollend anlächelt. In der Vorstellung des Kindes ist er in diesem Moment der vorherige, nicht liebenswerte Vater, den es vor sich hat. Oder es kann zu seiner Pflegemutter sagen: »Du lässt mich hier verhungern!«, obwohl der Teller vor ihm randvoll ist. Auch hier verwechselt es die Situationen. All seine Wut, die den Menschen gilt, die ihm Angst gemacht haben, vor denen es sich ohnmächtig gefühlt hat, wendet es nun gegen die neuen Eltern. Wer das nicht weiß, bezieht alle Ablehnung auf sich und reagiert entsprechend verständnislos und verärgert.
Um die zweite Phase, die der aggressiven Ausbrüche, besser verstehen zu können, ist es wichtig, etwas über die Geschichte des Kindes zu wissen, über sein Leben in seinen vorherigen Bezügen. Vor diesem Hintergrund kann man dem Kind eher helfen, wieder einen Zugang zu seinen oft verdrängten Erfahrungen und Gefühlen zu gewinnen und die neuen Beziehungen als befriedigend zu erleben oder zu entdecken.
Erst in der dritten Phase, die sich teilweise mit der zweiten überschneidet, findet Regression, ein Rückschritt in den Beginn des Lebens statt. Hier erlebt man oft, dass Kinder, die aus dem Alter eigentlich längst heraus sind, plötzlich wieder aus der Flasche trinken wollen, sich wieder in die Hose machen, ständig am Rockzipfel hängen und viel Zuwendung und Nähe brauchen. Sie fangen ihr Leben ganz von vorn noch einmal an. Das ist gleichzeitig der Beginn der neuen Bindung.
Die Psychologen erzählten von erschütternden Beispielen, die uns zum Teil jedoch nicht neu waren. Wir hatten uns in unserer Schulung bereits mit ähnlichen Fällen beschäftigt. Manchmal übersteigt das, was ein kleines Kind in seinem kurzen Leben bereits an Qualen erdulden muss, jedes Vorstellungsvermögen. Es ist wirklich wichtig für Pflegeeltern auch die schrecklichsten Formen der Kindesmisshandlung kennenzulernen, um so realistisch wie möglich die Erlebniswelt ihres Pflegekindes einschätzen zu können.
Heute bei meinem Treffen mit den anderen Elternbewerbern war ich ganz eigenartiger Stimmung. So ähnlich muss man sich fühlen, wenn man schwanger ist und seinen Freunden stolz davon erzählen kann, dachte ich, als mich alle mit Fragen bestürmten. Martin und ich waren die Ersten aus unserer Gruppe, denen ein Kind angeboten wurde. Die anderen freuten sich mit uns, fühlten, wie auf diese Weise auch an sie dieses Ereignis nahe heranrückte, teilten meine Aufregung und quetschten alles aus mir heraus, was bisher geschehen war. Bis in jede Einzelheit wollten sie alles wissen, saugten alle Informationen begierig auf. Ich musste die praxisnahe Literatur ersetzen, die wir auf unserer Suche bisher kaum gefunden hatten.
Ganze zwei Bücher, die davon erzählten, wie die Beziehungsanbahnung zu einem Pflege- oder Adoptivkind praktisch abläuft, gab es zu jener Zeit (1988) auf dem Markt. Damals nahm ich mir vor, alles festzuhalten, was geschah, um es später an Andere weitergeben zu können.